[175]Ein Rückblick auf 1968

Im Sommer 2005 führte ich in Frankfurt ein interessantes Gespräch mit dem Banker Hilmar Kopper, Jahrgang 1935, ein Flüchtlingskind. Er machte sich Gedanken darüber, welche Spuren der Krieg in seiner Generation hinterlassen haben könnte. »Wir haben unsere Angst immer zugedeckt«, bekannte er, »und was man anderen vormacht, das macht man ja eigentlich auch sich selbst vor. Vielleicht holt uns ja über unsere Kinder die von uns selbst unausgelebte Angst wieder ein.« Er halte es durchaus für möglich, fuhr er fort, dass Kinder mit entsprechenden Sensorien ausgestattet seien.16 Koppers Vermutung wird durch die Traumaforschung bestätigt. Die Weitergabe unverarbeiteter Belastungen an die Nachkommen ist nachweisbar, und sie findet auch außerhalb der Forschung immer mehr Beachtung. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Ausschnitt aus einem Tagungsvortrag des Bischofs Hans Christian Knuth, Schleswig.

Wir sind als Kinder der Kriegs- und Nachkriegsgeneration alle irgendwie zu Opfern schrecklicher Ereignisse geworden – und haben darüber geschwiegen. Wir haben unsere Kindheit unter traumatisierenden oder unwürdigen Umständen verbracht, viele von uns sind um ihre Kindheit buchstäblich betrogen worden – und wir haben darüber unser Leben lang nicht wirklich mit unseren Kindern geredet. Als Kinder verstanden wir nicht, wie uns geschah. Die Erwachsenen damals, also unsere Eltern, haben selber um ihr Überleben gekämpft und mit uns Kindern nicht über unsere Gefühle gesprochen. Dann hatten sie selber so sehr mit ihren Verlusterlebnissen, mit ihren Scham- und Schuldgefühlen [176]zu tun, dass sie sich lieber in die Praxis des Wiederaufbaus des zerstörten Landes stürzten, als dass sie sich um die Nöte unserer verwunderten und verwundeten Kinderseelen kümmerten. Und wir, die Kriegskinder, verdrängten unsere Fragen und Ängste, wir schluckten unsere Tränen herunter und versuchten ein ›ganz normales Leben‹ zu führen – was davon haben wir später eigentlich unseren Kindern erzählt?! Und: Was wissen wir eigentlich darüber, wie unsere Kinder vielleicht dennoch gefühlt haben, dass da in ihren Eltern, also in uns, verletzte Seelen, ungeweinte Tränen sind.

Später kam der Bischof, geboren 1940, auf seine eigene Generation, die 68er, zu sprechen und die unbequemen Fragen, die man den Eltern stellte.

Was habt ihr damals gemacht? Wart ihr aktive Unterstützer des nationalsozialistischen Systems oder wart ihr »nur Mitläufer«? Was wusstet ihr über den Widerstand gegen die Nazis? Was habt ihr erlebt und getan damals in Russland? Was wusstet ihr über die Juden und über die KZs? – Und später: Warum habt ihr nur für den Wiederaufbau gelebt, damit wir zu essen hatten und ein Dach über dem Kopf? Warum habt ihr uns nichts von euch erzählt, von eurer Zeit im Krieg, als ihr weg wart und wir Kinder allein, Kinder ohne Kindheit? Diese Fragen konnten damals, 1968, gestellt werden. Sie brachten auch Licht in die Geschichte unseres Volkes und in die Verstrickungen unserer Familiengeschichten in den allgemeineren Zusammenhang. Aber es ging fast immer nur darum, die Väter und Mütter zu fragen – und anzuklagen. Es ging darum, das Schweigen über Schuld und Versagen zu brechen, das auf uns lastete. Es war ein Akt der kulturellen und politischen Befreiung, die uns damals von manchem dunklen Fluch entlastete. [177]Aber die andere Hälfte des Schweigens, nämlich das Schweigen über unsere eigenen Ängste und Leiden als Kinder, wurde damals (noch) nicht aufgebrochen. Die seelischen Wunden und Ängste, die uns als Kinder überwältigt hatten und die wir darum tief in unser Innerstes verbannt hatten, kamen nicht zur Sprache. Wir identifizierten uns mit den Opfern der Konzentrationslager, mit den Opfern der deutschen Kriegszüge in Osteuropa. Ja, wir übertrugen unsere Identifikation mit den Opfern auf die Völker der ganzen Dritten Welt, die unter Kriegen, Kolonialismus und neuen Formen wirtschaftlicher Ausbeutung zu leiden hatten. Aber, dass wir selber als Kriegskinder auch die Opfer waren, um die wir trauern sollten und für die wir Solidarität fordern sollten, das kam uns damals nicht in den Sinn! 17

Die APO-Generation ist größtenteils im Ruhestand angekommen. Die Bärte, falls noch vorhanden, sind gestutzt, in jedem Fall aber weiß. Zeigen die Großväter heute ihren Enkeln Gruppenfotos von Anno 68, müssen sie dazu sagen, wer sie sind. Woher sollen die im 21. Jahrhundert Geborenen auf die Idee kommen, dass ihr bürgerlicher Opa einmal wie ein wilder Mann aussah, mit wirrem, langen Haar, in schlampiger Kleidung? Sind sie bereits im jugendlichen Alter, dann fangen sie an zu begreifen: Ihre Großeltern erlebten als Studenten eine überaus spannende Zeit, in der vieles geschah, worüber man heute die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Die Enkel wollen mehr darüber wissen, oder sie wollen über Fernsehbeiträge mit ihnen diskutieren. Die Alten sollen erklären, warum sie damals massenhaft auf die Straße gingen, was ihnen die Sit-ins an den Unis brachten und was ihre sonderbare Sprache auf den Flugblättern sollte, die kein normaler Mensch verstand. Erst ganz allmählich fügt sich für die Nachkommen ein Bild zusammen, das zwar unscharf ist, aber doch eine gewisse Authentizität vermittelt.

[178]Ungereimtheiten

APO-Tochter Katharina von Thalheim* schlägt sich noch immer mit Ungereimtheiten herum. Sie kam 1967 in Berlin zu Welt. Dort gehörte sie zu den ersten ›Kinderladenkindern‹. Noch heute hält sie Kontakt zu Gleichaltrigen, die mit ihr das Chaos ihrer frühen Erziehung teilten. Katharina von Thalheim hat einen energischen Gang, ein schönes Gesicht und schulterlange dunkle Locken. Doch am auffälligsten ist ihr herzliches, strahlendes Lächeln. Auf den ersten Blick wirkt sie offen und selbstbewusst – eine dieser emanzipierten Frauen auf dem Höhepunkt ihrer Attraktivität. Wer sie näher kennen lernt und ihr Vertrauen gewinnt, erlebt, wie sehr ihre Ausstrahlung täuscht. In Wahrheit, verrät sie mir, gerate sie schnell in Panik, vor allem gegenüber Autoritätspersonen. Das müssten nicht uniformierte Polizisten sein, fügt sie hinzu. Auch von der Sachbearbeiterin, die sie immer wieder wegen der Hartz IV-Unterstützung kontaktieren müsse, lasse sie sich leicht einschüchtern.

Wir hatten uns vor Jahren während einer Zugfahrt kennen gelernt und ein paar Worte miteinander gewechselt. Ihr Gesicht – das unvergleichliche Strahlen! – kam mir irgendwie bekannt vor, und es stellte sich heraus, dass sie in Berlin im selben Haus wohnte wie eine Freundin von mir. Dort lief sie mir noch einige Male über den Weg. Ich erlebte sie hochschwanger und dann erst wieder mit ihrem zweijährigen Töchterchen an der Hand. Von meiner Freundin erfuhr ich, Katharina von Thalheim sei eine allein erziehende Mutter und der Vater von Judith lebe weit entfernt in Österreich. Katharina hatte ihn nur flüchtig gekannt, als sie schwanger wurde. Sie wurden auch später kein Paar, sie halten Kontakt, weil sie gemeinsam eine Tochter haben. Weiteren Hinweisen meiner Freundin entnahm ich, Katharina habe eine Glasfachschule besucht, eine Ausbildung zwischen Handwerk und Kunstgewerbe. Mit etwas Glück hätte daraus eine befriedigende Berufstätigkeit werden können, aber [179]Katharina hat kein Glück in diesen Dingen. Sporadisch arbeitete sie in kleinen Fachbetrieben, die sie nach wenigen Monaten oder gar nur Wochen wieder verließ. Den Hintergrund enthüllte sie mir, als ich sie in Berlin besuchte.

Ich hatte mich an Katharina von Thalheim erinnert, als ich mich entschloss, in diesem Buch auch ehemalige Kinderladenkinder vorzustellen. »Ich bin aber nicht typisch«, eröffnet sie unser Gespräch, als wir bei Tee in ihrer Altbauküche sitzen. »Ich bin jetzt noch mal alle durchgegangen, die mit mir im Kinderladen waren. Aus allen ist etwas geworden. In den Kämpfen, die sie heute noch führen, geht es um ihre komplizierten Liebesziehungen. Aber beruflich sind die meisten auf einem guten Weg.« Bei Katharina ist das Gegenteil der Fall. Der Grund: »Ich habe, wie schon gesagt, eine Autoritätsphobie.« Die äußert sich vor allem darin, dass sie Kritik von Vorgesetzten nicht aushalten kann. Ihre Angst, etwas falsch zu machen, war und ist ihr größtes Hindernis.

Sie lebt mit einer Bedrohung, die sich ihr – sie weiß nicht wann und wodurch – eingebrannt hat, und diese Bedrohung lautet so: Wenn ich, Katharina, nicht von vornherein perfekt bin, dann ist alles aus. Daher besitzt sie kaum Spielraum, um zu lernen, bzw. etwas Neues auszuprobieren. »Wenn ein Chef sauer sagte: ›Was haben Sie denn da gemacht? Das ist falsch!‹, dann kriegte ich sofort Panik. Dann wusste ich plötzlich nicht mehr, wie man den Glasschneider richtig hält.« Man begreift, warum sie, die sozial derart eingeschränkt war, den Schritt in die Selbständigkeit erst gar nicht erwog. Wenn sie heute Fenster entwirft, dann nur noch für Bekannte oder für sich selbst und ihre inzwischen sechsjährige Tochter Judith – zum Beispiel das Küchenfenster, unter dem wir sitzen. Dessen Rahmen ist komplett ausgefüllt mit einem Sonnenmotiv. »Als mein Kind drei war, hat es mal gefragt, warum von der Küche aus die Sonne nicht zu sehen ist. Na ja, hinter dem Fenster ist nur der Lichtschacht. Da habe ich Judith eine Sonne gemacht.«

[180]Was läuft bei ihr schief?

Katharina von Thalheim hat eine Ausbildung. Sie hat Begabung. Sie sieht gut aus, sie gewinnt auf Anhieb Sympathien. Sie ist eine wunderbare Mutter. Was läuft bei ihr schief? Warum tritt sie auf der Stelle? Ihre Antwort: »Weil ich, seit ich denken kann, völlig verunsichert durchs Leben laufe.« Üblicherweise, fügt sie hinzu, sei sie nicht gerade mitteilsam, wenn es um ihre Defizite gehe. Sie habe die Erfahrung gemacht, es werde ihr nicht geglaubt. Offenbar ist die Diskrepanz zwischen ihrer lebensbejahenden Ausstrahlung und ihrem inneren Verzagtsein zu groß. Niemand in ihrer Familie und kaum jemand in ihrem Freundeskreis versteht, warum sie immer noch arbeitslos ist. Spätestens seit ihre Tochter den Kindergarten besucht, wird ihr ringsum signalisiert: Arbeit wäre das Beste für dich – dann kämst du mal wieder unter Leute. Katharina sieht das genauso, und sie hat auch keine großen Ansprüche. Sie weiß: Spezialisten im Glashandwerk werden nicht gebraucht, und ihre vielen Jahre der Beschäftigungslosigkeit sind alles andere als eine Referenz. Realistisch betrachtet käme erstmal nur ein Job im Billiglohnsektor in Frage. »Meine Freundinnen meinen es alle gut mit mir, wenn sie mir Tipps geben, wo ich mich bewerben soll«, erzählt sie. »Aber sie haben keine Ahnung, wie ich mich jedes Mal mit einem Bewerbungsschreiben herumquäle, auch dann, wenn es um eine Arbeit geht, deren Lohn Hartz IV kaum übersteigt.« Wieder ist es ihre Angst, in Panik zu geraten, die sie blockiert. Jemand wie sie darf sich nicht den kleinsten Fehler erlauben.

Da stellt sich die Frage: Wer ist sie? Eine Antwort darauf fällt Katharina von Thalheim schwer, trotz ihres Hangs zur Selbsterforschung und reichlicher Therapieerfahrung. Ihre Identität setzt sich, wie bei jedem Menschen, aus verschiedenen Rollen und Prägungen zusammen. Aber bei ihr fügt sich daraus kein Ganzes, es existiert viel Widersprüchliches, auch Unverknüpftes. Sie hat die längste Zeit ihres Lebens in Berlin gelebt, doch [181]ihre Sprache und ihr Verhalten drücken davon nichts aus. Von Berliner Schnodderigkeit keine Spur. Kein »ick« und kein »wa« mischen sich in ihre Sätze. Katharina ist eine Hochdeutsche der reinsten Art. Wenn sie länger von sich spricht, tritt ihre Unsicherheit zu Tage. Oft unterbricht sie sich selbst, nimmt einen neuen Gedanken auf, führt auch diesen nicht unbedingt zu Ende. Sie lacht viel, vor allem dann, wenn sie von Dingen redet, die eigentlich zum Weinen sind. Es kommen ihr aber auch häufig die Tränen – für mich jedes Mal überraschend.

Sie ist Mutter, das ist sie von Herzen gern. Aber ist sie auch gern eine Frau? Ihr Alleinleben seit zehn Jahren, und das im sogenannten besten Alter, lässt vermuten, dass sie in dieser Frage zumindest zwiespältige Gefühle hat. Darüber hinaus ist Katharina Tochter – ihr Vater wohnt nur drei Häuser entfernt –, aber ist sie gern Tochter? Ja und nein. Mehr sagt sie dazu erstmal nicht. Sie meint, sie wolle mir zur Einstimmung ein Video zeigen. Was ich zu sehen bekomme, ist eine fast 40 Jahre alte Fernsehreportage über Katharina und andere Kinder im Vorschulalter. Es geht um das Experiment Kinderladen. Auch ihre Eltern, damals Aktivisten in der Berliner Kinderladenszene, kommen ausführlich zu Wort.

Kinder, die alles dürfen

Meine Gesprächspartnerin war vier Jahre alt, als der Film gedreht wurde. Sie kann sich speziell an dieses Ereignis nicht erinnern. Es kamen damals häufig Leute vom Fernsehen, weil ihr Vater gute Kontakte zu Sendern hatte. Der Kinderladen war zwei Jahre zuvor von ihren Eltern, Ulrike und Alf von Thalheim*, zusammen mit anderen Gleichgesinnten eröffnet worden und galt, da er einer der ersten in Berlin war, als pädagogische Sensation. Das Interesse war groß, auch bei der überregionalen Presse. Die Einrichtung für »Kinder, die alles dürfen« – so der Titel eines Zeitungsartikels [182]– löste Beifall und Abscheu aus, vor allem aber Ratlosigkeit. Die Springer-Presse tat nichts, um ihr Entsetzen zu verhehlen. Aber es gab auch durchaus wohlwollende Beiträge. Liest man sie heute, fällt auf: Es fehlte den Autoren damals schlichtweg an Kriterien. Doch wie sollte es auch anders sein? Den Wohlwollenden war klar, dass der bis dahin übliche strenge Erziehungsstil vor allem eingeschüchterte, auf Gehorsam fixierte Bürger hervorgebracht hatte. Nun aber brauchte das Land Demokraten. Was also tun? Inzwischen war mit dem englischen Schulexperiment »Summerhill« eine neue pädagogische Gedankenwelle auf dem Kontinent angelangt. Es waren nur kleine Gruppen, die sich in Westdeutschland und vor allem Westberlin in der Kinderladenbewegung engagierten, aber sie hatten langfristig im Negativen wie im Positiven eine enorme Wirkung.

Der 30-minütige Fernsehbeitrag über Katharinas Kinderladen, den wir uns gemeinsam anschauen, ist als historisches Dokument hochinteressant. Er beginnt, wie nicht anders zu erwarten, mit der Außenansicht eines ehemaligen Ladenlokals. Durch das Schaufenster sieht man tobende Kinder auf Matratzen. Katharina, damals eine Vierjährige, hockt etwas abseits und schaut zu. Sie gehört, wie sich im Laufe des Beitrags zeigen wird, zu der Fraktion der Ruhigen, eine Minderheit. Dann sucht der Reporter die Innenräume auf und sucht gleichzeitig nach Worten, um ein unbeschreibliches Durcheinander zu beschreiben. Er findet sie nicht, was aber auch nicht schlimm ist, denn die Bilder sagen alles. Es sieht aus wie in einem riesigen, unaufgeräumten Kinderzimmer. Die Generation meiner Eltern – in etwa die Generation von Katharinas Großeltern – hätte dazu gesagt: »Es sieht aus wie im Schweinestall«, was in diesem Fall nicht stimmt, denn im Schweinestall ist es dreckig. In den Kinderläden dagegen legte man, soweit ich mich aus meiner Zeit als junge Zeitungsredakteurin erinnere, mehr Wert auf Hygiene als in so mancher Wohngemeinschaft.

»Wenn Leute vom Fernsehen angekündigt wurden«, erinnert [183]sich Katharina, »habe ich mich immer gefreut. Denn die wollten uns nicht nur beim Toben drehen, sondern auch bei einem angeleiteten Spiel. Dann hieß es bei uns im Kinderladen zur Abwechslung mal nicht: Jedes Kind macht, wozu es gerade Lust hat. Sondern: »Heute spielen wir mal alle zusammen ein richtiges Spiel.« Offenbar sollte den Fernsehzuschauern vermittelt werden, es handele sich hier um ganz normale Kinder, die nicht nur Chaos machten, sondern sich auch auf Gemeinsames konzentrieren konnten. Es sollte deutlich gemacht werden: Hier werden den Kinder pädagogisch fundierte Spiele und Werte beigebracht.

Die Kamera zeigt die kleine Katharina in zwei Szenen: wie sie streitende Parteien beschwichtigt und wie sie einem aggressiven Jungen aus dem Weg geht. Für die erwachsene Katharina ist es unmöglich zu sagen, ob ihre Kinderladenerfahrung gut oder schlecht für sie gewesen ist. Warum, fragte sie sich lange Zeit, nahmen ihre Eltern in Kauf, dass ihre drei Kinder schon in frühen Jahren zu gesellschaftlichen Außenseitern wurden? Katharina erfuhr dazu von Mutter und Vater viel über Politik und Pädagogik, aber wenig über ihre persönlichen Beweggründe. »Erst Jahrzehnte später habe ich es dann verstanden«, erzählt sie. »Da gab es eine öffentliche Veranstaltung, ›30 Jahre Kinderläden‹. Auf dem Podium saß die Generation meiner Eltern und berichtete von ihren Erfahrungen. Und da sagte eine Frau, mit deren Tochter ich im Kinderladen war: ›Wir wollten nicht mehr, dass unsere Kinder verprügelt werden, so wie es mit uns geschehen war.« Als Katharina ihren Vater darauf ansprach, bestätigte er den Satz dieser Mutter. Ulrike von Thalheim nannte eine andere Motivation: Es sei für sie die einzige Möglichkeit gewesen, als Mutter von drei kleinen Kindern studieren zu können.

[184]Der Wutanfall eines Zwergs

Laut Konzept der Kinderläden sollten den Kleinen mehr Angebote als Vorschriften gemacht werden. Sie sollten die Regeln ihres Miteinanders möglichst selbst aushandeln. Der Fernsehbeitrag von damals macht deutlich: Die Kinder werden von einer jungen Pädagogin genau beobachtet. Nur gelegentlich greift sie ein. Sie wirkt durchaus versiert, aber im Umgang mit sehr kleinen Kindern fehlt es ihr offensichtlich an Erfahrung. Dem heftigen Wutanfall eines Zwergs von zweieinhalb Jahren begegnet sie mit vernünftigen, erklärenden Argumenten – ohne Erfolg, wie sich denken lässt. Stets ist jemand aus den Reihen der Eltern anwesend. Man macht sich Notizen über bestimmte Kinder und deren Auffälligkeiten, die später bei regelmäßigen Treffen diskutiert werden. Nicht nur Mütter beteiligen sich am Dienst im Kinderladen, auch Väter, die wegen ihrer Bärte älter aussehen als sie tatsächlich sind. In dem Film sieht man einen Mann, der sich von einem Vierjährigen beim Kochen helfen lässt. Der Kleine darf sogar mit einem scharfen Messer Gemüse schneiden. Er macht es ruhig und konzentriert. Von gleicher Qualität ist die Aufmerksamkeit des Mannes für dieses Kind. Solche Väter waren damals eine Sensation.

Katharina von Thalheim schildert noch anderes, wodurch sich ihr Kinderladen von einem Kindergarten unterschied. »Es war sehr willkommen, dass wir Doktorspiele machten. Es war also ein großes Thema, wer mit wem kuschelt, und wer mit wem Doktorspiele macht.« Einmal, erinnert sie sich, sei eine Erzieherin von den Kindern aufgefordert worden, sich selbst auszuziehen. Sie habe es prompt getan und die Kinder ermuntert, sie könnten auch ruhig mal ihre nackte Brust anfassen. »Das kam mir schräg vor«, erinnert sich Katharina, »und ich bin in einen anderen Raum gegangen.«

In dem Fernsehfilm erlebe ich ihre Eltern, als sie jung waren. Ihr Vater ist der Älteste in der Gruppe, und er sieht keineswegs [185]wild aus. Dazu der Kommentar seiner Tochter: »Er arbeitete in einem Verlag, wo Wert auf ein korrektes Äußeres gelegt wurde. Für Vater bedeutete das keine große Anpassung. Ihm waren noch Konventionen wichtig, die andere längst beiseite geschoben hatten.« Obwohl Alf von Thalheim aussieht wie einer, den man damals an der TU Berlin sicherlich als »Spießer« tituliert hätte, ist er in dieser Gruppe der Wortführer. Er spricht routiniert und kontrolliert. Alle anderen in der Runde zeigen mehr Gefühle als er. Der Vater erinnert mehrfach an den »politischen Auftrag« der hier vorgestellten neuen Pädagogik. Was man sich unter einer »sozialistischen Erziehung« vorzustellen hat, wird in dem Fernsehbeitrag nicht erläutert.

Gedreht wurde eines der Treffen, bei dem man sich über das Einzelverhalten bestimmter Kinder austauschte. Warum ist Markus so aggressiv? Klar doch, er hat in den vergangenen zwölf Monaten bei seinen Großeltern gelebt, da ging es streng zu – er wird also noch eine Weile brauchen, bis er sich an die neue Umgebung mit den vielen Freiheiten gewöhnt hat. Katharinas Mutter, ein norddeutscher blonder Frauentyp mit Hornbrille, beteiligt sich ausführlich an der Diskussion, wohl auch deshalb, weil sie Studentin der Pädagogik ist. Warum spielt Cordula nie mit anderen? Ihre Eltern, die direkt darauf angesprochen werden, können sich ihr Verhalten nicht erklären. Wenn das Mädchen zu Hause andere Kinder zu Besuch hat, spielt sie gern mit ihnen. Der Fernsehreporter will es offenbar genau wissen, denn der Film zeigt anschließend eine Szene in Cordulas Kinderzimmer. Die Fünfjährige und eine Gleichaltrige spielen mit Puppen, alles ganz normal. Und so sieht es auch in der Wohnung von Cordulas Eltern aus, ganz normal, sprich aufgeräumt.

Auf feine Manieren wurde im Kinderladen kein Wert gelegt. Die Kleinen durften, wenn sie wollten, mit den Fingern essen. Ganz anders, wenn Katharina mit ihrem Vater in einem Lokal saß. »Ich wollte das Besteck nicht benutzen, und sagte trotzig: [186]›Warum soll ich hier anders essen?‹« Da schärfte der Vater seinen Kindern ein: »Wenn ihr erwachsen seid und einen Tisch in einem Restaurant bestellt und deshalb euer Name fällt, dann müsst ihr euch benehmen. Die Leute erwarten von Adligen, dass sie mit Fischmesser essen können. Das müsst ihr lernen!«

Adlig und antikapitalistisch

Rückblickend stellt Katharina von Thalheim fest, es sei für sie nicht leicht gewesen, mit den Normen des Adels und gleichzeitig mit denen des Antikapitalismus aufzuwachsen. Ein vermeintliches Erfolgserlebnis konnte sich völlig in sein Gegenteil verkehren. Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte ein Mann vom Fernsehen sie auf der Straße angesprochen und mit ihr eine kurze Szene für einen Werbespot gedreht. Am Abend zeigte sie ihrem Vater stolz ihr erstes selbstverdientes Geld, fünf Mark. Der bekam einen furchtbaren Wutanfall: Wie sie, seine Tochter, dazu käme, sich ohne Erlaubnis ihrer Eltern filmen zu lassen, und dann auch noch für Werbezwecke!

Alf und Ulrike von Thalheim, geboren 1939 und 1940, stammten beide aus Ostpreußen, und beide waren sie in adligen, kinderreichen Familien aufgewachsen. Ihre Eltern waren befreundet gewesen. Die Kindheiten von Alf und Ulrike wiesen eine Reihe von Parallelen auf: das sorgenfreie Aufwachsen auf einem Gut. Dann, von heute auf morgen, der Verlust der vertrauten Umgebung. Die plötzliche Armut. Auch eine lange Trennung von den Eltern gehörte dazu. In beiden Familien wurden die Kinder nach der Flucht in den Westen auf Verwandte verteilt. Es hatte geheißen, sie würden dort wie eigene Kinder behandelt. Stattdessen ließ man sie spüren, dass einer Hunger leidenden Verwandtschaft ein Makel anhaftet. Erwartet wurden Dankbarkeit, Gehorsam und gute Schulnoten. Mit zehn Jahren kam Alf in ein Jungen- und Ulrike in ein Mädcheninternat. Katharina [187]erinnert sich, ihre Mutter habe die Schule einmal als »Kinderknast« bezeichnet.

Als Katharinas Eltern Anfang der sechziger Jahre heirateten, studierten sie noch, und sie wählten die CDU. Dann wurden Westberlins Studenten unruhig und auch Alf und Ulrike von Thalheim ließen sich anstecken. An der Universität standen die Zeichen auf Sturm, und nach dem Tod von Benno Ohnesorg sah es in vielen Großstädten der Bundesrepublik ähnlich aus. Alf und Ulrike wurden in ihren Herkunftsfamilien als »Kommunisten« bezeichnet. Das war das Etikett, das man ihnen wegen ihrer aufmüpfigen Ideen anheftete. Plötzlich war das adlige Blut nicht mehr dicker als Wasser. Plötzlich hieß es: Wer sich so benimmt, gehört nicht mehr dazu. Alfs Vater, ein ehemaliger Wehrmachtsoffizier, der die Männer des 20. Julis 1944 noch ein Vierteljahrhundert später »Verräter« nannte, verhielt sich am konsequentesten. Er war zu einem erfolgreichen Manager in der Pharmaindustrie aufgestiegen. Warum, fragte sich Alfs Vater, solle er so dumm sein, seinen Sohn, der ihn als »Klassenfeind« ansah, dafür auch noch finanziell zu belohnen? Also wurde der Sohn enterbt. Die Kontakte von Alf und Ulrike zu ihren Eltern blieben dünn, zeitweise waren sie völlig abgebrochen.

Es wäre für Katharina interessant zu erfahren, ob ihr Vater sich wegen der politischen Gesinnung seines Vaters schämte, und wenn ja, welche Konsequenzen es für ihn hatte. »Jeder will doch auf seine Eltern stolz sein, oder? Ich frage mich, wo der Vater das hin gesteckt hat.« Aber Alf von Thalheim mag es nicht, wenn er das Gefühl hat, jemand wolle sein Innenleben ausforschen. Da weicht er aus, da wird er in seinen Antworten vage. Falls seine Tochter dann noch weiter bohrt, kann er regelrecht aus der Haut fahren. »Das war schon früher so«, erzählt Katharina. »Unsere Eltern hatten den hohen Anspruch: Wir reden über alles! Aber wenn man den Vater ganz direkt etwas Persönliches fragte, ging er in die Luft.«

Sich als Vater von seinen eigenen Kindern in Frage stellen zu [188]lassen, muss für Alf von Thalheim etwas Bedrohliches gehabt haben. Wie seine Tochter ihn schildert, konnte er darauf nicht souverän reagieren, denn er war in patriarchalischen Verhältnissen groß geworden. Man hatte ihm Werte eingetrichtert, die noch aus der Kaiserzeit stammten. Wenn er sich durch seine Kinder provoziert fühlte, reagierte er mit Reflexen, die sich ihm in seiner Kindheit tief eingebrannt hatten.

Die neuen Normen der WG

Wie viele junge Menschen, die sich von der 68er-Bewegung angesprochen fühlten, waren auch Ulrike und Alf von Thalheim nicht nur real als Kinder entwurzelt worden – als junge Erwachsene sahen sie sich plötzlich auch ohne soziale Heimat, denn das Elternhaus war ihnen fremd geworden. Also taten sie sich mit anderen Entwurzelten gleichen Alters zusammen. Man lebte in Wohngemeinschaften, verabredete sich zu Demonstrationen, man las die Schriften von Karl Marx oder ließ es bleiben, man diskutierte lange Nächte, wie es gesellschaftlich weitergehen sollte. Traditionen und Konventionen hatten ausgedient. Man gab sich zur Begrüßung nicht mehr die Hand. Kleine Mädchen mussten keinen Knicks mehr machen. Auch nützliche Höflichkeiten wurden ersatzlos gestrichen: Wer neu in einen Kreis kam, durfte nicht mehr darauf hoffen, von Kumpeln, die schon dazugehörten, den anderen vorgestellt zu werden. Manchmal gingen ein Mann und eine Frau kurz entschlossen miteinander ins Bett und nannten sich erst am nächsten Morgen ihre Vornamen. Aber von dieser Sorte waren Katharinas Eltern nicht. Überhaupt muss man sich die unruhige Jugend von 1968 als kunterbunte Mischung vorstellen, die dem später in Fernsehdokumentationen verbreiteten Klischee in keiner Weise entsprach. Jüngere Menschen, die sich für diese Zeit interessieren, ermitteln bei genauem Nachfragen völlig unterschiedliche[189] Typen – jeder der heutigen APO-Opas stellt sich als »die Ausnahme« dar.

Als bei Katharina, der Ältesten unter drei Geschwistern, der Einschulungstermin näher rückte, fanden ihre Eltern, nun sei der günstige Zeitpunkt gekommen, um irgendwo auf dem Land eine Wohngemeinschaft zu gründen. Es verstrich ein weiteres Jahr, bis sich für acht Erwachsene und drei Kinder das geeignete Mietobjekt fand – ein Bauernhof inmitten eines hessischen Dorfes. Das hatte zur Folge, dass Katharina mit einem Jahr Verspätung in die erste Klasse kam, dann allerdings zusammen mit ihrem 12 Monate jüngeren Bruder. Heute fragt sie sich, wie sie ohne ihn die ersten Schuljahre überstanden hätte. Wenigstens ein vertrautes Gesicht in der Klasse! Wenigstens einer, der begriff, wo sie herkam! Der Kontrast zu den Dorfkindern war unüberbrückbar. Katharina wurde heftig und ausdauernd gemobbt. Man drohte ihr Prügel an. Die Lehrerin behandelte die beiden Außenseiter mit Verachtung und nannte sie vor der ganzen Klasse »Zigeunerkinder«.

Katharina erfuhr als Kind alle Nachteile und keinen einzigen Vorteil eines Dorflebens. Sie fühlte sich ständig unter Kontrolle und war doch ohne Schutz. »Hübsch war der Ort«, berichtet sie, »sogar malerisch mit seinen Fachwerkhäusern, aber es handelte sich um das spießigste Dorf, das man sich vorstellen kann. Im zweiten Schuljahr war ich dann völlig verstört. Ich konnte nichts lernen. Ich besuchte dann eine Reformschule in Frankfurt.«

Der Bruch zu ihrem früheren Leben in Berlin hätte für Katharina schlimmer nicht sein können. Sie war entwurzelt worden, und zwar ziemlich genau im gleichen Alter wie ihre Eltern, die als Flüchtlingskinder Ostpreußen hatten verlassen müssen. Im Unterschied zu ihnen erlebte Katharina allerdings keine Trennung von Mutter und Vater. Obwohl deren Ehe scheiterte und Ulrike von Thalheim fortan in der WG mit ihrem neuen Freund ein Zimmer teilte, zog Vater Alf nicht aus. Er wollte weiterhin mit seinen Kindern zusammenwohnen. Er arbeitete in [190]einem kleinen linken Verlag in Frankfurt, blieb aber seinem bürgerlichen Outfit weitgehend treu, bis auf seinen Bart, dem er nun mehr Volumen gönnte, so dass er aussah wie ein Urenkel vom alten »Charly Marx«. In der antiautoritären Frankfurter Pädagogenszene, wo er sich weiterhin für Kinderläden einsetzte, auch wenn seine eigenen Kinder ihnen inzwischen entwachsen waren, hatte er einen Ruf wie Donnerhall. Seine Dorf-WG, dreißig Kilometer entfernt, entwickelte sich zu einem Treffpunkt für Gleichgesinnte. »Vater war eine Polit-Autorität. Er genoss ein hohes Ansehen in der Szene«, erklärt Katharina.

Eine Pubertät unter Beobachtung

Während ihrer Pubertät habe sie sich sehr unter Beobachtung gefühlt, berichtet sie weiter. Offenbar hielten es die Erwachsenen für ihre Pflicht, hilfreich zu sein, wenn bei einem jungen Menschen plötzlich die Hormone verrückt spielten. Vielleicht, mutmaßt Katharina, hätten sie selbst nicht pubertieren dürfen, oder sie hätten sich damals gern mehr Aufmerksamkeit von ihren Eltern gewünscht. »Die Erwachsenen sind in mich eingedrungen, sie wussten immer alles von mir. Schrecklich fand ich das! Wenn ich mich schützen wollte, musste ich allein in den Wald gehen.«

Andererseits brach für Katharina eine gute Zeit an, denn auch die Dorfkinder, mit denen sie eingeschult worden war, kamen in die Pubertät und damit drehte sich der Wind um 180 Grad. Nun wurden die verachteten und beschimpften Außenseiter um ihr bizarres Zuhause beneidet. In der Wohngemeinschaft war immer etwas los, es kam ständig Besuch, es gab laute Rockmusik, es wurde viel gefeiert. »Wir wurden von den Dorfjugendlichen richtig bewundert«, berichtet Katharina. Da war Michaela, ihre Freundin, die furchtbar unter der Enge ihres Elternhauses litt, wo mittags um Punkt zwölf das Essen auf den Tisch kam. »Bei Michaela war es immer ordentlich. Sie durfte eigentlich nicht mit [191]mir spielen, na ja, irgendwann konnten die Eltern Michaela nicht mehr bremsen.« Die Dorfjugendlichen gingen in der WG ein und aus, und Katharina wurde in ihre Mofagang aufgenommen.

»Plötzlich galten unsere Eltern als cool«, erinnert sie sich. An dieser Stelle unseres Gesprächs geht sie näher auf ihr Verhältnis zu ihren geschiedenen Eltern ein. Beide sind längst mit anderen Partnern zusammen. Nach dem Mauerfall zog der Vater wieder nach Berlin, die Mutter lebt auf dem Land, im Spessart. Während ich Katharina zuhöre, bedauere ich wieder einmal, dass ich die Version ihrer Eltern nicht kenne. Wenn eine Familie fünf Mitglieder hat, dann ergeben sich fünf verschiedene Familiengeschichten. Jede Person hat ihre eigene Sichtweise. Alf von Thalheim muss, wie Katharina ihn beschreibt, ein warmherziger aber auch gefürchteter Vater gewesen sein. Die Mutter mied den Körperkontakt zu ihren Kindern, es sei denn, sie mussten gewaschen oder umgezogen werden.

In dem Maße, wie die Tochter selbständiger wurde und ihre eigenen Gedanken entwickelte, wuchsen die Spannungen zwischen ihr und ihrem Vater. »Von meinem 12. bis zum 30. Lebensjahr habe ich ihn regelrecht gehasst«, sagt sie. »Umso enger wurde die Beziehung zu meiner Mutter – heute würde ich sagen, es war eine Abhängigkeit.« Ulrike von Thalheim hatte kaum Freundinnen. Die Tochter war die Vertraute ihrer Mutter, und das empfand die Jugendliche überwiegend als Auszeichnung. »Allerdings war es mir furchtbar unangenehm, wenn Mutter mit mir über Sexualität redete.«

Das Amerika-Desaster

Nachdem Katharina die zehnte Klasse abgeschlossen hatte, verbrachte sie ein Auslandsjahr bei Verwandten in den USA. Es sollte ein Jahr des großen Aufbruchs werden, tatsächlich war es ein Desaster. Ihre Tante in Amerika erwies sich als schwer de [192]pressiv, und der Onkel stellte seiner hübschen jungen Nichte nach. Wenn sie mit ihm allein im Haus war, schloss sie sich in ihr Zimmer ein. Grundsätzlich änderte das nichts, denn er blieb zudringlich, er nutzte jede Gelegenheit, um sie wie zufällig zu betatschen. Katharina erwog, vorzeitig nach Deutschland zurückzukehren, wusste aber nicht, ob sie Recht damit hatte, wenn sie ihre Lage als dramatisch ansah. Sie traute sich nicht, ihren Eltern zu schreiben, wie hilflos sie sich im Haus von Onkel und Tante fühlte.

Ihre große Angst war, man werde ihr zwar glauben, aber nichts unternehmen – eine Angst, die sich dann nach ihrer Heimkehr bestätigte. Zwar hörten sich die Eltern an, was vorgefallen war, doch es folgten keine Konsequenzen. »Meine Eltern wollten keinen Krach mit der Verwandtschaft riskieren«, urteilt Katharina rückblickend. »Also ließen sie die Sache auf sich beruhen.« Dennoch ergab sich ein ungutes Nachspiel. Katharina hatte, während sie sich in den USA aufhielt, einer Freundin in Deutschland über die sexuellen Belästigungen ihres Onkels geschrieben. Später zweifelte sie wieder an ihrer eigenen Wahrnehmung und schickte den Brief nicht ab. Und nicht nur das: Sie vergaß, ihn mitzunehmen, als sie die Heimreise antrat. Die amerikanische Tante fand den Brief und erzählte danach in der ganzen Verwandtschaft herum, wie undankbar und verlogen ihre Nichte sei. Alf und Ulrike Thalheim nahmen ihre Tochter nicht in Schutz. Sie schwiegen. Wenn sie die amerikanische Verwandtschaft auf Familienfesten trafen, wurde so getan, als sei nichts geschehen. Katharina, in deren Familie so viel vom Wert der Solidarität die Rede gewesen war, fühlte sich von ihren Eltern verraten. Ihre Schulleistungen ließen rapide nach. »Aber ich will mich hier nicht ausschließlich als Opfer darstellen«, räumt sie ein. »Meine Eltern haben von meiner Seite auch viel einstecken müssen. Meine Wutanfälle waren berüchtigt. Na ja, und auch heute nerve ich meine Geschwister durch meine Art und weil ich so oft weinen muss.«

[193]Als Katharina erkannte, sie würde das Abitur nicht schaffen, ging sie vorzeitig von der Schule ab. Sie begann eine Goldschmiede-Lehre, brach sie nach einem halben Jahr ab, fand eine neue Lehrstelle, scheiterte auch hier. Es war der Anfang ihrer »Angstpanik«, die sie zu Beginn unseres Gesprächs geschildert hatte. Danach besuchte sie eine Fachschule für Glasdesign und musste dort fast jedes Semester wiederholen. Immerhin gelang ihr ein ordentlicher Abschluss, doch der brachte sie beruflich nicht weiter. Wegen ihrer inzwischen chronisch gewordenen Ängste kam sie mit keinem Chef mehr zurecht. In den folgenden Jahren verdiente sie sich ihren Unterhalt mit irgendwelchen Jobs, gelegentlich auch in mediterranen Touristenorten.

Mit 23 Jahren zog sie wieder nach Berlin und machte ihre erste Psychotherapie. »Inzwischen bin ich bei der dritten Therapeutin gelandet«, erzählt sie. »Noch immer bin ich dabei, ein Knäuel zu entwirren. Ich hangele mich schon so lange am roten Faden meiner Geschichte und meiner Familiengeschichte weiter, erstaunt, dass ich immer noch nicht am Ende bin. Aber«, fügt sie hinzu, »vielleicht ist das nur eine Illusion. Vielleicht kommt man ja nie an ein Ende.« Ihre Mutter und ihr Vater kämen nicht auf den Gedanken, eine Therapie zu machen. Sie verstehen nicht, warum Katharina weiterhin »in den alten Geschichten wühlt«. Katharina hört aber nicht auf damit, sie kann es nicht. Sie wäre gern souveräner, sie leidet, weil sie so oft in Tränen ausbricht, wenn man ihr wieder einmal die Rolle der Spielverderberin bei netten Familienzusammenkünften vorwirft. »Seit mein Kind da ist – das einzige Enkelkind meiner Eltern – funktionieren einige Verhaltensmuster in der Familie nicht mehr so gut«, stellt sie fest. »Was mir dabei das Wichtigste ist: Als Judith auf die Welt kam, habe ich ihr versprochen, dass ich alles versuchen werden, damit sich das Unglück meiner Familie bei ihr nicht wiederholt.« Welches Unglück? Katharina macht ein nachdenkliches Gesicht. Dann räumt sie ein, sie stehe mit ihrer Sichtweise allein da.

[194]Zwei Jahre ohne Kontakt zur Mutter

Ihre Geschwister, sagt sie, seien der Ansicht, diese Familie sei nicht besser oder schlechter als andere auch. Lange Zeit ließ sich Katharina davon verunsichern. »Aber als dann Judith ein paar Monate alt war und ich sah, wie meine Mutter meine Tochter wie einen Sack über die Schulter warf, da wusste ich: Das hat sie mit uns genauso gemacht!« In der Folge wurden die Spannungen zwischen Katharina und Ulrike von Talheim immer größer. Schließlich unterbrach die Tochter den Kontakt und nahm ihn erst zwei Jahre später wieder auf. So lange, sagt Katharina, habe sie gebraucht, um ihre Beziehung zu ihrer Mutter zu klären. Sie schrieb ihr einen Brief mit der zentralen Frage: »Warum konntest du uns, als wir klein waren, nicht in den Arm nehmen?«

Die Funkstille von Seiten ihrer Tochter und der Verlust ihres Enkelkindes stürzte Ulrike von Thalheim in eine Krise – eine heilsame Krise, wie sich später herausstellte. Wie es schon öfter geschehen war, suchte sie das Gespräch mit ihrer Schwester, um sich mit ihren Fluchterlebnissen als Kind auseinanderzusetzen. Nach und nach füllten die beiden Kriegskinder ihre Erinnerungslücken wieder auf. Eines Tages riss der Vorhang, der Ulrikes Trauma verdeckt hatte: Sie war 1944 als kleines Mädchen von Soldaten vergewaltigt worden.

Mutter und Tochter haben sich ausgesprochen. Inzwischen besucht Judith wieder die Oma auf dem Lande. »Die Beziehung zu meiner Mutter ist okay«, sagte Katharina »Sie hat mir auch gesagt, wie leid es ihr tut, so viel Belastendes an mich weitergegeben zu haben.« Für Katharina ist es, wenn es um Fragen ihrer eigenen Identität geht, wichtig, sich als Kriegsenkel zu sehen. Sie interessiert sich nicht nur für die Vergangenheit ihrer Eltern, sondern auch für die ihres Landes. Bis vor wenigen Jahren wollte sie von der deutschen NS-Geschichte nichts hören. »Wir Kinderladenkinder schämen uns ein bisschen, weil wir so unpolitisch [195]sind«, räumt sie ein. »Aber wir haben alle komplett dicht gemacht. Wir hatten ja nicht nur 68er-Eltern, sondern auch 68er-Lehrer. Also gab es Nonstop die NS-Zeit. Uns quollen die Fakten aus den Ohren raus. Wären sie mit uns doch einmal in ein Konzentrationslager gegangen! Ich glaube, danach wäre der Stoff bei uns ganz anders gelandet. So aber blieb es abstrakt und weit, weit weg. Unsere Lehrer waren wie unsere Eltern – die konnten ja selber nicht nach Auschwitz gehen!«

Wir unterbrechen das Gespräch, weil es Zeit ist für das Mittagessen. Katharina schlägt vor, eine Pizzeria in der Nachbarschaft aufzusuchen. Sie wohnt, wie auch ihr Vater und ihre Geschwister, im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Schon auf dem Weg von der S-Bahn-Station zu Katharinas Wohnung ist mir aufgefallen, dass hier die Graffitis explodiert sind. Keine Fassade, kein Mäuerchen, kein Stromkasten, kein Busfahrplan wurde verschont. Katharina steuert auf einen parkenden Wagen zu und ruft entsetzt: »Das kann doch nicht wahr sein!« Ein Sprayer ist mit rotem Lack über die Autotür hergefallen – ausgerechnet der Wagen ihres Vaters. Die Tochter schellt an seiner Haustür. Alf von Thalheim, ein 70-Jähriger, Typ Gentleman mit einem gepflegten Bart, kommt auf die Straße. Er begrüßt mich freundlich. Dann erst wendet er sich dem Schaden an seinem Auto zu. Oberflächlich wirkt er gelassen, doch sein Gesicht zeigt verkrampfte Backenmuskeln. Aus fast zusammengepressten Lippen kommt nur ein einziger Satz: »So ist das eben mit der Kunst.«

Später gibt mir Katharina zu verstehen, diese Szene sei typisch für ihren Vater. Als sie Kind war, sei er häufig unberechenbar wütend geworden. Heute denke sie gelegentlich: Warum explodiert er nicht? Das wäre ihr fast lieber als der scheinbar ruhige Tonfall, der seine Aggressionen verdecken soll. Katharina weiß, sie sollte sich keine Sorgen um ihn machen, aber sie spürt so vieles, was ihn belastet. »Seit ich denken kann, ist das so«, erzählt sie. »Es ist verdreht, aber da ist dieses Gefühl in mir, [196]ich sei für sein Wohlergehen verantwortlich.« Sie hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass sich ihre Abhängigkeit eines Tages auflösen und sich in der Beziehung zu ihrem Vater noch etwas ändern wird. Von seiner Seite wünscht sie sich weniger Fassade und mehr Einfühlungsvermögen, mehr Offenheit. Eine gute Freundin, sagt sie, berichte Ähnliches von ihrem Vater, nur scheine der inzwischen schon einen Schritt weiter zu sein, denn kürzlich habe er zu seiner Tochter gesagt: »Ich kann mich nicht in dich einfühlen, denn ich kann mich noch nicht mal in mich selber einfühlen.«

Katharinas Fazit: Ihre Mutter und ihr Vater haben, so gut sie es konnten, versucht, aus ihrer Geschichte auszusteigen. Es ist ihnen nur teilweise gelungen. Nun muss sie schauen, was sie selbst aus dieser Erkenntnis macht. Sie will ihr Leben endlich ohne Angst leben.

Für den Münchner Psychoanalytiker und Schriftsteller Wolfgang Schmidbauer ist eine Geschichte wie die von Katharina von Thalheim kein Einzelfall. Über die Generation der 68er sagte er in einem Interview: »Sie hatten Zivilcourage, trauten sich alles Mögliche zu und kannten wenige Ängste.« Ganz anders sieht es seiner Ansicht nach eine Generation drunter aus: »Die heute 25- bis 40-Jährigen, zeichnen sich wieder durch vielfache Ängste aus.« Warum das so ist, dazu gab Schmidbauer eine längere Analyse ab:

Die 68er hatten ja selten ein gutes Verhältnis zu ihren eigenen Müttern und Vätern, weil diese sich dem Nationalsozialismus meist stillschweigend gefügt und einige ihn sogar unterstützt haben. Entsprechend fehlten vielen 68ern auch die Halt gebenden Strukturen der Familie. Deshalb haben sie oft ihre Paarbeziehungen emotional überfordert – und auch die Beziehung zu ihren eigenen Kindern. Manche haben zum Beispiel ihrem 10-jährigen Sohn haarklein alles über ihre sexuellen Probleme erzählt. Und die kommen[197] dann heute als erwachsene Männer in meine Praxis und beklagen sich, dass sie sich an keine Frau rantrauen. Dazu kommt noch ein anderes Problem: Während die 68er wenigstens bei ihren Großeltern Halt finden konnten, gilt das für ihre Kinder heute kaum. Deren Omas und Opas sind ja die Eltern der 68er – und die waren oft entweder selbst durch den Zweiten Weltkrieg traumatisiert oder sie waren wegen des mangelnden Widerstands gegen den Nationalsozialismus in der Familie gänzlich unerwünscht.18

Ich habe meine Kindheit genossen

Zu Beginn dieses Kapitels wurde darauf hingewiesen, wie bunt die Mischung war, aus der sich die 68er-Bewegung zusammensetzte. Doch ging ich davon aus, zumindest bei den Kinderladen-Eltern mehr Ähnlichkeiten als Unterschiede festzustellen. Was mir dann Corinna Schneider* über Mutter, Vater und ihre frühe Kindheit erzählte, hörte sich völlig anders an als die Schilderungen von Katharina von Thalheim. Das Wichtigste zuerst: Die Biologin, verheiratet, Mutter zweier Kinder, 1968 geboren, versteht sich ausgesprochen gut mit ihren Eltern, und an ihre Kinderladenzeit denkt sie gern zurück. Sie sagt: »Es waren schöne Jahre. Ich habe meine Kindheit genossen und genieße heute das gute Verhältnis, dass ich zu meinen Eltern habe.« Sie spricht nicht nur mit Liebe über Mutter und Vater, sondern auch über ihre beiden Großmütter. Diese hatten je sechs Kinder aufgezogen, fast ohne Beistand ihrer Männer, die beide erst sehr spät und gesundheitlich stark beeinträchtigt aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt waren.

Corinna Schneider schickt voraus: »Was Mutter und Vater kennzeichnet, ist, dass sie beide praktisch vaterlos aufwuchsen«. Als APO-Eltern sei ihnen in der Erziehung die Präsenz der Väter sehr wichtig gewesen. Das Verhältnis 50 zu 50 sei zwar [198]selten erreicht worden, aber im Vergleich zur vorherigen Generation hätten sich die Väter sensationell viel an den Familienaufgaben beteiligt. Corinna Schneider und ich hatten uns in der Wohnung ihrer Eltern in Berlin verabredet. Der Vater befand sich bei meiner Ankunft in einem der hinteren Zimmer und versorgte Corinnas acht Monate alten Sohn. Nachdem auch der Vater mich begrüßt hatte, setzte er den Kleinen in den Kinderwagen und fragte seine vierjährige Enkeltochter, ob sie Lust habe, ihn beim Einkaufen zu begleiten, und das hatte sie.

Corinna Schneider und ich sind bei unserem Gespräch ungestört. Es fällt mir auf, wie gut sie sich in den Familien ihrer Eltern auskennt und wie reflektiert sie die 68er Bewegung in größere politische und historische Zusammenhänge einordnet. Ihr Vater war als Student Mitglied einer Berliner Kommune gewesen. Seine Tochter glaubt nicht, dass es sich um eine jener Altbauwohnungen gehandelt habe, deren Türen man aushängte, weil ein ungestörter Rückzug ins Private ideologisch unerwünscht war. Vielmehr, erklärt mir die APO-Tochter, bewundere sie den Umgang mit Geld, der damals dort praktiziert wurde, immerhin über eine Reihe von Jahren. Auch sie habe als Studentin in WGs gelebt, sie wisse also, wie das übliche Zusammenleben unter Gleichaltrigen funktioniere. Außerdem habe sie sich früher während ihrer freiwilligen Mitarbeit in einem europäischen Umweltnetzwerk mit alternativen Lebensformen auseinandergesetzt und dabei die Werte in der Kommune ihres Vaters besonders schätzen gelernt. Kaum sonst irgendwo wurde der Kerngedanke »Alle sind gleich« so konsequent umgesetzt. Alle teilten alles Geld mit allen. Corinna Schneider glaubt allerdings, dass die Rechnung emotional nicht ganz aufging. »Diejenigen, die etwas zu geben hatten, fühlten sich gut. Aber diejenigen, die nehmen mussten, denen ging es nicht gut damit. Von meinem Vater weiß ich, er hatte trotzdem immer ein schlechtes Gewissen, weil er so wenig Geld besaß.«

Der Kinderladen war von ihren Eltern und Freunden gegründet [199]worden, die es von Berlin in eine süddeutsche Universitätsstadt verschlagen hatte. Die Einrichtung befand sich auf dem Universitätsgelände. Während meine Gesprächspartnerin von ihren frühen Erinnerungen erzählt, gerät sie regelrecht ins Schwärmen: »Es gab dort so viel Freigelände. Da war ein Wäldchen, wo wir auf die Bäume klettern konnten. Wir durften uns dreckig machen, wir durften im Sommer nackig herumrennen und uns von Kopf bis Fuß bemoddern.« Kinder lieben das Spiel mit Matsch. Corinna Schneider sagt, auch für sie als Mutter bestätige sich, wenn ihre Kinder vom Spielen heimkämen, der Satz: Dreckige Kinder sind glückliche Kinder. Dass dies in den heute üblichen Kindergarten-Settings nicht möglich sei, bedauert sie sehr. Aber, fragt sie rhetorisch, wie sollte es anders sein? »Wenn eine Erzieherin auf 14 Kinder aufpassen muss, ist klar, dass nicht drei auf Bäume klettern dürfen, während fünf auf der anderen Hausseite moddern. Meine Tochter besucht einen ganz normalen Dorfkindergarten hier in der Nähe von Berlin. Da entschuldigen sich die Erzieherinnen beinahe, wenn die Kinder sich dreckig gemacht haben. Da hatten wir es damals besser! Da war immer ein Erwachsener in der Nähe, der ein Handtuch holte, wenn nötig auch ein Kind unter die Dusche stellte oder Streit schlichtete.«

Einmal in der Woche war »Schweinetag«. In der Küche hing dann ein Pappschild mit einem rosa Schwein. »Wir wussten: Heute dürfen wir mit den Händen essen. Es gab kein Besteck«, berichtet das frühere Kinderladenkind. »Mein Vater sang für uns damals das Lied: Gabel, Löffel, Messer, mit Fingern geht es besser! Wenn aber das Pappschild umgedreht wurde, erschien ein graues Schwein, was besagte: Es wird ordentlich gegessen.«

Es sei den Eltern wichtig gewesen, erfahre ich weiter, dass die von ihnen gegründete Einrichtung nicht ausschließlich von Akademiker-Kindern besucht wurde. Natürlich habe die Zusammensetzung keinen repräsentativen Querschnitt ergeben. Aber das Leben sei noch etwas bunter geworden, als Ahmed[200] dazugekommen sei, ein türkischer Junge, der vor allem deshalb in Erinnerung blieb, weil er Goldfische aus dem Aquarium herausfischte und daneben legte. Eines der Mädchen kam aus einer nahe gelegenen Hochhaussiedlung. Corinna war als Kind fasziniert davon, dass man so hoch wohnen konnte.

»Von dieser antiautoritären Erziehung ist mir vor allem im Bewusstsein geblieben: Es gab kein unbegründetes Nein«, berichtet sie. »Heute mit zwei eigenen Kindern muss ich sagen: Hut ab. Die Geduld muss man erst mal aufbringen! Ich erinnere mich an Situationen – da muss ich 6 oder 7 gewesen sein – dass ich meinen Willen bekam, weil ich die besseren Argumente oder doch zumindest gute Argumente hatte. Sehr erstaunlich, als Kind so ernst genommen zu werden.«

Als sie älter wurde, ging ihr das ständige Aushandeln manchmal auf die Nerven. Sie erinnert sich, wie sie zu ihrer Mutter sagte: »Könntest du wenigstens einmal einfach nur Nein sagen!« Da war sie 16 Jahre alt und hatte keine Lust mehr, eine halbe Stunde zu diskutieren. Sie glaubte, es müsse leichter sein, sich über ein Verbot hinwegzusetzen und nachher den Ärger der Mutter auszuhalten. »Aber insgesamt war ich sehr froh über diesen Erziehungsstil. Und ich glaube, er hat uns zu sehr verantwortungsvollen Menschen gemacht.« Sie erzählt, sie sei später als Gymnasiastin selbst dann, wenn sie morgens Bauchweh hatte und ihre Mutter vorschlug: »Leg dich doch wieder hin«, in die Schule gegangen, weil sie nichts verpassen wollte.

Corinna und ihre kleinere Schwester sind, wie man es von Kinderladenkindern weiß, gewaltfrei erzogen worden. »Uns war bewusst, dass die Eltern auf Schläge verzichten«, erzählt sie. »Meine Schwester hat einmal meinen Vater bewusst bis aufs Blut provoziert. Der stand mit geballten Fäusten da, behielt aber die Kontrolle. Meine Schwester, damals vier Jahre alt, sagte: ›Jetzt würdest mich gern hauen. Aber du darfst ja nicht!‹ Da mussten wir alle lachen.«

Ich frage Corinna Schneider, was sie über die Erziehung ihrer [201]Eltern wisse. »Ich habe meine beiden Großmütter danach gefragt«, antwortet sie. »Sie waren viel strenger. Es gab keine Diskussionen, nur Anweisungen. Manchmal war man mit der Kraft am Ende. Es wurde geschrieen und auch mal eine Ohrfeige verteilt. Es ist ihnen gelegentlich die Hand ausgerutscht, und es kam vor, dass die Väter ihre Kinder prügelten«. Beide Großmütter bedauerten in Gesprächen mit ihrer Enkeltochter sehr, so wenig Zeit für die Kinder gehabt zu haben. Sie holten es dann mit ihren Enkelkindern nach. Corinna Schneider fragt sich, wie die beiden Mütter damals, jede mit sechs Kindern, ohne Waschmaschine, ohne Spülmaschine, überhaupt noch Schlaf gekriegt hätten.

In den ersten Nachkriegsjahren, in denen Corinnas Eltern aufwuchsen, herrschte große Not. »Es musste geteilt werden, es musste alles eingeteilt werden«, weiß ihre Tochter. »Die ersten Weintrauben wurden mit der Briefwaage ausgewogen, damit es gerecht zuging. Aber ich bin mir sicher, dass meine Eltern relativ unbeschadet durch diese schwere Zeit gekommen sind, weil sie die Liebe ihrer Mütter hatten. Das hat die Kinder über vieles hinweggerettet, über traumatische Erlebnisse und über große Entbehrungen.«

Zwei Wunder

Die Mutter von Corinnas Mutter war mit ihrer Kinderschar aus Pommern geflüchtet. Ihr Überleben verdankte sie zwei Erlebnissen, die man nicht anders als ein Wunder bezeichnen kann. Tief unten im Rucksack trug sie eine Pistole mit sich, geladen mit sieben Schuss, falls die Situation ausweglos würde: sechs Schuss für die sechs Kinder, ein Schuss für sie selbst. Ein russischer Soldat durchsuchte den Rucksack, er griff aber nicht tief genug. Wäre die Pistole aufgetaucht, hätte die Frau nicht mehr lange gelebt. Bei der nächsten Gelegenheit versenkte sie die [202]Waffe in einem Gewässer. Das zweite Wunder ereignete sich am Tag vor der Zerstörung von Dresden. Die Mutter der sechs Kinder hatte Verwandte in der Innenstadt gefragt, ob sie sich mit ihren Kindern dort ein paar Tage ausruhen dürfe. Doch die Unterkunft wurde verweigert. Beim Luftangriff wurde das Haus getroffen – die Familie hätte nicht überlebt! »Großmutter hat immer wieder betont, wie dankbar sie sei, dass ihnen auf der Flucht nichts Schlimmes passiert sei«, berichtet die Enkeltochter. »Keine Vergewaltigung, kein Kind gestorben.«

Corinna Schneider wurde dazu erzogen, dass man Lebensmittel isst, bevor sie verderben. Dass man kein frisches Brot anschneidet, solange vom alten noch ein Kanten übrig ist. »Mutter und Vater haben uns klar gemacht, Lebensmittel sind mehr wert als das Geld, das man dafür im Supermarkt bezahlt. Damit darf man nicht achtlos umgehen. Sie vermittelten uns, wie viel Arbeit in unseren Nahrungsmitteln steckt«, erzählt sie. »Sie haben uns Kindern auch beigebracht, wie gut frischer Salat und frisches Gemüse ist.« Das alles gibt Corinna Schneider heute an ihre Kinder weiter. Dafür sei sie ihren Eltern dankbar, sagt sie. Ihre Tochter sei die einzige in ihrer Kindergartengruppe, die gern Salat isst. Das mache sie als Mutter ein bisschen stolz, auch weil sich damit das Wertesystem ihrer eigenen Erziehung fortsetze. Und sie fügt hinzu: »Bei meinen eigenen Kindern mache ich heute vieles intuitiv oder auch bewusst sehr ähnlich, wie ich es selbst erlebt habe.« Und damit beendet Corinna Schneider ihren Bericht – mit einem Kompliment für ihre Eltern.