[59]Freundliche und gut erzogene Töchter

Je nach Blickwinkel kämen über die ersten zwanzig Lebensjahre von Isabell und Natalie Kramp* recht unterschiedliche Urteile heraus. Nachbarn, die beide Mädchen heranwachsen sahen, könnten ein Klischee bedienen: eine nette Familie. Beide Töchter freundlich und gut erzogen. Die Mutter hilfsbereit und stets gut gelaunt. Der Vater patent und bestens informiert, einer, der immer Rat wusste. Dazu das Haus und der schöne Garten. Kann es bessere Bedingungen für eine glückliche Kindheit geben?

Die Mutter von Isabell und Natalie würde hervorheben: Wir waren eine fröhliche Familie, und als Familie hält man zusammen. Mein Mann und ich haben unseren Töchtern gern eine Freude gemacht und versucht, ihnen alles zu ermöglichen. Trotz zweier Gehälter war das nicht immer einfach, weil wir durch unser Haus finanziell belastet waren. Unsere Mädchen waren keine guten Schülerinnen, aber wirklich große Probleme gab es mit ihnen nicht, außer einmal, als Natalie 18 Jahre alt war. Da hatte sie eine Krise. Es hing mit dem Tod ihres Vaters zusammen.

Essstörungen

Eine völlig andere Version käme von Carola, einer guten Freundin der Schwestern seit Kindertagen. Carola würde sagen: Am Anfang habe ich die beiden tierisch beneidet. Die bekamen alles von ihren Eltern, denen fehlte nichts! Zwei Lehrer verdienen ja auch gut. Es war auch immer jemand zu Hause, wenn die Mädchen aus der Schule heimkamen. Aber als Jugendliche waren Isabell und Natalie furchtbar unglücklich. Ich merkte es, obwohl sie sehr verschlossen waren. Beide Schwestern kamen in [60]der Schule schlecht mit, beide litten an Essstörungen. Ja, sie waren so dünn, dass man dachte, die kippen bald um. Ich habe mit meiner Mutter gelegentlich darüber gesprochen, weil es uns sonderbar vorkam, dass deren Eltern nichts dagegen unternahmen. Und dann der Selbstmordversuch von Natalie – das war nun wirklich ein Hilferuf! Aber ihre Mutter reagierte auch diesmal so, als sei alles halb so schlimm. Ein Glück, dass Natalie dann nach New York ging. Wäre sie hier im Hunsrück geblieben, hätte sie sich vielleicht gar nicht mehr in ihrem Leben zurechtgefunden.

Drei Blickwinkel, drei Einschätzungen. Nur in einem Punkt hätte sich Übereinstimmung ergeben, doch der betraf nicht das Familienklima, sondern den kalten Krieg, in den Isabell und Natalie Kramp hineingeboren worden waren. Ihr Heimatdorf lag in der Nähe des amerikanischen Militärstützpunktes Hahn – heute ein ziviler Flughafen – und insofern hatte die Idylle einen erheblichen Defekt. Die Düsenjäger starteten und landeten dicht hintereinander und machten im Tiefflug einen Höllenlärm. Wurde ein Dorfbewohner beerdigt, konnte der Pfarrer sich bei seiner Ansprache jede Mühe sparen. Er wurde ja doch nicht verstanden. Für die Schwestern war der Flugdonner normal. Dem Vater aber konnte er, vor allem beim Grillen im Garten, derart an den Nerven zerren, dass er das Wenden der Würstchen seiner Frau überließ und sich in seinen Hobbykeller verzog. Die wiederum meinte, es sei alles eine Frage der richtigen Einstellung: Man müsse die Tiefflieger als Freunde und nicht als Feinde sehen, denn schließlich – und hier bekam ihre Stimme jedes Mal einen ironischen Unterton – würde der große Bruder Amerika sie vor den Russen schützen. Inge Kramp* war eine typische Schlesierin, herzlich und lebhaft. So jemand ist morgens nach dem Aufstehen nicht einfach nur wach, sondern munter. So jemandem ist es wichtig, gute Laune zu verbreiten. Als Gastgeberin ist Inge Kramp ein Naturtalent. Ihre Freundinnen und die Verwandten schätzen sie sehr.

[61]Zwei ungleiche Schwestern

Aber sie steht in dieser Geschichte in der zweiten Reihe. Die Hauptpersonen sind ihre Töchter, Natalie und Isabell, heute Frauen um die Vierzig. Isabell wohnt in Trier und sie hat zwei Kinder, beide im Grundschulalter. Vor kurzem hat sie sich von ihrem Mann getrennt. Vermutlich wird sie fortziehen. Ihr neuer Wohnort wird davon abhängen, wo sie als Sozialpädagogin eine Halbtagsstelle findet. Sie hat schulterlanges, dunkelblondes Haar und zeigt – im Unterschied zu ihrer meistens bis oben hin zugeknöpften Schwester – gern etwas Brustansatz. So wie sie sich kleidet und bewegt, entspricht sie dem Typ sinnliche Frau. Schwer vorstellbar, dass sie, 1,70 Meter groß, in jungen Jahren nur 48 Kilo wog. Isabells Leben ist im Umbruch. Sie will nicht länger die Frau eines Mannes sein, den sie nicht liebt – nicht deshalb, weil er ohne liebenswerte Seiten wäre, sondern weil er schlichtweg nicht der Richtige ist. Als sie ihn mit Anfang 30 heiratete, kannte sie den Zustand des Verliebt seins überhaupt nicht, und sie redete sich ein: Ich mag ihn, wir wollen beide Kinder, er ist intelligent und sympathisch; es wird schon klappen. Inzwischen sieht sie ihre Ehe als gescheitert. Im vergangenen Sommer hatte sie ein leidenschaftliches Verhältnis mit einem anderen Mann. Seitdem weiß sie, was es heißt, verliebt zu sein.

Ihr graut vor den Scheidungsauseinandersetzungen. Ihr Mann hat angekündigt, er werde ihr die Kinder nicht kampflos überlassen. Als Kaufmann hat er es zu Wohlstand gebracht, er kann sich den besten aller Anwälte leisten. Die größte Unterstützung für Isabell kommt von Natalie. Dank der billigen Telefonverbindungen im Internet können sie zweimal pro Woche telefonieren, selten unter einer Stunde.

Auch bei Natalie in New York stehen Veränderungen an, allerdings ist sie noch immer in der Phase des Abwägens, was sie wirklich will und was nicht, und ob das, was sie sich vorstellt, [62]überhaupt realistisch ist. Die Informatikerin, die früher Sprachen studierte, möchte noch einmal zurück an die Universität. Psychologie und Literatur interessieren sie. Aber da sie noch nicht einschätzen kann, wie groß oder wie klein ihre späteren Berufschancen sein werden, ist noch nichts entschieden. Natalie trägt ihr Haar kurz und läuft meistens in langen Hosen herum – sie ist der Typ Page. Noch immer wiegt sie zu wenig, ihre Handgelenke sind eindeutig zu schmal. Seit Jahren kämpft sie gegen eine immer wiederkehrende Depression, doch die, sagt sie, habe sie endlich mit Hilfe einer Therapeutin in den Griff bekommen. Natalie glaubt fest daran, dass sich auch ihre Essstörung verabschieden wird.

Erfolgreiche Bogenschützin

Sie und ihr Freund haben sich gerade im Staat New York ein Haus gekauft. Und noch etwas muss man über Natalie wissen: Sie liebt Herausforderungen im Sport, in unterschiedlichen Disziplinen. Häufig nimmt sie an regionalen, teilweise auch überregionalen Wettkämpfen teil. Am erfolgreichsten ist sie im Bogenschießen, aber auch als Langstreckenschwimmerin erzielt sie gute Ergebnisse.

Natalie und Isabell sind als Schwestern so sehr Komplizinnen, dass sie sich mit demselben Spitznamen begrüßen. Bei ihnen klingt das zum Beispiel so: »Hallo Partner!« – »Hallo Partner!« Oder sie wählen eine spanische Variante: »Ola Amigo!« – »Ola Amigo!«. Bei ihrem richtigen Namen nennen sie sich nie. Damit bewegen sie sich in einer Familientradition. Auch in ihrem Elternhaus wurde niemand mit seinem richtigen Namen angeredet. Alle hatten Spitznamen, und bei den beiden Töchtern waren es männliche Namen. Natalie hieß wahlweise »Troll« oder »Fuchs«, Isabell hieß »Jim Knopf« oder »Tiger«. Sie können nicht mehr sagen, woraus sich das Spiel mit den [63]Namen entwickelte, das sie heute als erwachsene Frauen fortsetzen.

Eine zweite Auffälligkeit der beiden Schwestern sind ihre sanften Stimmen, der wohlwollende Tonfall, auch dann, wenn sie über offensichtliche Versäumnisse ihrer Eltern reden. Die Töchter sehen, wie eingeschränkt Mutter und Vater waren – eingeschränkt in ihren Gefühlen und in ihrer Wahrnehmung, aber auch viel zu bescheiden in ihren immateriellen Wünschen ans Leben. Natalie und Isabell führen diesen Mangel auf deren Kriegskindheit zurück. Inge und Peter Kramp*, beide Mitte der Dreißiger Jahre geboren, hatten eher aus Vernunft als aus Begeisterung den Lehrerberuf ergriffen. Peter Kramp wollte ursprünglich Architekt werden und seine Frau Möbeldesignerin, aber das war ihnen wohl zu riskant, und so bewegten sie sich während ihres ganzen Berufslebens zwischen Klassenzimmer und Lehrerzimmer.

Schulversagerinnen

Ihre Töchter haben sich oft gefragt, warum Vater und Mutter einerseits überdurchschnittliche Schulnoten erwarteten, aber von Elternseite keinerlei Unterstützung kam. »Jedes Jahr war die Versetzung gefährdet.«, erzählt Isabell. »Aber sie haben uns nicht geholfen, damit das Drama endlich aufhörte. Sie haben uns allein gelassen. Nach außen wurde die Fassade aufrechterhalten. Unser Vater hat sich vorgestellt, wir könnten eine Banklehre machen, weil das etwas Sicheres ist, aber selbst dafür hätten unsere Noten nicht gereicht. Es hätte uns keiner genommen.«

Die Schwestern haben ein gemeinsames Projekt. Überschrift: Zwei Frauen auf der Suche nach ihrer Identität. Wenn Natalie und Isabell von ihrer Herkunftsfamilie sprechen, dann fällt häufig der Begriff »Die Burg« – eine Metapher für Schutzbedürftigkeit, [64]Isolation und Überheblichkeit. Die Burg wird beherrscht und verteidigt von Mutter Inge. Sie hält die Fäden in der Hand, nicht nur in Bezug auf Töchter, Enkel und Schwiegersohn, sondern auf ihre ganze Verwandtschaft, die sich gern und häufig in der Burg aufhält.

Als die beiden Töchter noch zu Hause wohnten, war die Stimmung geprägt von einer vitalen, aber unruhigen Mutter, eine Frau, die immer mehrere Sachen zur gleichen Zeit machte, die lebhaft erzählte und gern lachte. »Aber ihre Fröhlichkeit hatte etwas Künstliches«, meint Isabell. »In unserer Familie wurde zwar gelacht, aber nicht entspannt und nicht herzhaft – so wie ich das heute mit meinen Kindern kenne.« Mit ihnen allerdings, fügt sie hinzu, erlebe sie ihre Mutter anders: eine Frau, die sich noch kindlich freuen kann und sich vom Lachen der Enkel anstecken lässt.

An dieser Stelle unseres Gesprächs versuche ich mir vorzustellen, wie wohl Inge Kramp die Aussagen ihrer Töchter kommentieren würde. Vielleicht so: »Diese überkritischen jungen Frauen! Sie sind ja völlig überdreht. Jeder Mensch hat sein unverwechselbares Lachen. Warum soll ich mit den Enkelkindern anders lachen als mit meinen Töchtern!«

Den Schilderungen der Schwestern aus ihrer Kindheit und Jugend entnehme ich: Die Burgbewohner sahen sich als etwas Besonderes, sie machten sich nicht mit den Dorfbewohnern gemein. »Unsere Eltern hatten neu gebaut. Man ging nicht auf Dorffeste, man arbeitete außerhalb«, stellt Isabell mir die Situation dar. »In unserer Familie wurde auch immer ganz hässlich über andere Leute geredet, zum Beispiel über Nachbarn, die sonntags alle zusammen wandern gingen. Da standen wir auf der Terrasse und zogen über sie her, anstatt selber die Schuhe anzuziehen und gemeinsam etwas zu unternehmen. Wir waren ja immer nur zu Hause. Die Eltern hatten keine Energie und Lust, irgendwohin zu fahren. Wir lebten eben wie in einer Burg.«

[65]In den Augen ihrer Töchter ist Inge Kramp, das ehemalige Flüchtlingskind aus Schlesien, nie wirklich im Hunsrück angekommen. Sie trauert der verlorenen »alten Heimat« immer noch nach, scheut aber davor zurück, sich mit Erinnerungen an den Verlust zu konfrontieren. Unter den vielen Bildern im Haus war nicht eines von Breslau. Warum auch, würde sie einer entsprechenden Frage begegnen, das Breslau ihrer Kindheit gebe es nicht mehr. Sie verspüre keinerlei Drang, ihren Geburtsort wiederzusehen. Vermutlich würde sie noch hinzufügen, Heimat im Sinne einer Region sei für sie nichts Erstrebenswertes, wichtig sei ihr nur die Familie. Natalie und Isabell wissen über die Flucht nur wenig. Ihre Großmutter war mit ihren Kindern ein ganzes Jahr unterwegs. Zunächst retteten sie sich in das scheinbar sichere Böhmen. Wer sich mit den historischen Fakten auskennt, weiß, dass sie damit vom Regen in die Traufe gekommen sein müssen. »Unsere Mutter hat aber nichts von Gewalt erzählt«, erklärt Natalie. »Sie sagte, diese zwölf Monate seien eher abenteuerlich gewesen als schlimm – ein Zigeunerleben.«

Peter Kramp wurde 1935 in Koblenz geboren und wuchs so gut wie vaterlos auf. Sein Vater überlebte zwar den Krieg, starb aber kurz nach seiner Heimkehr an den Spätfolgen der entbehrungsreichen russischen Gefangenschaft. Mit zehn Jahren kam Peter Kramp in ein Internat, eine strenge Klosterschule, die ihn aufnahm, obwohl seine Mutter auf Grund ihrer kleinen Rente nichts bezahlen konnte.

Mama nahm alles hin

Von seinen Töchtern wird der Vater als Einzelgänger beschrieben. Er sprach nicht viel. Die Beziehung zu seiner eigenen Mutter war spannungsreich. Nach ihrem Tod hatte er kaum noch Kontakt zu seiner engeren Verwandtschaft. Im Unterschied zu seiner Frau führte er noch ein Leben außerhalb der Burg. Er [66]spielte Golf und ging ins Theater oder in Konzerte der klassischen Musik, wobei er sich, soweit seine Töchter sich erinnern, während einer bestimmten Phase von einer jüngeren Kollegin begleiten ließ. »Unsere Mama fügte sich stumm«, erzählt Isabell. »Sie hat nie gemeckert, sondern alles hingenommen, wie es war. Ihr Satz dazu lautete: Leben heißt der Not gehorchen. Sie hatte kein eigenes Hobby, sie war ohne geistige Interessen. Unsere Eltern haben nie etwas gemeinsam gemacht, außer in Haus und Garten zu arbeiten.« Inge und Peter Kramp waren stets mit irgendetwas beschäftigt, das unbedingt erledigt werden musste, und sie leisteten in der Tat enorm viel. Ihre Töchter meinen rückblickend, die Eltern seien nie wirklich zur Ruhe gekommen. Peter Kramp starb mit 50 Jahren an Krebs.

Beide Töchter fanden die Ehe ihrer Eltern »schrecklich«. Ihre Mutter aber, erzählen sie, sehe das völlig anders und lasse sich in ihrem Urteil auch nicht beirren; sie spreche gern von ihrer »glücklichen Ehe«. Auch ihre beiden Töchter habe sie als junge Mädchen im Wesentlichen »glücklich« in Erinnerung. Dass es manchmal Schwierigkeiten gab, vor allem während der Pubertät, würde Inge Kramp nicht abstreiten. Sie tat es auch nicht, als Natalie und Isabell beim vergangenen Weihnachtsfest, als die Kinder endlich im Bett lagen, ein offenes Gespräch mit der Mutter suchten. Inge Kramp hörte sich an, was für ihre Töchter im Umgang mit ihren Eltern problematisch gewesen war, und am nächsten Morgen sagte sie knapp: »Ich habe über alles nachgedacht und bin der Meinung: Generationskonflikte gibt es überall.«

Natalie litt bereits als Zehnjährige unter massiven Ängsten. »Ich lag jede Nacht heulend im Bett«, berichtet sie. »Ich beruhigte mich erst wieder, wenn ich bei Mama und Papa im Bett schlafen durfte. Das heißt: Die Eltern müssen meine Not mitbekommen haben. Doch nach den Ursachen wurde nicht geguckt. Sie gingen auch nicht in eine Erziehungsberatung.« Es kann zum Verständnis beitragen, wenn an dieser Stelle eine [67]ganz andere Not wahrgenommen wird: die der Eltern bei Kriegsende. Auch sie waren damals zehn Jahre alt. Später, als Erwachsene, erinnerten sie sich der Zeit der Katastrophen entweder als Abenteuer, oder sie hielten die Schreckensbilder auf andere Weise auf Abstand, zum Beispiel durch übermäßiges Arbeiten. Vermutlich gehörten Inge und Peter Kramp zu der weit verbreiteten Gruppe der Kriegskinder, die der festen Überzeugung waren, sie hätten nichts besonders Schlimmes erlebt, auch wenn die objektiven Fakten dagegen sprachen. Natürlich hat meine Sichtweise etwas Spekulatives. Jeder Einzelfall liegt anders, und wir wissen auch nicht, wie es im tiefsten Innern der Eheleute Kramp ausgesehen haben mag. Fest steht nur, dass sie kein Sensorium für die seelischen Leiden ihrer eigenen Kinder hatten, die im Unterschied zu ihnen selbst in den besten aller Zeiten aufwuchsen.

Diagnose Bulimie

In der Pubertät entwickelte Natalie eine Bulimie. Sie erinnert sich, dass ihre Eltern den körperlichen Zustand ihrer Tochter keineswegs als besorgniserregend ansahen. Dennoch kam es zu einem Besuch in einer psychologischen Praxis. Inge Kramp ging in die Beratung, wie man sich einer Pflicht entledigt. Natalie erzählt: »Die Psychologin sagte: ›Schauen Sie doch mal, Frau Kramp, wie dünn ihre Tochter ist!‹ Aber meine Mutter konnte das nicht erkennen. Nach diesem Termin meinte sie: ›Von der lass ich mir doch nicht sagen, was ich zu tun habe.‹« Natalie fügt hinzu, sie habe damals große Hoffnungen in die Äußerungen der Psychologin gesetzt. Ihr sei klar gewesen: Diese Frau sieht meinen Schmerz. Aber die habe ihre Mutter auch nicht erreichen können.

Später kam es auch bei Isabell zu einer Essstörung. »Ich war nicht bulimisch. Mir hat einfach das Essen nicht geschmeckt«, [68]erklärt sie. »Es lag daran, dass Mutter nicht gern kochte. Sie sagte oft: ›Es wäre schön, man könnte anstatt zu essen eine Pille einwerfen!‹ Wir hatten zu Hause keine Esskultur – von Mutters Seite war es Abfüttern. Und was mich betrifft: Mit 48 Kilo bei 1,70 Meter galt man in meiner Familie nicht als untergewichtig.« Sie fügt hinzu, für sie sei in diesem Zusammenhang die Schwangerschaft entscheidend gewesen. Sie habe erst nach der Geburt ihres Sohnes zu einem normalen Körpergewicht gefunden.

Sie war 21 und ihre Schwester 18 Jahre alt, als ihr Vater nach einer kurzen Krankheit starb. Natalie beschreibt, wie groß der Schock war. »Damals dachte ich, es sei meine Aufgabe, die Mutter wieder glücklich zu machen. Als ich merkte, ich kann die Mama nicht trösten, stürzte ich in die tiefste Verzweiflung.« Natalie wollte so nicht mehr leben. Rückblickend sieht sie in ihrem Suizidversuch einen letzten Hilferuf – nachdem ihre Bulimie nicht ausgereicht hatte. In ihr steckte das Gefühl absoluter Wertlosigkeit. Sie habe immer gedacht, sie müsse sich die Liebe ihrer Mutter erst noch verdienen, erklärt sie, nur habe sie nicht gewusst, wie. »Ich empfand es so, als wäre ich bei meiner Mutter nicht willkommen – und damit war ich auch nicht wirklich im Leben angekommen.« Sie dachte, alles sei allein ihre Schuld. Sie verstand nicht, warum sie nicht glücklich sein konnte. Sie hatte doch alles!

Nach dem Suizidversuch verbrachte sie ein halbes Jahr in einer psychosomatischen Klinik. Danach kehrte sie nicht wieder in ihr Elternhaus zurück, sondern zog in eine Wohngemeinschaft. Später beschloss sie, einige Semester in den USA zu studieren. Inzwischen wohnt sie schon 15 Jahre dort. In New York ist ein stabiler Freundeskreis gewachsen. Man kann auch sagen, Natalie Kramp ist umgeben von Wahlverwandten. »Uns verbindet, dass wir alle von weit her kommen«, erläutert sie. New York ist bekannt für seine Anziehungskraft auf Menschen, die sich nirgendwo zu Hause fühlen. Hier sammeln sich die [69]Wurzellosen, und häufig geschieht es, dass über die Jahre ein Heimatgefühl entsteht.

Ihre Schwester Isabell weiß noch nicht, in welcher Stadt sie mit ihren Kindern leben wird. Ihre größte Angst seit der Trennung ist, dass ihr Mann und ihre Mutter sich gegen sie verbünden könnten. Sie sehen sich häufig, sie verstehen sich gut. Der Schwiegersohn teilt die Sichtweisen von Inge Kramp, wonach die Familie etwas Heiliges, Unantastbares ist – dem sich alles andere unterzuordnen hat – und dass das Leben vor allem Arbeit und Pflichten bedeutet. Ihr Mann, sagt Isabell, sei, ähnlich wie ihre Eltern, sehr konservativ und ein Workaholic. Auf meine Frage hin, ob es von ihrer Seite konkrete Befürchtungen gebe, denkt sie eine Weile nach. Dann gibt sie sich einen Ruck. »Ich weiß nicht, ob das, was ich da sehe, überhaupt realistisch ist«, räumt sie ein, »aber ich stelle mir vor, dass mein Mann die Kinder bekommt und sie unter den gleichen Bedingungen aufwachsen wie ich …«

Ich bin doch deine Tochter, Mama!

Kein Wunder also, dass Isabell Kramp, als sie sich endlich entschieden hatte, ihren Mann zu verlassen, in einem erbärmlichen Zustand war. Kein guter Zeitpunkt, ihre Mutter zu sehen – es geschah aber dennoch, Inge Kramp hatte Sehnsucht nach ihren Enkeln. »Sie sah, wie schlecht es mir ging«, erzählt die Tochter. »Sie saß hier am Tisch und gab mir zu verstehen: Nun funktionier doch bitte wieder. Man kann doch nicht die Familie auseinander reißen … Da sagte ich: ›Ich hätte mir so gewünscht, du hättest einmal nachgefragt und ich hätte von dir gehört: Ich sehe, es geht dir nicht gut. Lass uns ehrlich darüber reden. – Ich bin doch deine Tochter, Mama!‹ Da hatte ich sie ganz kurz getroffen. Sie bekam feuchte Augen und hat zu Boden geguckt. Vielleicht würde sie mir gern nahe sein, aber sie kann [70]es einfach nicht. Danach hat sie mir umgehend einen Eheratgeber geschickt. Den habe ich weggeworfen, was für mich ein großer Schritt ist«.

Keine Frage, Natalie und Isabell lieben ihre Mutter. »Es tut uns weh zu sehen, wie traurig ihr Leben eigentlich ist, das ungelebte Leben.« sagt Natalie. »So, wie sie selbst nicht für sich sorgen kann, damit es ihr besser geht, so konnte sie auch für uns nicht sorgen. Es ging ihr immer nur um das materielle Wohlergehen. Sie hat nie nach unseren psychischen Bedürfnissen geschaut. Sie konnte uns nicht wirklich wahrnehmen. Nein, das konnte sie einfach nicht.« Die beiden Schwestern mit den sanften Stimmen sind an einem ähnlichen Punkt angelangt. Sie spüren: Sie müssen ihr Leben endlich in die Hand nehmen, sie müssen die Burg – die Metapher für blockiertes Leben – hinter sich lassen.

Sie dürfen nicht mehr darauf warten, dass ihnen die Mutter dazu den Segen gibt. Und genau das fällt ihnen unendlich schwer. Wenn sie ihr Glück suchen, bedeutet das für die Mutter Unglück: Wer die Burg verlässt, bedroht den Zusammenhalt der Familie. Den Schwestern kommt es häufig wie Verrat vor, wenn sie ausprobieren, wie es sich anfühlt, auf eigenen Füßen zu stehen und ihre Bedürfnisse wahrzunehmen. Doch sie haben festgestellt, es tut ihnen gut, und es kann ihnen gelingen, solange sie sich weiterhin gegenseitig den Rücken stärken. »Hallo Partner! – »Hallo Partner!«