[145]Ein vielseitiger Autor

Auf Jürgen Petersen* war ich durch eines seiner Hörspiele aufmerksam geworden. Darin hatte er scharfsinnig und mit untergründigem Witz die deutsche Gegenwart mit den Schatten der deutschen Vergangenheit verknüpft. Das Stück spielte im Milieu der »Grünen Damen«, jenen ehrenamtlichen Helferinnen, die sich im Rahmen von Besuchsdiensten um Krankenhaus-Patienten kümmern. Die Protagonistin war eine 70-Jährige, die ich unschwer als typisches Kriegskind erkannte. Nahezu alles, was sie von sich gab, hatte direkt oder indirekt mit dem Thema Essen zu tun: Kochen, Lebensmittelpreise, Herdplattenpflege, getrennte Küchenabfälle, Grillfleisch, Verdauung, Haltbarkeitsdaten. Wie ich später Petersens Homepage entnahm, war er ein vielseitiger Autor von beeindruckender Produktivität. Davon zeugte die lange Liste mit Theaterstücken, Büchern, Hörspielen, Essays, Liedertexten. Ich stellte mir einen Mann vor, der mir lebhaft und souverän aus seinem Leben erzählen würde. Der Mann, der mir dann gegenüber saß, grau in grau gekleidet, wirkte erschöpft und niedergeschlagen. Ich erfuhr, seine Ehe sei gerade auseinander gebrochen.

Während unserer Begegnung schaute er häufig auf die Uhr, weil er in regelmäßigen Abständen Tabletten einnehmen musste. Er hat die Diagnose Parkinson, eine fortschreitende Krankheit mit einer grausamen Endphase, jedenfalls nach heutigem Erkenntnisstand. Petersen ist 40 Jahre alt. Er hofft auf einen entscheidenden Durchbruch in der Medizin.

Nachdem ich unser Gespräch abgehört und aufgeschrieben hatte, folgte eine längere Phase der Ratlosigkeit. Es ist ja auch alles andere als leicht, einen Menschen einzuschätzen, der gerade in einer Lebenskrise steckt und an einer Krankheit leidet, [146]die eine düstere Zukunft in Aussicht stellt. Schon während unseres Gesprächs hatte ich ihm einen Namen gegeben: »der Wehrlose«. Auch bei anderen Kriegsenkeln war mir aufgefallen, wie schwer sie sich damit taten, sich vor Menschen und Situationen zu schützen, die ihnen schaden. Bei Jürgen Petersen schien ein seelischer Immunschutz gänzlich zu fehlen.

Er ist feinfühlig und klug, Man wünscht ihm, dass sich sein Talent des Schreibens schneller herumspricht. Er hat mehr Anerkennung verdient, als er momentan bekommt. Sein geringes Einkommen macht ihn manchmal nervös. Aber grundsätzlich schaut er eher auf das halbvolle als auf das halbleere Glas. Er bekommt Geld für das, was er am liebsten tut – genug, um davon zu leben. Nur wenige Schriftsteller kommen so weit. Würde er sich in seiner Arbeit dem Zeitgeschmack anpassen, könnte er sich vermutlich einen Mittelklassewagen leisten. Aber derartige Spekulationen sind müßig. Petersen kann sich überhaupt nicht anpassen. »Eines meiner höchsten Prinzipien war immer Aufrichtigkeit«, sagt er. »Mein Ziel für mein Leben war: mich morgens im Spiegel betrachten, ohne brechen zu müssen.« Erst dachte ich, er hätte im Eifer des Gesprächs ein bisschen zu dick aufgetragen, aber dann fiel mir ein, wie punktgenau er als Autor mit Sprache umzugehen weiß, und dass ich daher seine Worte ernst nehmen sollte.

Misstrauen und Missgunst

Ich habe anfangs nicht begriffen, woher seine Rigorosität kommt. Wovon grenzt er sich ab? Schließlich entstammt er nicht einem Gangstermilieu, wo niemand die Wahrheit sagt und jeder den anderen übers Ohr haut. In seinem Elternhaus herrschte keine scheinheilige, bigotte Atmosphäre. Allerdings wuchs er im Gezänk einer kleinbürgerlichen Familie auf, in der – neben erfreulichen Eigenschaften und Werten – bis heute Misstrauen und [147]Missgunst unübersehbar sind. In einem solchen Klima, stelle ich mir vor, gibt es keine allzu große Hemmung, die Wahrheit zurechtzubiegen, bis sie passt. Dass Jürgen Petersen sich auf dieses Niveau nicht herunterziehen lassen will, leuchtet also ein. Aber dann kommt von ihm wieder so ein Satz, der mich irritiert: »Alle erwarten, dass ich mich strategisch verhalte, doch das mache ich nicht.« Ja, warum denn nicht? Hat man nicht erheblich mehr Handlungsspielraum, wenn man sich in Konflikten taktisch verhält: auf Zeit spielen, dem Gegner den Wind aus den Segeln nehmen, kleine Zugeständnisse machen, auf Argumente verzichten, die die eigenen Position schwächen?

Aber ich bin nicht auf der richtigen Spur. »Strategisches Verhalten«, erläutert Petersen mir, »bedeutet für mich, mich so zu verhalten, wie andere es von mir erwarten – das bedeutet: mich anpassen. Bei Streitigkeiten mit meiner Mutter, meiner Schwester und meiner Frau kommt es immer wieder zum gleichen Punkt. Sie sagen: Du musst dich ändern. Solange du dich nicht änderst …« Und er fügt hinzu: »Ich will nicht daraus bestehen, es allen recht zu machen. Ich will angenommen werden, wie ich bin. Wenn das geschähe, wäre ich auch bereit, mir etwas über meine Fehler sagen zu lassen.«

Was Jürgen Petersen verlangt, ist nichts Besonderes, sondern einfach nur die Basis eines respektvollen Umgangs. Mag sein, dass er in der engeren Verwandtschaft von Menschen umgeben ist, die davon keine Ahnung haben. Hier wäre wohl an erster Stelle die Rolle seiner Mutter zu untersuchen. Der Sohn bezeichnet sie als ein typisches Kriegskind. Geboren 1934 und in Wilhelmshaven aufgewachsen, erlebte sie während des ganzen Kriegs Luftangriffe – ausgenommen nur ein Jahr, das sie bei Verwandten auf dem Land verbrachte. Ihre Heimatstadt wurde, weil sie Kriegshafen war, von 1940 bis 1945 bombardiert. Ich las einmal einen Zeitungsartikel, dessen Verfasser meinte, man hätte solche Städte, deren Zerstörung mehr oder weniger flächendeckend war, nach 1945 nicht wieder aufbauen sollen, [148]sondern stattdessen mit einem großen Zaun umgeben sollen, darauf Schilder mit der Aufschrift: »So ist Krieg!«

Über die Kindheit der Mutter wusste Jürgen Petersen lange Zeit nur dies: Alles war schrecklich gewesen, vor allem die Schmerzen, die ihr während des Krieges zugefügt worden waren. Als Kind sah er es als seine Aufgabe an, sie trösten. Nur eine beruhigte Mutter ist eine halbwegs stabile Mutter. Kleine Kinder empfinden so. Sie können gar nicht anders. Auf Grund ihrer beispiellosen Verletzlichkeit besitzen kleine Kinder ihre eigene Logik: Wenn ich nicht dafür sorge, dass es Mama gut geht, kann sie nicht mehr für mich kochen und dann muss ich sterben.

»Ich habe schon früh empfunden, das ist ein Abgrund für mich«, erzählt Jürgen Petersen. »Gerade heute Nacht hatte ich einen Traum: Ich hatte ein Kristall gefunden, ein Mineral, sehr schön, und mein erster Gedanke im Traum war: Den musst du deiner Mutter schenken, das tröstet sie. Und ich habe mich im Traum über diesen Gedanken geärgert! Als kleines Kind habe ich meine Spielsachen danach ausgesucht, was meiner Mutter gefallen könnte. Das ist mir lange überhaupt nicht klar gewesen.«

Johanna Petersen*, eine Hausfrau ohne Berufsausbildung, versorgte ihre Familie und gängelte sie. Vor allem manipulierte sie sie durch ihre Krankheiten. Die waren nicht eingebildet, aber doch maßlos übertrieben dargestellt, wie ihr Sohn mir erläutert. »Meine Mutter hat sich stets über Krankheiten definiert«, betont er. »Von den Tabletten konnte sie nie genug bekommen. In der Verwandtschaft war das genauso. Oma hat ständig aufgezählt, wie viele Tabletten sie nehmen muss. Je schlimmer ein Medikament in seinen Nebenwirkungen, desto wichtiger fühlte man sich. Man zeigte die Behindertenausweise herum, als handele es sich um Auszeichnungen.« Johanna Petersen hatte auch immer wieder depressive Phasen. Als Jürgen etwa zwölf Jahre alt war, drohte sie häufiger damit, sich umzubringen. Als er 25 Jahre alt war, verkündete sie, sie habe nicht [149]mehr lange zu leben. »Ich hab das ernsthaft alles geglaubt. Und nun? Sie ist immer noch putzmunter«, empört sich ihr Sohn. »Meine Mutter hat nie einfach und uneingeschränkt gesagt: ›Es geht mir gut.‹ Es war kein Ziel für sie, dass es ihr gut geht.«

Ein Versöhnungskind?

Für ihn als Kind bedeutete Kranksein ein günstiger Zustand. Da wurde er liebevoll umsorgt, da fühlte er sich von seiner Mutter ernst genommen – außer, wenn er Schmerzen hatte. Seine Mutter meinte, die Schmerzen, die er hätte, könnten nie so groß sein, wie die Schmerzen, die sie selbst hätte ertragen müssen. Auch das war wieder ein Hinweis auf den Krieg. Jürgen wuchs mit seinen beiden Geschwistern in einem Einfamilienhaus auf, mit Garten und Hund. Er, der Nachzögling, sei ein Versöhnungskind gewesen – so jedenfalls hätten es ihm seine Eltern dargestellt. Aber er war wohl eher ein Kind der Waffenruhe. »Der Krieg zog sich durch meine ganze Kindheit«, berichtet er. »Immer Kampf, keine Liebe zwischen den Eltern, kein füreinander da sein.« Als Jürgen vor dem Abitur stand, wurde die Ehe geschieden und Mutter Petersen setzte fort, was immer schon ihre Strategie gewesen war: die Kinder auf ihre Seite ziehen, indem sie dem Vater nur Schlechtes nachsagte.

Jürgens Vater, Jahrgang 1924, Handwerker mit Meisterbrief, arbeitete in einem Großbetrieb. Seinen Sohn hielt er für handwerklich unbegabt. Wenn der Junge nicht auf Anhieb begriff, wie eine Zange zu halten war, gab es keinen zweiten Versuch, sondern es hieß nur noch: »Du kannst das nicht! Das lernst du nie!« Weder ging der Vater auf seinen Sohn zu, noch der Sohn auf seinen Vater, was Jürgen Petersen heute vor allem der Rolle seiner Mutter zuschreibt, die nicht wollte, dass ihre Kinder zum Vater ein gutes Verhältnis hatten.

Als junger Erwachsener stellte Jürgen Petersen zunehmend [150]fest, wie nahe ihm das Thema Krieg ging. Sah er beim Zappen im Fernsehen unerwartet zerbombte Städte, wurden seine Augen feucht. Noch war ihm nicht klar, dass er Bilder in sich aufnahm, die in ähnlicher Weise auch seine Mutter in sich trug. 1945 war sie 11 Jahre alt gewesen. Aus dieser Zeit existieren keine Fotos von ihr, wohl aber ab 1947; da sah sie, wie ihr Sohn entdeckte, verstört aus. »Ganz anders als auf den Bildern ihrer frühen Kindheit«, sagt er. »Darauf macht sie einen glücklichen Eindruck.«

Es war für ihn nicht schwer zu erkennen, dass seine Mutter Zeit ihres Lebens durch ihre Kriegserlebnisse verbittert war. Ohne Zweifel war Johanna Petersen ein Opfer, das mit sonderbaren Verhaltensweisen und Pillen die innere Balance zu halten versuchte. Jürgen Petersen weiß, dass Opfer nur in Ausnahmefällen die besseren Menschen sind, häufig sind sie nicht einmal gut für ihre Mitmenschen. Vermutlich ließen Johanna Petersen die seelischen Verletzungen innerlich nie zur Ruhe kommen. Sie kannte das Gefühl von Geborgenheit nicht und konnte es deshalb auch nicht ihren Kindern vermitteln. Jürgen dachte, er werde von ihr nie Details aus der Kriegszeit erfahren, aber da irrte er sich. Eines Tages im Jahr 2006 sagte sie beiläufig, während sie eine Packung Milch aus dem Kühlschrank nahm: »Da war doch die Geschichte mit dem Soldaten. Da war ich sieben.« Ihr Sohn erfuhr, ein Deutscher, ein Wehrmachtsoldat habe sie sexuell missbraucht. Johanna Petersen war über 70 Jahre alt, als sie ihm davon berichtete: Sie habe furchtbare Schmerzen gehabt. Die Sache sei dann vertuscht worden. Beistand von ihren Eltern habe sie nicht erfahren. »Seitdem kann ich keinem Menschen mehr vertrauen«, fügte die Mutter noch hinzu. »Auch dir nicht, meinem Sohn.« Danach sprach sie nie wieder davon.

[151]Er war ein Einzelgänger

Seine Mutter hatte ihm mit auf den Lebensweg gegeben, man müsse »mit den Wölfen heulen«. Sie glaubte, mit Eigenwilligkeit bringe man sich selbst nur in Gefahr, denn – so ihre Redewendung – »dann haben die dich auf dem Kieker«. Die Mutter sah sich einer per se feindlichen Umwelt ausgeliefert, einem Dschungel, in dem man sich nur mit allergrößter Vorsicht bewegen durfte.

Es gibt eindeutige Hinweise dafür, dass Jürgen Petersen schon in jungen Jahren davon Abstand nahm und auf seiner Meinung beharrte, auch dann, wenn sie nicht dem Mainstream entsprach. Er war als Jugendlicher ein Einzelgänger, ein Computerfreak, jemand, der sich nicht irgendeiner Welle anschloss, bloß weil sie gerade Kult war. Auf dem Gymnasium fiel er auf, vor allem durch seinen Intellekt und seine rhetorische Begabung. Bereits mit 14 Jahren wurde er zum Schulsprecher gewählt. Es lässt sich denken, dass ihn diese Rolle überforderte.

Petersen nimmt sich Zeit, um mir eine zentrale Erfahrung mit Mobbing zu beschreiben. Offenbar nahm er als Schüler nicht ausreichend wahr, dass er sich mit seiner Überflieger-Position, seiner Kompromisslosigkeit in Sachen Gerechtigkeit und seinem Drang, heikle Sachverhalte anzusprechen, Feinde machte. Auch den Neidfaktor blendete er aus, aber das ist nicht ganz so überraschend, wenn man weiß, dass er auch den Neid seiner Geschwister ignorierte. Aus seinen Schilderungen schließe ich, dass die Schulleitung ihn loswerden wollte. Da kam ihr ein Gerücht, wonach Jürgen ein Drogendealer sein sollte, gerade recht. Es lag ihr nicht daran, den Wahrheitsgehalt zu ermitteln. Der Schulsprecher wurde zu Unrecht beschuldigt, es hieß, man glaube ihm nicht, aber da man ihm nichts nachweisen könne, sei es das Beste, er wechsle das Gymnasium. »Im Nachhinein«, urteilt er, »war diese neue Schule das Beste, was mir passieren konnte.« Hier entdeckte er die Welt die Literatur, [152]des Theaters, zwei Leidenschaften, die ihn nicht mehr verließen.

Das Merkwürdige ist, dass Jürgen Petersen auch im Rückblick darauf besteht, die Lehrer an seinem ersten Gymnasium hätten ihm – gerade weil er so aufrichtig war – ausnahmslos mit Achtung und Respekt begegnen müssen. Bis heute weigert er sich, zu akzeptieren, dass eigenwillige Charaktere von der Mehrheit der Bevölkerung eben nicht geschätzt werden und deshalb Nachteile erfahren. Er erwartet Beifall von Leuten, die sich durch sein Verhalten irritiert und vielleicht sogar vorgeführt sehen. Bei jemandem, der dem jugendlichen Alter schon lange entwachsen ist und der seine Mitmenschen sehr genau beobachtet – was in meinen Augen auch die besondere Qualität seiner Arbeit ausmacht –, finde ich eine solche Sichtweise überraschend. Was hindert ihn bis heute daran, zu unterscheiden, wer ihn unterstützt und wer ihm nichts Gutes gönnt?

Vor einigen Jahren, als seine Erwerbsminderung durch die Diagnose Parkinson amtlich geworden war, stellte er einen Antrag auf Hartz IV. Dazu schildert er mir eine lange Episode der fortgesetzten Demütigung von Seiten einer Sachbearbeiterin. Offenbar unterstellte sie ihm, er wolle sich die finanzielle Unterstützung erschleichen. Er nahm es hin, er wehrte sich nicht. Warum nicht? Weil er mit Autoritäten große Schwierigkeiten habe, erläutert er mir. Seine Mutter habe ihm vermittelt: Man muss Autoritäten unbedingt gehorchen. Er kenne von ihrer Seite auch keine Solidarität, wenn sie von seinen Konflikten erfuhr. Mutter habe immer den anderen mehr geglaubt, den Lehrern zum Beispiel. »Ich hätte bezüglich Hartz IV immerfort Widerspruch einlegen müssen, bei jeder Ablehnung, bei jeder Schikane. Aber ich dachte: Sie werden schon wissen, was sie tun«, erklärt er mir. »Außerdem will ich respektiert werden in meinem Anspruch auf das, was mir zusteht, ohne Widerspruch einlegen zu müssen. Ich bin unglaublich stur. Ich verabscheue es, wenn man mich zwingt, etwas zu tun, was ich nicht will.«

[153]Als Kind und Jugendlicher hatte Jürgen Petersen die Ehekriege seiner Eltern ertragen müssen. Vielleicht hat er sich ja damals geschworen: Das mache ich anders. Nie wieder Krieg. Oder wenn schon Krieg, dann zu Bedingungen, die ich akzeptieren kann. Er sagt: »Ich fand es immer ganz widerlich, wenn man mich gezwungen hat, laut zu werden.« Es geht ihm damit wie jedem Menschen, dem etwas abverlangt wird, was er nicht gut kann und was er – weil er damit seine Überzeugungen verraten würde – auch nicht erlernen möchte.

Nun ist aber jeder Mensch, ob er will oder nicht, gelegentlich Angriffen ausgesetzt, die ihm nur die Wahl lassen zwischen Lautwerden oder Zurückweichen. Der Amerikaner William Shirer, der sich während der NS-Zeit als Zeitungskorrespondent in Berlin aufhielt, schildert in seinem Buch »Das Jahrzehnt des Unheils«, wie er sich von brüllenden Nazis einschüchtern ließ – solange, bis er sich entschloss zurückzubrüllen.

Hohe moralische Ansprüche

Petersens Vater, der Wehrmachtssoldat gewesen war, wird von der wirksamen Methode gewusst haben. Aber von ihm hätte Jürgen entsprechende Unterweisungen nicht angenommen, denn der Vater hatte sich im Rosenkrieg als Vorbild disqualifiziert. Dem Sohn waren auch andere, durchaus nützliche Lebensregeln suspekt, zum Beispiel: Bei großer Gefahr macht man die Schotten dicht. Denn er litt nicht nur, wenn man ihn zwang, laut zu werden, sondern genauso, wenn die Situation es erforderte, sich in Sicherheit zu bringen. Ohne Anpassung war das nicht zu erreichen, und damit verriet er seine Prinzipen. Folgte er seinen Prinzipien, war er wehrlos und schutzlos. Gehorchte er der Not, genügte er seinen moralischen Ansprüchen nicht. Was für eine Falle!

Der Vater erzählte Jürgen viel über seine Wehrmachtszeit. [154]Dafür hatte es nur der richtigen Frage zur richtigen Zeit bedurft. Jürgen, damals Anfang zwanzig, wollte von ihm wissen: »Wo warst du eigentlich mit 21 Jahren?« Antwort: »In Griechenland. Da haben die Briten auf uns geschossen.« Als der Vater merkte, dass sein Sohn ihm keine rhetorische Frage gestellt hatte, sondern wirklich interessiert war, ergab sich etwas bisher nie da Gewesenes zwischen ihnen: ein langes, intensives Gespräch. Es wurde fortgesetzt, Vater und Sohn kamen sich näher, und mit der Zeit entwickelte sich eine vertrauensvolle Beziehung.

Der Vater stellte Fragen zu Jürgens Arbeit, nicht im Sinne von: »Wie willst du davon leben?«, sondern: »Zeig mir doch mal, was du so schreibst.« So kam es, dass sein Sohn ihm gelegentlich Texte zu lesen gab. Der Vater erschien auch zur Premiere seines ersten Theaterstücks. Die Mutter hingegen ist an der Arbeit ihres Sohnes gänzlich uninteressiert. Es käme ihr nicht in den Sinn, die Tageszeitung zu kaufen, nur weil im Kulturteil ein Buch von Jürgen Petersen besprochen wird. Ein einziges Mal hatte sie einen Text von ihm gelesen. Der Sohn, damals noch Schüler, hatte sich von seiner Einsamkeit in seiner Familie inspirieren lassen. Der Text trug den Titel »Geschwister«. Seine Mutter las ihn und meinte nur: »Ich glaube, du brauchst einen Arzt.«

Jürgen Petersen kann seine Mutter gut erfassen. Ihre Persönlichkeit diente ihm als Vorlage für die dominante »grüne Dame« in seinem Hörspiel. Er beschrieb sie inklusive ihrer Leidenschaft für Tabletten, weshalb sie sich auf Station gern in der Nähe des Medikamentenschranks aufhielt, in der Hoffnung, sie werde ihn eines Tages unverschlossen vorfinden. Er weiß viel über seine Mutter, er kennt ihre Traumata, ihre Schwächen, ihre Bedenkenlosigkeit. Aber all das zu wissen, hilft ihm nicht weiter, wenn es darum geht, sich wirksam von ihr abzugrenzen.

[155]Die Konkurrenz der Kranken

Dass Jürgen sich heute so gut mit seinem Vater versteht, empfindet seine Mutter offenbar als Verrat. Ihr Misstrauen ist noch gewachsen. Und ein Zweites hat sich im Verhältnis zu ihrem Sohn verändert. Entgegen der früheren Gewohnheit, in ihm, wenn er krank war, geradezu einen Komplizen zu sehen, ist seit der Diagnose Parkinson das Thema Krankheit in seiner Gegenwart tabu. Weder seine Mutter noch sonst jemand in der Familie spricht ihn darauf an. Kein mitfühlendes Nachfragen, kein Beistand, kein Trost. Jürgen Petersen, der deshalb viele Gespräche mit seinem Therapeuten führte, erklärt mir das so: »In meiner Familie herrscht die Konkurrenz der Kranken. Aber mit Parkinson kann keiner mehr mithalten. Da habe ich sozusagen den obersten Trumpf gezogen. Keiner kann mich mehr mit seinen Krankheiten ausstechen.«

Es überrascht mich, dass er, als er vor zwei Jahren die Diagnose Parkinson erfahren hatte, nicht in Niedergeschlagenheit versunken war. »Das war ich vorher, als die Krankheit noch nicht diagnostisiert war«, erklärt er. »Ich dachte, ich sei depressiv, und auch die Ärzte meinten lange Zeit, es handele sich bei mir um etwas Psychosomatisches.« Aber schließlich lagen die Fakten auf dem Tisch, und Jürgen Petersen blieb nichts anderes übrig, als sie zu akzeptieren. Er beschloss, sich auf das Positive in seinem Leben zu konzentrieren, die Arbeit und die Liebe. Was er sich nie hätte träumen lassen – er war als Schriftsteller zunehmend gefragt. Der andere große Erfolg bestand darin, dass er nun schon 20 Jahre mit seiner Lebensgefährtin zusammen war. So viel Glück musste gefeiert werden! Er wünschte sich ein rauschendes Fest, ein Hochzeitsfest, das keiner seiner Gäste je vergessen sollte. »Mein großes Defizit war ja«, erläutert er mir, »ich konnte Leid immer teilen, aber Freude nicht. Ich wollte, dass alle kommen und mit mir feiern.«

Das Fest wurde sein Waterloo, die größte Niederlage seines [156]Lebens. Seine Mutter erschien erst gar nicht. Es kam ihr nicht in den Sinn, dass es vielleicht wichtig sein könnte, dem Sohn, der endlich geheiratet hatte, ihren Segen zu geben. Auch die Schwester sagte ab. Sein Bruder dagegen kam, allerdings bereit, schlechte Laune zu verbreiten, was ihm mit Bravour gelang, indem er Unwahrheiten über Jürgen in den Raum setzte. Wieder ein Fall von Mobbing. Der Konflikt eskalierte, und es zeigte sich, dass auch Jürgens Frau nicht mehr hinter ihm stand. Die frisch geschlossene Ehe zerbrach.

Ich frage mich, wie Jürgen Petersen überhaupt auf die Idee kommen konnte, Mutter und Geschwister würden sich mit ihm über seine Erfolge freuen. War es nicht gerade seine Familie, die ihm – im Unterschied zu seinem Freundeskreis – jede Rückenstärkung verweigerte und sich in keiner Weise für ihn interessierte? Ich frage laut, ob ihn denn sein Therapeut nicht gewarnt habe? Nein, antwortet Petersen, in dieser Phase habe er gerade eine Therapiepause gemacht.

Eine unstillbare Sehnsucht nach Trost

Gegen Ende unseres Gesprächs sagt Jürgen Petersen, es gäbe noch etwas, das ich von ihm wissen sollte. Er spüre deutlich, dass der Trost, den seine Mutter schon nicht bekommen habe, sich eine Generation später als Defizit auch in seinem Leben ausgebreitet habe. »Mir fehlt der Küchentisch, wo ich mich hinsetzen kann und sagen kann: ›Es läuft gerade Scheiße‹. Und alle sagen: ›Oje, aber glaub uns, es wird auch wieder besser.‹ Das passiert nicht. Das gibt’s nicht. Dieser Küchentisch müsste riesengroß sein, und ein Chor von Hunderttausend müsste mich trösten.« Es herrscht eine Weile Schweigen. Dann sagt Petersen, er wisse, er müsse nun grundlegend etwas ändern. Er sei 40 Jahre alt. Im Unterschied zu gesunden Gleichaltrigen stehe ihm nur noch eine relativ kurze Zeitspanne zur Verfügung, [157]in der sich seine Beeinträchtigungen in Grenzen halten werden.

Ich stimme ihm zu und frage ihn, ob er einmal erwogen habe, den Kontakt zu seiner Mutter für eine geraume Zeit zu unterbrechen. »Nein«, sagt er. »Das kann ich nicht. Wenn ich den Kontakt zu meiner Mutter abbreche, löst sie sich in Luft auf. Das jedenfalls ist mein inneres Bild dazu«.

Ich denke, er weiß alles über die Hintergründe seiner Wehrlosigkeit. Frauen, die als Kinder vergewaltigt wurden und nie Beistand und Trost erfahren haben, sind – und das ist die Tragik auch für die folgende Generation – in den meisten Fällen Gift für ihre Söhne. Denn solche Mütter sorgen dafür, dass ihnen schon in den ersten Lebensjahren alle Regungen von Aggressivität ausgetrieben werden. Nichts ist leichter, als ein Kleinkind zu manipulieren und seinen Eigenwillen zu brechen. Eine Mutter muss in diesem Fall gar nicht grob vorgehen, es reicht, den Säugling mit Abwesenheit zu strafen. Manche Frauen verlassen deshalb nicht einmal den Raum. Ist ihr Sohn »böse«, schalten sie die innere Verbindung zu ihm einfach ab. Er wird dann nur noch mechanisch versorgt. Das Kind wiederum merkt, es kann seine Mutter nicht mehr erreichen und gerät in Panik, die sich zur Todesangst steigern kann. Solche Ängste sind ungemein haltbar – siehe: »Wenn ich den Kontakt zu meiner Mutter abbreche, löst sie sich in Luft auf.« Ist das Kind dann erwachsen geworden, aber immer noch nicht in der Lage, sich innerlich von seiner Mutter zu lösen, geht ihm womöglich nach und nach die Lebenskraft aus.

Ich wünsche sehr, dass Jürgen Petersen endlich aufbricht und sich holt, was ihm zusteht. Das wünsche ich ganz eigennützig, denn ich erhoffe von ihm noch viele gute Hörspiele und Theaterstücke.