[161]Ein empörter Brief

Anja Freisecke* nahm Kontakt mit mir auf, nachdem sie mein Buch »Die Deutsche Krankheit – German Angst« gelesen hatte. Darin hatte ich mich mit den gesellschaftlichen Folgen der langen Schatten von NS-Zeit und Krieg auseinandergesetzt. Sie schrieb, sie sei ein Kriegsenkel, sie beobachte die Generation der Kriegskinder schon seit geraumer Zeit und habe ihre Schlüsse daraus gezogen. Ob ich an einem Bericht interessiert sei? Anja Freisecke weckte mein Interesse, weil ihr Brief nicht nur ein bisschen melancholisch klang, sondern weil sie stellenweise auch ihrer Empörung Luft machte. Sie kritisierte die Kriegskinder heftig – ein Tonfall, den ich von anderen Kriegsenkeln nicht gewohnt war. Hier ist ihr von mir leicht redigierter Bericht.

icon Auf meinem täglichen Schulweg mit dem Linienbus durch die Bochumer Vorstadtgebiete begleiteten mich in meiner Jugend Anfang der 80er Jahre zwei grundlegende Gefühle: Irgendetwas stimmt hier in dieser Umgebung nicht. Und: ein schmerzhaftes Trauergefühl, besonders älteren Menschen gegenüber. Beide Gefühle konnte ich nicht erklären, nicht erfassen. Ich wusste nur, sie waren stark und unangenehm. Hinzu kam ein ebenso erdrückendes Gefühl bei mir zu Hause. Es hat mich noch begleitet, als ich schon längst ausgezogen war: ein schlechtes Gewissen und Schuldgefühle meinen Eltern gegenüber. Oft hatte ich die Empfindung, ich sei ›undankbar‹ und keine ›gute Tochter‹.

Geboren wurde ich 1969 in Koblenz als Jüngstes von drei Kindern. Ende der 70er Jahre sind wir nach Bochum umgezogen, [162]wo ich meine Jugendzeit verbrachte. Ich bin die Tochter eines Flüchtlingskindes. Meine Großeltern mütterlicherseits lebten als einfache ›deutschstämmige‹ Bauern in Polen und hatten mit den Nazis nichts am Hut. Als mein Opa ein Angebot der Nazis, Bezirksleiter zu werden, ablehnte, wurde er kurze Zeit später an die Kriegsfront nach Russland abkommandiert. Nach einer kurzen Zeit der Kriegsgefangenschaft schlug er sich zu seiner Familie in Zentralpolen durch, die er dann über die schon abgeriegelte Grenze nach Westdeutschland führte. Meine Mutter war damals zehn Jahre alt. Die Familie siedelte sich nach der Flucht in Niedersachsen an.

Über meine Familie väterlicherseits weiß ich heute, dass meine Großeltern überzeugte Nationalsozialisten waren. Sie glaubten an die Ziele der Nazis und befürworteten die dem System zugrunde liegenden Ideen. Beide waren in der NSDAP. Mein Opa wurde nach einer Denunzierung unehrenhaft aus der Partei ausgeschlossen, kam ins Gefängnis und wurde nach dem Krieg noch einmal sieben Jahre in dem ehemaligen KZ Buchenwald und im DDR-Gefängnis Waldheim inhaftiert, weil er nun von Nachbarn als Nazi denunziert worden war. Als er 1952 entlassen wurde, kehrte er zu meiner Oma und meinem Vater zurück, die mittlerweile in Bochum lebten. Über die ganze Geschichte wurde in der Familie nicht geredet. Mein Vater nahm dieses Schweigen schließlich mit in den Tod. 1937 geboren, verstarb er Ende der 90er Jahre an Krebs.

Die Geschichte meiner Großeltern und Eltern führe ich an, weil deren Kriegs- und Nachkriegserfahrungen meine persönliche Entwicklung direkt beeinflussten. Meine Kindheit und Jugend wurde grundlegend durch unverarbeitete Kriegserlebnisse geprägt. Damit stehe ich nicht allein da. Meiner Meinung nach gibt es zwischen meiner Generation und der Elterngeneration einen gravierenden Generationskonflikt. Dieser Konflikt, der sich abgeschirmt in den Familien abspielt, wird in der Öffentlichkeit nicht thematisiert, beziehungsweise ist er noch [163]nicht als Konflikt erkannt worden. Mit diesem Bericht versuche ich, aus einzelnen mosaikartigen Erfahrungen meine Sichtweise auf diesen unterschwelligen Generationskonflikt wiederzugeben.

In meiner Kindheit, die von Krankheiten überschattet war, fühlte ich mich überwiegend einsam, unsicher und nicht am rechten Platz. Es gab kein Gefühl von Geborgenheit. Als ich klein war, wollte ich immer weg von zu Hause. Wenn ich dann bei einer Freundin übernachten wollte, überkam mich solch ein schmerzhaftes Heimweh, dass meine Eltern mich häufig nachts abholen mussten.

Sehr oft gab es wegen des Mittagessens erbarmungslose Streitereien mit meiner Mutter. Wenn ich nicht mehr essen konnte, blieb meine Mutter stur: »Du stehst nicht eher auf, bevor Du nicht Deine Portion aufgegessen hast!« Während meine beiden Geschwister schon längst weg waren und meine Mutter die Küche sauber machte, saß ich, im Inneren erstarrt, vor dem halbleeren Teller. Irgendwann kam es dann meistens zu dem halbherzigen Kompromiss, dass ich drei Bissen essen sollte, was ich dann tat und zerknirscht und mit einem unguten Gefühl den Mittagstisch verließ.

Mutter war furchtbar verklemmt

Meine Pubertät war geprägt vom Rückzug von meinen Eltern. Als ich 12 Jahre alt war, nahm meine Mutter das Erlebnis, dass ich mit zwei Schulfreundinnen von einem Exhibitionisten angesprochen wurde, zum Anlass, mich über männliche Bedürfnisse aufzuklären. Sie war furchtbar verklemmt. Das wollte ich nicht ein zweites Mal erleben, so dass ich danach alle wichtigen Gefühls- und Aufklärungsfragen mit meiner älteren Schwester abhandelte, die für lange Zeit eine verständnisvolle und solidarische Freundin wurde. Meine Pubertätsgefühle und Erfahrungen [164]mit Jungen sprach ich in Gegenwart meiner Eltern nicht mehr an. Nur ein einziges Mal habe ich einen Teenager-Freund mit nach Hause gebracht. Ich erinnere mich an eine völlig verkrampfte Atmosphäre und an peinliches Schweigen beim Abendbrot. Manchmal stellte meine Mutter Fragen, die ungefähr so lauteten: »Sie« – er war 16 Jahre alt – »machen also eine Ausbildung als Elektriker?« Danach verzichtete ich auf weitere Vorstellungen meiner Freunde.

Wenn mein Vater, der tagsüber arbeitete und dadurch auch der alltäglichen Erziehung auswich, abends nach Hause kam, trug er eine entspannte und geistvolle Stimmung in die Familie. Ich aber erlebte während seiner Abwesenheit das Gegenteil, denn ich war den Erziehungsmethoden meiner Mutter ausgeliefert. Und das hieß überwiegend: Druck ausüben. Sie hatte keinen anderen Erziehungsstil zur Verfügung. Alles wurde mit Druck umgesetzt, selbst die Suche nach Hobbys oder nach anderen eigentlich schönen Dingen des Lebens. Anstatt mich zu animieren, mir Dinge schmackhaft zu machen, versuchte meine Mutter alles mit unerbittlicher Konsequenz durchzusetzen. Wenn ich mich weigerte und meine Mutter stur blieb, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Sätze wie: »Du räumst jetzt Dein Zimmer auf!« oder »Du kommst jetzt mit!« waren an der Tagesordnung. Ich galt als »überempfindlich« und wenn ich bedrückt und traurig war, hieß es: »Stell Dich nicht so an. Du bist übersensibel.«

Aus heutiger Sicht denke ich, meiner Mutter wäre es das Liebste gewesen, wenn ich wie eine Maschine, wie eine Tochterhülle funktioniert hätte. Alle tiefer gehenden Gefühle, Probleme und Zwiespälte wurden mit einer schroffen Art zurückgewiesen, und, bevor sie überhaupt angesprochen werden konnten, mit Ignoranz weggedrückt. Unser Familiensystem funktionierte aber dennoch recht gut, weil wir als Ausgleich zu dem Druck und den Streitereien gemeinsam viel Humor entfalten konnten. Mein Vater war ein sehr geselliger Mensch mit [165]guter Beobachtungsgabe und brachte uns mit seinen Anekdoten oft zum Lachen. Meine Mutter konnte sich in seiner Gegenwart entspannen und zeigte dann auch einen angenehmen, ja sogar charmanten Charakter. Zudem hatten wir drei Geschwister eins gelernt: zusammenzuhalten! Wir haben uns immer gegenseitig geschützt und vor Angriffen verteidigt, das hat mir viel Kraft und Halt gegeben.

Ich bin überzeugt davon: Vor allem meine Mutter trug in sich die große Angst, sie könne zu kurz kommen. Sie versuchte, diese Angst mit materiellen Anschaffungen zu kompensieren. Für Kunstgegenstände, Porzellan und andere ›wertvolle‹ Dinge wurde überproportional viel Geld ausgegeben, während ich schon früh lernen musste, mit wenig auszukommen. Ich wurde kurz gehalten. Ich habe als Kind immer komische Klamotten tragen müssen, immer Klasse B, während meine Eltern mit einer von mir nie angezweifelten Selbstverständlichkeit durch Anschaffungen versuchten das auszugleichen, was sie in ihrer Kindheit entbehren mussten.

Meine Familienposition war zudem nicht günstig. Meine beiden älteren Geschwister hatten nie Lust, mit mir zu spielen. Sie mussten mich durch Anweisung der Eltern notgedrungen in die Spiele einbeziehen. Ich habe das prägende Gefühl eingeimpft bekommen, langweilig zu sein. Die Beziehung zu meinen Geschwistern änderte sich zwar später, das Urgefühl aber, lästig zu sein, ist geblieben.

Eine übergroße Bescheidenheit

Die Konsequenz aus diesen Zusammenhängen ist, dass ich unmäßig bescheiden bin und mir ganz selten etwas ›materiellen Luxus‹ gönne. Diese Bescheidenheit ging so weit, dass ich fand, ich dürfe nur einen winzigen Teil dieser Erde beanspruchen. Es war so, als lebte ich mit zwei gepackten Koffern links und rechts [166]neben mir – immer bereit, die Erde ohne großen Aufwand zu verlassen. Ich trage heute noch tief im Inneren einen großen Minderwertigkeitskomplex und habe mich jahrelang vernachlässigt.

Ich glaube, am meisten belastet mich noch heute, dass ich nicht wirklich von meinen Eltern wahrgenommen wurde. Ihr Desinteresse prägte in mir das Gefühl: Ich bin es nicht wert, dass man mir Beachtung schenkt, und meine Freunde und Partner sind es noch weniger, denn über sie wurden oft abfällige Bemerkungen gemacht. Ich habe diese Abwertung dann mir selbst zugefügt, in dem ich mich durch Verzicht und grenzenlose Hilfsbereitschaft fast aufgegeben habe. Anderen gegenüber empfinde ich ein schmerzhaftes Mitgefühl, meine eigene Lebensenergie habe ich allen zur Verfügung gestellt und jeder, der wollte, konnte sich mit vollen Händen an ihr bedienen.

Schon während meines Studiums der Geschichte und Philosophie, das sieben Jahre dauerte, als ich in meiner Wohnung mehr fernsah als an der Uni studierte, hatte es für mich oberste Priorität, finanziell unabhängig zu sein. Durch meine unkomplizierte und flexible Art, die ich gelernt hatte, um mir meinen Platz in der Familie zu sichern, habe ich nie Probleme gehabt, Jobs zu bekommen. Und um meine Unabhängigkeit zu sichern, bin ich beruflich nicht wählerisch gewesen, zumal mir ein Bedürfnis völlig fremd war: Karriere zu machen. Mir ging es darum, in Ruhe gelassen zu werden.

Gravierender waren Tiefschläge in meinem privaten Leben, vor allem in Bezug auf Freundschaften und Beziehungen. Aus der Angst heraus, abgelehnt und verlassen zu werden, habe ich stets das Gefühl gehabt, ich müsse mehr geben als andere Menschen, um Freunde zu haben. Ich habe den Menschen ihre Wünsche von den Lippen abgelesen und versucht, es allen recht zu machen. Oft blieb ich enttäuscht zurück, wenn ich mal wieder die Erkenntnis hatte, ausgenutzt worden zu sein.

Die Bedrückung, die ich in meiner Kindheit und Jugend gefühlt [167]habe, wurde aus meiner jetzigen Sicht auch entscheidend von der Stadt widergespiegelt, in der ich aufwuchs. Im Ruhrgebiet lebten wir in einer auf Kriegsschutt hektisch und mit schlechtem Geschmack aufgebauten Umgebung. Wenn ich früher als Kind und Jugendliche vor diesen erbärmlich hochgezogenen 50er Jahre Klötzen stand, überkam mich ein trostloses und hoffnungsloses Gefühl, eben jene Empfindung, die ich auf meinen täglichen Fahrten durch die Stadt hatte: »Hier stimmt etwas nicht.« Mein Eindruck ist heute: Um mich herum konnte nichts richtig atmen, weil alles auf Trümmern aufgebaut war. Auf Kriegsmüll und teilweise auch mit Kriegsmüll waren Wohnklötze errichtet worden, in denen Menschen wohnten, die diese Trümmerberge verursacht hatten. Nur redete kein Mensch darüber. Der Schein und die Oberflächlichkeit dieser ganzen Inszenierung sind mir jetzt klar.

Balkone wie Schießscharten

Heute weiß ich, dass die Häuser von den Menschen gebaut wurden, die noch völlig unter dem nationalsozialistischen Bann standen: Die Gebäude, die sie mit ihrem Lieblingsgemisch, dem Beton, errichteten, sehen aus wie Bunker, und die Balkone muten oft wie Schießscharten an.

Als mir in meiner Jugend deutlich wurde, was für eine ungeheure Negativität und Zerstörungswut von den Menschen in Deutschland ausgegangen war, wurde es in meiner Seele eisig, obwohl ich das Wesentliche noch gar nicht erkennen konnte: Wir haben als Jugendliche, ohne es zu ahnen, denen, die dieses nationalsozialistische Terrorsystem erschufen und/oder an ihm zerbrachen, tagtäglich in die Augen gesehen! Wir haben mit ihnen in einer Gemeinschaft gelebt: mit den Menschen, die Krieg, rohe Gewalt, Deportationen von geliebten Freunden, Verwandten und Nachbarn, Hass und Angst, verbrannte Leichen, [168]Massenmord und Bombennächte miterlebt haben und auch selber aktiv daran beteiligt waren, weil sie Teil des Systems waren. Als ich diese unbegreiflich bleiernen Gefühle mit mir herumschleppte, war die Kriegsgeneration in Deutschland gerade mal ins rüstige Rentenalter gekommen.

Die Folge ist, dass ich allen konventionellen und »stabilen« Gesellschaftsformen grundsätzlich misstraue, denn ich bin davon überzeugt: Moralische Werte können mit einem Augenaufschlag umgedeutet und in ihr Gegenteil umgewandelt werden. Auch empfinde ich eine tiefe Abneigung gegenüber Konventionen und konventionellen Lebensweisen. Ich lebe nicht mit der Gesellschaft, sondern ich fühle mich als Beobachterin dessen, was um mich herum stattfindet. Früher habe ich Deutschland eine durch und durch negative Haltung entgegengebracht. Wenn ich im Ausland war, habe ich mich meines Deutschseins geschämt.

Die Probleme zwischen meiner Elterngeneration und uns Kindern beruht meiner Meinung nach auf folgendem Konflikt: Es ist die Schieflage, in einer sogenannten Wohlstandsgesellschaft aufzuwachsen, in der man ständig gesagt bekommt, dass man nicht klagen darf, weil man es doch so gut habe – und subtil die unverdauten Mangelerscheinungen der Großeltern- und Kriegskindergeneration aufgebürdet bekommt, die so gar nicht in eine ›heile Welt‹ passen.

Wenn ich die Generation meiner Eltern anschaue, sehe ich über ihrem Kopf immer eine Sprechblase hängen, in der mit fetter Schrift steht: ICH! ICH! ICH! Ich sehe eine maßlose und infantile Ich-Bezogenheit, die Verständnis und Offenheit für andere Menschen, andere Generationen, andere Lebensmodelle und völlig neue Lebensbedingungen blockiert. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es immer nur um sie geht: um ihre materielle Absicherung, ihren Urlaub, ihr Glück und ihr Leid. Dabei haben sie gar nicht gemerkt, wie sie die Grenzen anderer missachten. Das Bedürfnis nach materieller Absicherung ist für [169]diese Generation so groß, dass sie panisch und wie im Rausch alle finanziellen Möglichkeiten, die es in diesem Staat zu holen gibt, an sich rafft und nicht imstande ist, zu sehen, dass sie dadurch ihren Nachkommen ein Land hinterlässt, in dem man sein Leben weitaus bescheidener gestalten muss, um zurecht zu kommen.

Sich mit Geld betäuben

Die meisten Angehörigen der Kriegskindergeneration sind nach wie vor davon überzeugt, sie haben uns die beste und schönste Kindheit geschenkt und weigern sich, einzugestehen, dass man die Schatten auf der eigenen Seele nicht mit Geld betäuben oder mit Desinfektionsmitteln wegscheuern kann.

Mehr als zehn Jahre meines Lebens habe ich gebraucht, um die Ursachen meiner Destruktivität herauszufiltern. Dieser Ablösungs- und Abgrenzungsprozess hat mich viel Kraft gekostet – Kraft, die die Großeltern- und Elterngeneration nicht aufgebracht hat. Kraft, die ich aufwenden musste, ihre Traumata von meinen eigenen Erfahrungen zu entwirren und zu trennen, um frei atmen zu können. Es war ein kompliziertes Unterfangen, mich von den belastenden Gefühlen zu befreien, die eigentlich gar nichts mit mir zu tun hatten und von denen ich nicht wusste, woher sie kamen. Ich konnte diese Gefühle nicht mit irgendeinem entsprechenden Erlebnis in Verbindung bringen, denn ich hatte ja, gemessen an meinen Eltern, nichts wirklich Schlimmes erlebt.

Weil ich diese destruktiven Gefühle nicht zuordnen konnte, habe ich sie mir selber zugeschrieben. Ich habe an meinem Charakter gezweifelt und mir Vorwürfe gemacht, so passiv und negativ zu sein. Dabei denke ich heute, wie einfach es meine Eltern mir hätten machen können, mich positiv zu bestärken und mir dadurch Ängste zu nehmen.

[170]Meine Mutter ist als Kind durch die Fluchterlebnisse und die Diskriminierung als Flüchtlingskind in Deutschland tief gedemütigt worden. Die daraus entstandene Frustration und das Minderwertigkeitsgefühl hat sie ungefiltert und unaufgearbeitet an mich weitergeleitet. Auch heute sehe ich in meiner Mutter das unglückliche Kind. Ich erkenne ihre erlittenen seelischen Schmerzen und habe neben viel durchlebter Wut auch Mitleid mit ihr. Mein Vater wurde nicht persönlich gedemütigt. Die Demütigung und Entwurzelung ist seinen Eltern widerfahren. Er selber hat jedoch diese Last tragen müssen und hat diesen Schmerz tief in seinem Herzen verborgen gehalten. Die nationalsozialistische Vergangenheit in der Familie meines Vaters wurde tabuisiert.

In meiner Familie mütterlicherseits ist viel über die Zeit in Polen und die Erlebnisse im und nach dem Krieg gesprochen worden. In meiner Jugendzeit wurden mir oft Schreckensgeschichten zugeraunt: von vergewaltigten Frauen in Polen nach dem Kriegsende, von mordenden Russen und Erschießungen von Familienmitgliedern. Schon früh habe ich Romane von Schriftstellern über die Thematik der ›Heimatvertriebenen‹ verschlungen. Die Literatur war im elterlichen Bücherregal in großer Zahl zu finden. Doch trotz des offenen Umgangs mit dem Thema ist es umso erstaunlicher, dass die persönlichen Traumata nicht angegangen wurden.

Wie sich Schatten verflüchtigen

Das Wesentliche, was ich aus meiner Familiengeschichte und der Beschäftigung mit der deutschen Geschichte gelernt habe, ist, dass alle Schicksale miteinander verbunden sind. Wir alle tragen das Glück und Unglück aller mit. Es ist ein fataler Trugschluss zu denken, dass man negative Energien aus der persönlichen Geschichte zuschütten kann, um sich von der Vergangenheit [171]zu trennen. Sie sprießen aus allen undichten Stellen und drängen unweigerlich an die Oberfläche. Wenn sie nicht im eigenen Leben ans Tageslicht kommen, werden die negativen Energien auf die nächste Generation übertragen.

Durch meine Hartnäckigkeit, mit der ich die Verkettung der verschiedenen Einflüsse schließlich entwirrte, habe ich gelernt, mein eigenes Leben zu verstehen. Ich habe gelernt, zu leben, weil ich dadurch meine Persönlichkeit entdecken konnte. Letztlich ist der Umgang mit den Schatten meines Lebens sehr erkenntnisreich und heilsam gewesen. Ich weiß, dass die Schatten sich verflüchtigen, wenn sie ans Tageslicht kommen. Eine tief sitzende Angst ist mir dadurch genommen worden, und der Schmerz hat sich für mich in allerletzter Konsequenz in persönliche Freiheit und geistige Unabhängigkeit verwandelt. icon