[205]Im Kinderbett kam die Angst

Sie war eine gute Schülerin. Hausaufgaben machten ihr keine Probleme. Doch eines Tages sollte Sandra einen Aufsatz über ihre bisherige Kindheit schreiben und da wollte ihr partout nichts einfallen. In ihrem Kopf war nur Nebel. Als ihr Vater von ihren Schwierigkeiten erfuhr, sagte er: »Das ist doch ganz einfach. Du schreibst: ›Ich habe eine ganz liebe Familie und wir wohnen in einem schönen Vorort, und alles ist sehr sicher und gut.‹« Das Mädchen folgte seinem Rat und damit war die Hausaufgabe erledigt.

Richtig war, sie hatte eine liebe Familie gehabt. Richtig war auch, man hatte in einem schönen Vorort von Karlsruhe gelebt. Ja, alles war sicher und gut gewesen. Aber Sandra Hagen* hatte sich als Kind nicht sicher gefühlt. Abends konnte sie vor Angst oft nicht einschlafen. Sie befürchtete, es könne etwas ganz Schreckliches passieren. Gleichzeitig aber schämte sie sich, denn von ihren Eltern hatte sie nie etwas anderes gehört, als dass es überhaupt keinen Grund gebe, sich zu ängstigen. Sandra Hagen fällt nur eine einzige Situation ein, in der sie es allein nicht mehr aushielt und die Mutter weckte. Die erlaubte der Siebenjährigen, in ihr Bett zu kommen. Sandra erinnert sich noch, wie steif sie neben ihrer Mutter lag. Sie war ein sanfter und liebevoller Mensch, aber nicht der offene, mütterliche Typ, der Kinder in den Arm nimmt, um sie zu trösten, und so meinte ihre Mutter schon bald, jetzt sei es wohl Zeit, wieder ins Kinderzimmer zurückzugehen. Das kleine Mädchen fühlte sich noch schlechter als vorher. »Zu meiner Angst«, sagt Sandra Hagen, »kam noch die große Peinlichkeit, mich offenbart zu haben.«

Wir hatten uns während einer Tagung über Frauenarbeitslosigkeit [206]kennen gelernt. Sandra Hagen hatte mit viel Witz und Kompetenz einen Workshop zum Thema »Frauen und Geld« geleitet. Sie wirkte sehr selbstbewusst. Zu meiner Überraschung präsentierte sie mir während des Mittagessens eine ganze andere Seite ihres Wesens. Sie sagte, sie fühle sich noch heute, mit über 40 Jahren, durch ihre Familienprägung stark beeinträchtigt – ein Dauerthema, seit sie mit Mitte zwanzig ihre erste Therapie begann. Bis vor kurzem habe sie jedes Mal heftige Kopfschmerzen bekommen, wenn sie einen Besuch in Karlsruhe machte. Darüber hinaus erfuhr ich, sie lebe seit über zehn Jahren mit ihrem Freund zusammen, sie habe keine Kinder und habe sich nie Kinder gewünscht, da sie befürchtete, keine gute Mutter zu sein.

Sandra Hagen hat Kulturwissenschaften studiert und sich beruflich auf Frauenthemen spezialisiert. Als Honorarkraft in der Erwachsenenbildung ist ihr Einkommen gering. Sie lebt im Glockenbachviertel, einem bunten Szene-Viertel am Rand der Münchner Innenstadt, das in seiner Lebendigkeit und Vielfältigkeit in deutlichem Kontrast steht zu dem ruhigen, in der Nachkriegszeit entstandenen Karlsruher Wohnvorort ihrer Kindheit.

Sandra Hagen – schlank, kurzer Haarschnitt, feine Gesichtszüge, kein Make-up – wirkt bei unserem Wiedersehen größer, als ich sie in Erinnerung habe, was daran liegen mag, dass sie mich in einem engen Flur begrüßt. Wie schon bei unserem ersten Treffen trägt sie einen Pullover zu langen Hosen in Grau- und Brauntönen. Unser Gespräch bedarf keiner Anwärmphase. Sandra hat sich vorbereitet. Um sich in ihrem Dauerthema Familie nicht zu verlieren und um an ihrer eigenen Wahrnehmung festzuhalten, hat sie sich auf einem Zettel Stichworte gemacht. Überschrift: Wie es wirklich war. Genau genommen handele es sich um eine ›Verräterliste‹ sagt sie, denn damit verrate sie das Lebenswerk ihrer Eltern, »eine glückliche Familie zu bauen.«

[207]Zwangshandlungen

Im Kern geht es Sandra Hagen darum, mir zu erklären, warum sie kein Vertrauen ins Leben entwickeln konnte. Tief in ihr drin steckt ein altes Kindheitsgefühl: Ich bin völlig allein auf der Welt. Ich stehe am Abgrund. Noch heute kann sie plötzlich davon überschwemmt werden, aber es geschieht viel seltener als noch vor fünf Jahren. Während unseres Gesprächs kommt es vor, dass Sandra unvermittelt auflacht und sich dabei durch den braunen Haarschopf fährt. Es ist kein unbeschwertes Lachen, eher Galgenhumor. Manchmal ist es für sie einfach nur lachhaft, dass sie sich – ihre Haare werden schon grau – noch immer mit Belastungen aus ihrer Kindheit herumschlägt. Sie spürt sie vor allem dann, wenn sie unter seelischen Druck gerät, den sie mit Zwangshandlungen unter Kontrolle zu bringen versucht: 30-mal den Wecker in die Hand nehmen und wieder auf seinen Platz stellen. 10-mal eine bestimmte Handbewegung in einem festen Rhythmus ausführen, bevor sie das T-Shirt anziehen ›darf‹. Das kann aufgrund der Monotonie der Bewegung zu Verspannungen und Rückenbeschwerden führen. Schon im Vorschulalter hatte sie einen Waschzwang entwickelt. Und zwischen sechs und zehn Jahren konnte sie nicht einschlafen, ohne ein kompliziertes Ritual mit ihrem Kuscheltier absolviert zu haben. »Das musste ich 21-mal in einer bestimmten Weise hinlegen«, erklärt sie mir. »Aber so einfach war das nicht mit der Selbstberuhigung. Wenn ich das nicht hundertprozentig richtig machte, dann glaubte ich, würde etwas furchtbar Schlimmes passieren. Also kamen wieder die Zweifel: Vielleicht habe ich es ja beim letzten Mal falsch gemacht, und dann musste es noch mal 21-mal sein. Und dann noch mal … Zum Verzweifeln war das!«

Ihre Eltern, Marianne und Bernd Hagen*, hatten in den sechziger Jahren geheiratet. Mit ihrem Lebensziel ›glückliche Familie‹, dem sie alles andere unterordneten, bewegten sie sich [208]durchaus in einem neuen Trend. Gerade erst war die Zeitschrift »Eltern« gegründet worden. Marianne Hagen gab ihre Arbeit in der Altenbetreuung auf, was ihre Tochter Sandra mit den Worten kommentiert: »So hatten es meine Eltern vor der Heirat vereinbart – zu einer idealen Familie gehört, dass die Mutter zu Hause ist, wenn die Kinder aus der Schule kommen.« Der Vater, der sich von seinen Töchtern nie anders als »Bernd« nennen ließ, hatte sich vom Elektriker zum Elektroingenieur qualifiziert und verdiente gut. Die Mietwohnung lag im Erdgeschoß, dazu gehörte ein schöner Garten. Da fiel es den Eltern leicht, auf ein eigenes Haus zu verzichten. Sie wollten keine Schulden machen, die ein gutes Leben eingeschränkt hätten. Unter anderem bedeutete für sie ein gutes Leben, in einem gewissen Umfang reisen zu können. Auch durch Geschenke drückten sie ihre Liebe und Großzügigkeit aus. Sandra Hagen berichtet: »Trotz vieler Reibereien zu Weihnachten war das Geschenke auspacken immer ein sehr schöner und euphorischer Moment. Meistens wechselten meine Schwester und ich uns ab. Erst packte sie etwas aus, dann wieder ich. Jede von uns kriegte fünf bis sechs Geschenke, die sehr auf uns und unsere Wünsche abgestimmt waren!«

Die Eltern taten alles, um ihren Töchtern eine schöne Kindheit und Jugend zu ermöglichen, und sie wollten alles richtig machen. Auf keinen Fall sollten Sandra und die drei Jahre jüngere Stephanie* gegängelt werden. Sie sollten frei ihre Interessen entwickeln und sich nicht zu irgendetwas gedrängt fühlen. Sie sollten ihre ureigensten Fähigkeiten entdecken. Marianne und Bernd Hagen sahen sich als Begleiter und Förderer ihrer Töchter, denen sie mit Rat, Geld und Zeit zur Seite standen. Regelmäßig besuchte das Ehepaar einen Kreis von gleich gesinnten Müttern und Vätern. Zu ihren Vorstellungen über Erziehung wären die folgende Überschriften passend gewesen: Neue Eltern braucht das Land! Dressierte Kinder? – Nein danke! Für eine gewaltfreie Erziehung!

[209]Neue Eltern braucht das Land!

Marianne und Bernd Hagen gehörten, auch wenn sie sich fern der Kinderladenbewegung aufhielten, zu den Pionieren einer neuen Elterngeneration. Der »Elternkreis« – entstanden durch die Initiative einer Kirchengemeinde – war dabei ihre größte Stütze und er blieb es über zwei Jahrzehnte. Hier wurde regelmäßig über den richtigen Umgang mit Kindern diskutiert, es wurden Feste und Schwimmwettbewerbe organisiert, es wurden Sandkästen und Baumhäuser gezimmert. Fortschrittliche Väter wie Bernd Hagen definierten sich als die besten Freunde ihrer Kinder. Darum war für sie die Anrede »Papa« oder »Vati« nicht mehr zeitgemäß.

Es lässt sich vorstellen, wie anstrengend es gewesen sein muss, ständig die Kinder im Fokus zu haben und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Erwachsene, die nicht gut auf sich achten, sind ständig in Gefahr, ausgesaugt zu werden. Und genau das scheint bei Marianne und Bernd Hagen der Fall gewesen zu sein. Sie waren keine entspannten Eltern. Es wurde nicht oft gestritten in der Familie, aber ein Unterton von Genervtheit schlich sich häufig ein.

Mutter Marianne explodierte nicht, wenn ein Kind stolperte und dabei ein Glas Kirschsaft über die helle Teppichauslegeware verschüttete. Sie sagte nur mit ärgerlich resignierter Stimme: »Hast du es wieder geschafft!« Heute ist Sandra Hagen klar, dass ihre Eltern unter anderem dadurch Dampf abließen, dass sie ironisch daherredeten oder über Abwesende lästerten. Ob Freunde, Verwandte oder Bekannte – über jede Person außerhalb der Familie wurde abfällig geredet oder gewitzelt. Als Kinder verstanden Sandra und Stephanie nicht, warum ihre Eltern dieselben Menschen, über die es kaum etwas Gutes zu sagen gab, bei einem Wiedersehen hocherfreut begrüßten und viele Stunden mit ihnen verbrachten.

Sobald die Mädchen zu erkennen gaben, dass ihnen ein anderer [210]Erwachsener besonders gefiel, wurden sie von Vater oder Mutter umgehend auf dessen Schwachstellen hingewiesen. Verächtlichkeit sei ein zentrales Motiv in ihrer Familie gewesen, stellt Sandra fest. Auf diese Weise hätten die Eltern ihren Kindern ungewollt beigebracht, bei Personen außerhalb der Familie auf der Hut zu sein. »Wir lernten: Jemand, der uns mit Herzlichkeit begegnet, wird hochwahrscheinlich hinter unserem Rücken abfällig über uns reden. Fazit: Ein Erbe, das wir von unseren Eltern haben, ist ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Welt.«

Wäre Sandras Mutter ein solcher Vorwurf zu Ohren gekommen, sie hätte völlig verwundert reagiert. »Aber Kinder«, hätte sie zu ihren erwachsenen Töchtern gesagt, »das war doch nicht so gemeint. Ihr hättet Bernd und mich nicht so ernst nehmen sollen.« Die eine Seite war, dass Marianne und Bernd Hagen die perfekten Eltern sein wollten, und die andere Seite, dass sie sich wenig in Kinder einfühlen konnten. Nur so lässt sich erklären, warum sie eine zentrale Erziehungsregel ignorierten, wonach man im Beisein von Kindern nicht schlecht über Abwesende redet. Solange das abstrakte Denken noch nicht entwickelt ist, fehlt das Sensorium dafür, dass Erwachsene einem bestimmten Menschen zur gleichen Zeit mit völlig widersprüchlichen Gefühlen begegnen können. Genauso wenig verstehen Kinder Ironie.

Hinter dicken Mauern

Ihre Familie, erklärt mir Sandra Hagen, habe wie in einer Burg gewohnt, deren Hauptgesetz lautete: Innerhalb der Mauern sind die Guten, außerhalb sind die Fremden, die Unberechenbaren. Aber darüber hinaus habe jedes Mitglied der Burgfamilie isoliert in seinem eigenen Turm gewohnt. Stephanie und sie hätten aber immerhin noch einen eigenen Draht gehabt, [211]der den gelegentlichen Austausch von Botschaften ermöglichte, von Fenster zu Fenster sozusagen.

Marianne Hagen war ein stiller, zurückhaltender Mensch. Von ihren Töchtern wird sie sogar als extrem verschlossen beschrieben. »Sie war sanft und hatte eine sehr angenehme Wirkung auf andere. Und doch muss ich aus Kindersicht sagen, dass sie irgendwie unlebendig war, gefühlsmäßig nicht erreichbar«, sagt Sandra. »Sie hat alle starken Gefühle unterdrückt, ihre negativen wie die positiven.« Offenbar konnte die Mutter körperliche Nähe zu ihren Kindern nicht gut aushalten. Bei der Versorgung ihrer erstgeborenen Tochter trug sie stets einen Kittel. Gewissenhaft hielt sie die Entwicklungsschritte ihrer Kinder schriftlich fest. Die Protokolle ähnelten Krankenberichten. Größe, Gewicht, Temperatur, alle Werte waren penibel notiert. Aber so wichtig ihr das körperliche Wohl ihrer Töchter war, so wenig konnte sie sich in die seelischen Nöte, die jede Kindheit mit sich bringt, einfühlen. Sie konnte ihren Töchtern keinen Trost geben. Stattdessen versuchte sie es mit Beschwichtigungen. Als die Mädchen klein waren, sagte sie: »Ihr müsst keine Angst haben, ich bin doch für euch da.« Und als sie Teenager waren: »Nehmt das doch alles nicht so schwer!«

Vater Bernd wird von seiner Tochter Sandra als unruhiger Geist, als Hans Dampf in allen Gassen geschildert. Er könne sich bis heute nur selten auf ein ernsthaftes Gespräch konzentrieren, er springe ständig auf oder wechsle das Thema, sagt sie. »Er ist mein Vater, auf eine alte Art habe ich ihn lieb. Aber wir waren jetzt ein paar Tage zusammen, und zeitweise konnte ich seine Gegenwart kaum ertragen. Seine Fahrigkeit ist enorm. Als unsere Mutter noch lebte, war Bernd etwas weniger unruhig. Sie hat beruhigend auf ihn gewirkt, ihn auch zur Ruhe ermahnt.« Die Mutter starb im Alter von 65 Jahren an Krebs.

Marianne Hagen hatte Zeit ihres Lebens viel gelesen. Eine von Sandras Lieblingserinnerungen: Es sind Ferien und ihre Mutter sitzt, in ein Buch versunken, in der Abendsonne. Es war [212]ihr gelungen, auch ihre beiden Töchter für die Welt der Bücher zu begeistern. Außerdem muss sie die heranwachsenden Mädchen gut beobachtet haben, denn mit ihren Buchgeschenken traf die Mutter fast immer ins Schwarze. Sie sprach mit ihnen über die Bücher, über Schullektüren und über ihre Alltagsbekümmernisse. Als Sandra mit acht oder neun Jahren anfing, im Fernsehen die Tagesschau zu sehen und aufgeschreckt von Nachrichten über Kriege und über die atomare Bedrohung einige Zeit schlecht schlief, gelang es der Mutter, auf ihre Tochter einzugehen. Sie versicherte ihr damals, dass alle Politiker Angst vor einem weiteren Krieg haben und dass dies der überzeugendste Grund dafür sei, warum ein solcher Krieg nicht stattfinden würde. Sandra ließ sich von den Argumenten beruhigen und die Schlafstörungen verschwanden.

Angst vor dem Atomkrieg

Als sie älter wurde, steigerte sich ihre Kriegsangst, genauer die Angst vor der Atombombe – vor allem auch durch das Buch von Gudrun Pausewang, das die Auswirkungen eines Atomkriegs in Deutschland zum Thema hat. »Das war ja der Bestseller meiner Generation«, sagt Sandra Hagen, »aber ich fand, es war ein gruseliges Buch. Heute meine ich: Es war verantwortungslos, Kinder und Jugendliche diesem Schreckensszenario auszusetzen, dass keinerlei Rettung in Aussicht stellte.« Nach der Lektüre hatte sie zwei Wochen lang Schmerzen gehabt, für die es keine medizinische Erklärung gab.

Während der Sommerferien war die Stimmung bei den Hagens völlig anders. Es gelang ihnen, sich als Familie zu entspannen. Es war also nicht durchgängig so, dass die Eltern in einem Kokon lebten und im Gefühlskontakt nicht erreichbar waren. »In meiner Familie«, erläutert Sandra, »gab es nur diese eine Übereinstimmung: Urlaub machen in der Schweiz ist etwas [213]sehr Schönes.« Regelmäßig fuhren sie in das Nachbarland – nicht in die Alpen, sondern in einen kleinen Ort auf der Schweizer Seite des Bodensees. Die Tochter erzählt: »In der Schweiz waren meine Eltern mehr bei sich. Ich glaube, das war auch der Grund dafür, dass es dort – ganz anders als zu Hause – jedes Mal zu einem Ehekrach kam. Da haben wir Kinder endlich mal etwas von ihrer Lebendigkeit mitgekriegt.« Und sie fügt hinzu, in der Schweiz sei es ihr selbst zum ersten Mal möglich gewesen, unbeschwerte Lebensfreude zu empfinden. Wenn die Ferien zu Ende gingen, habe sie oft von Deutschland als Gefängnis geträumt. »In der Schweiz konnte ich meine Geschichte ablegen und Vertrauen empfinden. Bis heute zieht es mich dorthin. Ich muss also sagen: Meine Eltern haben auch vieles richtig gemacht, die schönen Urlaube, die Bücher … Es wäre sonst vielleicht alles noch viel schlimmer gekommen. Immerhin haben wir überlebt, und wir sind in keine Drogensucht geraten.«

Als die Gesundheit des Vaters durch einen schweren Autounfall dauerhaft beeinträchtigt wurde und er deshalb in den vorzeitigen Ruhestand ging, kauften die Eltern sich eine Ferienwohnung. Dort verbrachten sie mehrere Monate im Jahr. »Man merkte, dass Mutter sich in der Schweiz sicher fühlte«, sagt Sandra. »Wenn sie anrief, klang ihre Stimme einfach nur glücklich.« Wer war Marianne Hagen? Um sie zu erfassen, muss man wissen, dass sie vaterlos aufwuchs. Sie hat ihren Vater nie kennen gelernt; er starb als Soldat. Ihre Töchter glauben, die Mutter habe deshalb nie getrauert. Darüber hinaus war sie ein Flüchtlingskind. Es ist anzunehmen, dass sie sich von ihren Verlusten und von den Schrecken der Vertreibung als Dreijährige nie mehr erholte.

[214]Schneller, die Russen kommen

Ihre Töchter kennen nur wenige Details. Die Großmutter hatte ihnen wiederholt von einem Versteck auf einem Friedhof hinter den Grabsteinen erzählt und dass die kleine Marianne während der Flucht immer wieder gerufen habe: »Schneller, schneller, die Russen kommen«.

Sandra und ihre Schwester Stephanie kennen diese Fakten schon lange, aber sie haben bis vor wenigen Jahren emotional nicht erfassen können, welche Auswirkungen die Kette der Traumata auf ihre Mutter gehabt haben muss: die Vertreibung mit Bedrohung und Gewalt, das Elend im Nachkriegsdeutschland und die Verachtung, die ihnen als Flüchtlinge im Westen entgegenschlug. Vater Bernd hatte ein ähnliches Schicksal: in Pommern geboren, auch er mit drei Jahren auf der Flucht, kurze Stationen bei Verwandten, karges Überleben auf einem Bauernhof. Bis in seiner Familie wieder einigermaßen normale Verhältnisse herrschten, vergingen drei Jahre. Während dieser Zeitspanne muss der kleine Bernd ein einziges Angstbündel gewesen sein. Das allerdings offenbarte sich den Schwestern Sandra und Stephanie erst im Jahr 2008, als sie ihren Vater baten, er möge sie bei ihrer Familienforschung unterstützen. Bei einem Besuch im Haus seines Bruders, beim Sichten von alten Fotos wurde deutlich, wie lästig das schreiende Kleinkind für dessen fünf Jahre älteren Bruder gewesen sein muss. Sandra und Stephanie merkten es daran, dass ihr Onkel bis heute kein Verständnis für die Not des kleinen Bruders aufbringen kann. Auch ihr Vater zeigte sich ohne Mitgefühl für sich als Kind. Er sagte nur, und es sollte lustig klingen: »Egal was war, ich habe immer geschrien.«

Die Eltern hatten nur selten über ihre Kindheit gesprochen. Sie wären auch nie auf die Idee gekommen, ihren Töchtern vorzuhalten: »Ihr wisst doch gar nicht, wie gut ihr es habt!« Wie viele Menschen, die in den frühen vierziger Jahren geboren [215]wurden, hatten Marianne und Bernd Hagen nicht den Eindruck, sie hätten etwas besonders Schlimmes erlebt. Wie auch, sie seien ja noch so klein gewesen – aber die Erwachsenen, die hätten viel durchmachen müssen.

Nach dem Gespräch mit Sandra Hagen bin ich neugierig auf ihre Schwester Stephanie. Ich besuche sie in Wiesbaden. Ihr Lebensbericht sprudelt nur so aus ihr heraus. Dabei wechselt ihre Ausstrahlung zwischen der einer erwachsenen Frau und der eines jungen Mädchens. Im ersten Fall zeigt sich eine warmherzige und ausgesprochen weibliche Frau, in zweiten Fall eine verunsicherte Jugendliche, der schnell die Röte ins Gesicht steigt. Wenn sie das junge Mädchen ist, sagt sie manchmal unfreundliche Sätze über sich selbst, im Sinne von: »Ich habe einen Schaden«, und ihre Hand macht die dafür typische Geste vor der Stirn. Würde man nur ihre Seite als erwachsene Frau kennen, müsste man sich fragen, warum um Himmels Willen sie alleine lebt und keine eigene Familie hat. Etwas ist gewaltig schief gelaufen in ihrem Leben. Beim Thema Kinder schießen Stephanie Hagen sofort die Tränen in die Augen. Mit Ende Dreißig noch keine Familie zu haben, ist ein großer Schmerz für sie.

Zu dem Zeitpunkt, als ich sie besuchte, lebte sie in Wiesbaden und hatte sich gerade aus einer langjährigen Beziehung gelöst. Nach vielen gescheiterten Versuchen, gemeinsame Hoffnungen zu verwirklichen, ist ihr Freund nach einer eigenen Lebenskrise zurück in sein Heimatland gegangen, da er auch beruflich nicht in Deutschland Fuß fassen konnte. Stephanie bekommt als Buchhändlerin jeden Monat ihr Gehalt überwiesen. Beruflich sitzt sie fest im Sattel. Darüber hinaus empfindet sie ihr Dasein als Provisorium.

[216]Auch der Vater schien zu pubertieren

Seit der Pubertät hat sie zu ihrem Vater ein zwiespältiges Verhältnis. An dieser Stelle unterbricht Stephanie unser Gespräch und meint, es sei immer dasselbe: Wenn sie an den Vater von damals denke, breite sich ein sonderbarer Nebel in ihrem Kopf aus und ihre Gedanken würden diffus. Dann müsse sie sich bewusst konzentrieren, um beim Thema zu bleiben.

Nachdem Stephanie von ihrem Vater erzählt hat, habe ich den Eindruck: Bernd Hagen machte vor seinen Töchtern den Gockel. Er war stolz auf seinen gut gebauten Körper und präsentierte ihn gern.

Stephanie erinnert sich an eine typische Szene: »Sandra und ich schauten fern, da kam Bernd aus dem Bad, fast nackt – er hatte gerade geduscht – und er stellte sich dazu, während er sich ausgiebig mit dem Handtuch frottierte und fragte: Was guckt ihr da gerade im Fernsehen? So war Bernd. Er ging auch auf die Toilette, während eine von uns unter der Dusche stand. Wir sind nie auf die Idee gekommen, die Badezimmertür abzuschließen.« Einmal kniff der Vater Stephanie in die Seite und machte eine Bemerkung über ihren »Teenie-Speck«. Sie berichtet: »Ab da wurde Essen ein Problem für mich. Ich fühlte mich immer zu dick, obwohl ich es rückblickend auf den Fotos nicht feststellen kann. Bernd Hagen hat sehr genau beobachtet, was für Frauen aus seinen Töchtern werden.«

Stephanie Hagen und ich denken eine Weile darüber nach, warum ihre Mutter nicht auf die Idee gekommen war, den Vater auszubremsen. Weil sie selbst vaterlos aufgewachsen war und deshalb nicht wusste, wie erwachsene Männer sich in Gegenwart ihrer pubertierenden Töchter verhalten sollten? Konnte sie nicht erkennen, dass ihr Mann sich ebenfalls wie ein Pubertierender benahm? Stephanie vermutet, dass es so war. Sie erlebte nie, dass ihr Vater wegen seiner Grenzverletzungen kritisiert wurde. Ihr und ihrer Schwester ist es nie eingefallen, [217]ihm zu sagen: »Zieh dir bitte etwas an, wir sind keine Kinder mehr!«

Von ihren Freundinnen und Freunden wurden die Schwestern beneidet. »Es hieß immer, wir hätten tolle Eltern«, erzählt Stephanie. »Die besprachen auch häufig ihre Probleme mit unserer Mutter. Denn mit Mutti war das so: Über ihren Tellerrand hinaus konnte sie gut wahrnehmen und hatte viel Verständnis. Nur Sandra und mich konnte sie nicht sehen, wir befanden uns sozusagen unter ihrem Tellerrand.« Einige Jahre vor ihrem Tod wurde sie offener. Sie begriff zum ersten Mal das Ausmaß der Lebensunsicherheit ihrer Töchter. Die Mutter war schockiert und sagte: »Was haben wir denn falsch gemacht?«

Selbstverletzungen einer Jugendlichen

Mit 14 Jahren hatte Stephanie angefangen, sich selbst zu verletzen. So harmlos der Begriff »schnibbeln« klingt, der in diesem Zusammenhang häufig benutzt wird, umso schwerer wiegt es, wenn Eltern den Hilferuf nicht wirklich ernst nehmen. Im Fall von Stephanie reagierten die Eltern mit Schweigen, es gab keine sichtbare Besorgnis. Bernd Hagen spielte das Geschehen mit einem seiner Sprüche herunter, als frische Verletzungen auf den Armen seiner Tochter zu sehen waren: »Ich sollte dir wohl kein Taschenmesser mehr mitbringen!« Aus Sicht der Eltern schien nichts wirklich Schlimmes passiert zu sein. Sie warteten ab und sprachen von einer ›Phase‹, die vorübergehen würde. Vielleicht taten sie das Ganze auch als die Marotte einer überspannten Pubertierenden ab.

»Wenn ich etwas bis heute nicht ertrage«, erklärt mir Stephanie, »dann dies: Ich zeige etwas Wesentliches von mir, und mein Gegenüber reagiert nicht! Das ist das Schlimmste, was man mir antun kann!« Ihre Arme hatten frische Schnittwunden – ihre Eltern reagierten nicht. Sie lief als Punk herum, [218]schwarze Kleidung, hoch rasierte Frisur – ihre Eltern reagierten nicht. In der Schule wurde über Stephanie Hagen geredet. Einige Mitschüler und Lehrer spürten, dass etwas nicht mit ihr stimmte.

Aus dem Gespräch mit Sandra weiß ich, dass Stephanie damals sehr verschlossen gewesen sein muss. Die ältere Schwester war extrem besorgt gewesen, denn sie wusste, dass Stephanie Suizidgedanken hatte. Sandra hoffte, sie könne ihre Schwester ablenken, indem sie etwas Schönes mit ihr unternahm, was teilweise auch gelang. Es folgten Jahre, in denen Stephanie sich seltener schnitt und nach außen einigermaßen stabil wirkte. Aber dann, mit Mitte Zwanzig, kam es bei ihr zu einem Zusammenbruch. Es hatte ihre ganze Kraft erfordert, halbwegs normal zu leben und ihre Selbstverletzungen in Grenzen zu halten, und diese Kraft war nun aufgebraucht. Als Stephanie zum ersten Mal eine psychotherapeutische Praxis aufsuchte, war Sandra ihr um die Jahre, die sie älter war, voraus. Auch sie, die ›große Schwester‹, war mit Mitte Zwanzig in eine Lebenskrise geraten und ging seitdem zu einem Therapeuten. Die gemeinsame Erfahrung brachte Nähe. Die Schwestern fühlten sich in einer Weise verbunden, wie sie es vorher nicht gekannt hatten. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Therapieerfahrung ist bei beiden reichlich vorhanden. Beide sagen, sie sähen es als großen Gewinn gegenüber der Elterngeneration, dass sie bereit waren, professionelle Hilfe anzunehmen. Ihre Eltern hatten das in entscheidenden Momenten weder für sich noch für ihre Töchter geschafft.

Gewaltrausch während einer Therapiestunde

Den ersten Hinweis, sie könnte ein Erbe aus der deutschen Vergangenheit mit sich herumschleppen, bekam Stephanie Hagen in der Therapie, als unvermutet Bilder von Trümmern und von [219]tötenden Soldaten sie überschwemmten. Sie geriet gefühlsmäßig in einen regelrechten Gewaltrausch, der sie schwer beunruhigte und den sie nicht einzuordnen wusste. Auf Anregung des Therapeuten begann Stephanie erstmals zu überlegen, was ihre Großeltern im Zweiten Weltkrieg erlebt haben mochten. Dass ihre Eltern Opfer oder Zeugen von Gewalt geworden sein könnten, kam ihr nicht in den Sinn.

In den neunziger Jahren fehlte noch das gesellschaftliche Sensorium für die Auswirkungen von Kriegstraumata in deutschen Familien. Das änderte sich, als 2005 mit einer bis dahin nicht da gewesenen Beteiligung der Bevölkerung des Kriegsendes 60 Jahre zuvor gedacht wurde. Erstmals wurde das Schicksal der deutschen Kriegskinder öffentliches Thema, und Stephanie Hagen erkannte: Das sind ja meine Eltern!

Als Sandra und Stephanie überlegten, was ihnen der Ausflug in Sachen Familienforschung, den sie gemeinsam mit ihrem Vater unternommen hatten, an neuen Erkenntnissen gebracht hatte, stimmten ihre Einschätzungen überein: Bernd hatte als kleines Kind die Ängste der Erwachsenen herausgeschrien. Das können sie ihm natürlich nicht sagen, denn solche Sichtweisen sind ihm bislang völlig fremd. Lebte ihre Mutter noch, würde sie feststellen: »Jetzt übertreibt ihr aber.« Stephanie erzählte mir noch, dass sie inzwischen herausgefunden haben, wo der gefallene Vater ihrer Mutter begraben liege. Es existiert tatsächlich eine Gedenkstätte mit seinem Namen. Sie wird in Kürze dorthin reisen und das Grab des Großvaters besuchen. Die Eltern von Sandra und Stephanie sahen sich nicht als Kriegskinder, sondern als Nachkriegskinder. Sie wussten nicht, dass sie traumatisiert waren. Sie wussten nicht, dass sie ungetröstet waren und aus diesem Mangel heraus auch ihre eigenen Kinder nicht trösten konnten. Mutter und Vater wussten nicht, wie viel alte Angst sie in sich trugen. Sie wollten perfekte Eltern sein. Dabei besaßen sie nicht einmal die Voraussetzungen, um einfach nur gute Eltern zu sein.

[220]Keine Frage, eine neue Erziehung musste her. Der Nationalsozialismus hätte sich ohne eine Bevölkerung, der eine gewisse Untertanengesinnung eingebläut worden war, nicht so verheerend, nicht so verbrecherisch entwickeln können. Es liegt also auf der Hand, dass eine neue Generation von Eltern in den sechziger und siebziger Jahren alles anders machen wollte. Und das war die Falle. Das Gegenteil von dem zu tun, was die eigenen Eltern tun, ist das nahe liegende Verhalten, wenn es darum geht, sich abzugrenzen. Bei Kindern in der Trotzphase lässt sich das gut beobachten. Von Erwachsenen dagegen erwartet man, dass sie wissen: Das Gegenteil von dem zu tun, was man ablehnt, ist in seiner Wirkung genauso schädlich.

Folgenreiches Schwarz-Weiß-Muster

Bernd und Marianne Hagen konnten ihren Irrtum nicht erkennen. Sie verhielten sich nach dem für Traumatisierte typischen Schwarz-Weiß-Muster: Ihre Kinder wurden angstfrei erzogen, also hatten sie auch bitte schön keine Angst zu haben. Ihre Kinder waren nie Gewalt ausgesetzt worden – also konnte es auch nicht sein, dass ihre Tochter Stephanie sich selbst Gewalt zufügte. Der Vater war der beste Freund seiner Kinder, also war es unmöglich, dass er ihnen schadete.

Bernd und Marianne Hagen konnten ihren Irrtum auch deshalb nicht erkennen, weil es in der Erziehungsfrage einen Generationenbruch gab. Jede Kritik der Älteren wurde von den jungen engagierten Eltern als Aufforderung missverstanden, zum autoritären Erziehungsstil zurückzukehren. Aber wohlwollender Beistand war in der Tat schwer zu identifizieren, solange sich die Älteren noch der Sprache von gestern bedienten. Sagte jemand: »Kinder müssen wissen, wo es langgeht«, verstand jeder, dem noch der Gehorsam eingeprügelt worden war, genau dies. Er zog erst gar nicht mehr in Betracht, dass [221]womöglich etwas anderes gemeint gewesen sein könnte, nämlich, dass Kinder Orientierung brauchen. Zu einem Austausch darüber, wie denn Kindern Orientierung zu geben sei, kam es dann nicht mehr – zum großen Schaden für viele Nachkommen, wie das Beispiel von Sandra und Stephanie Hagen zeigt. Sie erfuhren nicht, was es heißt, eine erwachsene Frau zu sein und wie ein erwachsener Mann sich verhält, denn ihren Eltern fehlte die entsprechende Reife und Souveränität. Traumatisiert, wie sie waren, besaßen sie nicht die dafür erforderliche innere Stabilität. Beide ignorierten sie unterschwellige Konflikte und offensichtliche Probleme in der Familie. Die Mutter beschwichtigte, der Vater machte den Kasper. Erwachsene Eltern verhalten sich anders. Marianne und Bernd Hagen wollten nicht auf die Kinder herabpredigen. Also gingen sie auf die Knie. Sie hoben die Generationsgrenze auf. Das war, wie man heute weiß, der folgenschwerste Fehler dieser Elterngeneration, die alles besser machen wollte.

Familienforschung und der Austausch mit interessierten Gleichaltrigen helfen Sandra und Stephanie, noch unbeantwortete Fragen zur eigenen Identität zu klären: Wie wurde ich zu dem Menschen, der ich heute bin? Was sind meine Wurzeln? Welche Ängste habe ich unbewusst von meinen Eltern und Großeltern übernommen, und welche Begabungen? Mehr über die eigenen Eltern zu wissen als diese über sich selbst, ist bei den Kindern der Kriegskinder keine Seltenheit.

Die beiden Schwestern erleben, wie sich der Nebel in ihrer Wahrnehmung allmählich auflöst. Gleichzeitig wächst ihr Vertrauen in sich selbst und ins Leben. Mal getrennt, mal gemeinsam sitzen sie über ihrem Lebenspuzzle, das sich nach und nach zu einem Ganzen zusammenfügt.

[222]Die Kriegsängste der Mutter geträumt

Die Geschichte der beiden Schwestern Sandra und Stephanie hat mir einmal mehr vor Augen geführt, dass Kinder die Kriegsängste ihrer Eltern »erben« können und wie folgenreich eine solche Erbschaft aus der vergessenen Generation sein kann. Häufig haben mir Angehörige der 60er und 70er Jahrgänge von Kriegsträumen berichtet. Doch die eindrucksvollste Beschreibung dazu las ich in einem Beitrag der Schauspielerin Esther Schweins, geboren 1970. Im ZEITmagazin schrieb sie über einen immer wiederkehrenden Alptraum aus ihrer Kindheit und Jugend19:

Unzählige Nächte, in denen die Mutter das Kind tröstend in den Armen wiegt. »Sie hat wieder schlecht geträumt«, sagt sie dann zum Vater. »Ich habe wieder schlecht geträumt«, höre ich mich später selbst sagen, als ich als junges Mädchen entscheide, im eigenen Bett zu bleiben, mich zu beruhigen.

Dass es gelingt, liegt daran, dass es ein immer wiederkehrender Traum ist. Das Phänomen der Wiederholung ist den Eltern nicht klar, dass es eines ist, weiß wiederum ich nicht. So wird über viele Träume gesprochen, nicht aber über diesen stets gleichen Traum: Ich trage Zöpfe, eine weiße Bluse und darüber ein blaues Dirndl. Ich laufe auf einer Wiese umher, als plötzlich ein entsetzlicher Krach Himmel und Erde aufreißt, sich Dunkelheit zu allen Seiten auftürmt, mir das Atmen unmöglich wird.

Die Dunkelheit packt mich und katapultiert mich durch eine unsichtbare Röhre ins Nichts. Auf einmal wird es wieder licht. Vor mir steht ein einäugiger Mann und hält mir einen Strauß Gänseblümchen hin. Ich nehme sie, und die Furcht weicht tiefem Frieden. Dann finde ich mich mit anderen Kindern auf einem Lehmhügel wieder. Wir spielen mit Glassteinen, [223]bis eine Windböe meine Gänseblümchen mit sich reißt. Ich darf nicht aufblicken, sonst ist wieder ein Kind weg, komme vielleicht ich an die Reihe. Ich kann nicht anders, blicke wiederholt verstohlen auf, immer fehlt eines oder mehrere Kinder. Ich weiß, sie kommen nicht wieder. Ich bin dran.

Ich stehe mit anderen Kindern vor einem Wachhäuschen an und habe Furcht. Die Männer, die uns durchwinken, lächeln. In ihren Mündern ist es schwarz. Wieder packt mich die Dunkelheit, es geht durch die unsichtbare Röhre, die ich nicht berühren darf, wie auf einer Achterbahn durch das Nichts, urplötzlich sitze ich wieder auf dem Lehmhügel. Ich bin allein. Keines der anderen Kinder ist mehr da. Dann steht dort wieder der Einäugige. Jetzt hält er nur ein Gänseblümchen in der Hand. Ich nehme es, atme auf und erwache.

Ich bin eine erwachsene Frau und meine Mutter Großmutter, als ich ihr zum ersten Mal von »demselben immer wiederkehrenden Traum« berichte. Sie hört gespannt zu. Als »Lärm und Dunkelheit sich auftürmen«, schluckt sie, und als mir der Mann die Gänseblümchen überreicht, fängt sie zu weinen an.

Sie beruhigt sich, beginnt selbst zu erzählen: Es ist März 1942, als sich meine Mutter, damals fünf, das Haar zu Zöpfen geflochten, in einem blauen Dirndl davonstiehlt, um auf einer Wiese für ihre Mutter Gänseblümchen zu pflücken. Die Mutter freut sich, stellt die Blümchen in einer Vase auf eine Kommode, als der Bombenalarm losgeht. Die Flieger sind schon über der Stadt, sie verschanzen sich im Keller. Den Kopf zwischen den Knien, bangt das kleine Mädchen um die Gänseblümchen, die nun ganz alleine auf der Kommode stehen.

Sie werden getroffen an diesem Tag, es sollte viele Stunden dauern, bis sie befreit wurden. Das Mädchen ist geblendet, [224]doch es sieht, dass es keinen dritten Stock, kein Haus, keine Kommode mehr gibt. Aber alle sind am Leben, machen sich auf die Flucht, raus aus einer zerstörten Stadt, in der Pferdefuhrwerke und Automobile in der Mitte der nicht befestigten Kreuzungen kleine Erdhügel hinterließen, auf denen später die Kinder spielten.

Der Vater des Mädchens und Ehemann der Mutter war zu diesem Zeitpunkt schon an der Front gefallen. Er war eingezogen worden, obwohl er nur auf einem Auge sehen konnte. Über ihn, die Kinder und die Gänseblümchen wurde nie geredet, obschon mir im Laufe meiner Jugendzeit viele »Geschichten aus dem Krieg« erzählt wurden. Dass sich Oma auf der Flucht Kohle ins Gesicht schmierte und sich einen Buckel stopfte, um vor Vergewaltigungen geschützt zu sein, wusste ich schon als Erstklässlerin. Dass dies dem Mädchen, meiner Mutter, bis Kriegsende nicht gelungen war, wusste ich nicht.

Mein Vater konnte bis zu seinem Tod nicht im Dunkeln schlafen. Er hat Stalingrad und Gefangenschaft überlebt. Er hat Zahllose sterben sehen. Die schlimmsten Geschichten erzählte er mir erst, als ich nicht mehr sein Mädchen, sondern seine Tochter war. Ich habe die Kindheitsängste meiner Mutter »verträumt«.

Wenn ich die Augen schließe, habe ich einen Traum. Ich träume ihn für alle und meine Tochter, für ihre und deren Kinder: dass am Ende die Liebe, das Leben, Friede, Freiheit und die Vernunft den Sieg davontragen werden. »Denselben immer wiederkehrenden Traum« träume ich nicht mehr.