[73]Ein Fest mit Bergmannstradition

Es war an einem Sonntag im Frühling. Ich wollte ein Bergwerksmuseum im Ruhrgebiet besuchen. Als ich aus dem Auto stieg, hörte ich Musik. Auf dem ehemaligen Zechengelände wurde gefeiert. Eine Bergmannskapelle spielte »Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt«. Auf dem Hof vor dem Grubeneingang saßen die Gäste an langen Tischen. Man trank Bier und aß Würstchen mit Kartoffelsalat. Einige ältere Männer waren in traditioneller Tracht erschienen: schwarzer Kittel und hoher Hut mit Federbusch. Das Ganze hatte die Atmosphäre eines großen Familienfestes. Ich besorgte mir eine Tasse Kaffee und setzte mich dazu. Rechts von mir erzählten weißhaarige Männer von früher, von der Arbeit unter Tage, links beschrieb jemand, wie herrlich dieses Jahr der Salat in seinem Schrebergarten gedeihe. Mir gegenüber saß eine rundliche Frau in den Vierzigern. Das rotbraun gefärbte Haar und der freche Fransenschnitt standen ihr gut. Sie war die auffälligste Person am Tisch. Mit ihrem erkennbar teuren, hellgrünen Blazer hob sie sich optisch deutlich von den anderen Frauen des Ruhrgebiets ab. Dennoch gehörte sie dazu, denn sie duzte jeden links und rechts und quer über den Tisch. Mir, der Ortsfremden, erklärte sie, dieses Fest sei vor etlichen Jahren mit der Eröffnung des Museums entstanden, seitdem käme man jedes Jahr im Mai zusammen. »Sie wissen ja, wie traditionsbewusst wir im Pütt sind«, sagte sie. Ihr Vater habe hier als einfacher Bergmann gearbeitet. »Die Grube ist ein Teil meiner Heimat. Die schwarzen Männer hatten für mich als Kind immer etwas Vertrauenswürdiges.« Sie war stolz auf ihre Herkunft.

Monika Eichberg* – so hieß die Frau – redete gern und offen heraus. Ich erfuhr, sie wohne inzwischen in Düsseldorf, aber [74]das Fest sei ihr wichtig, sie komme jedes Jahr, genau wie ihre Eltern. Aber diesmal sei ihre Mutter in grässlicher Stimmung, also habe sie sich weggesetzt. »Wenn ich sie treffe, sehe ich schon an ihren Mundwinkeln, es wird Stress geben. Heute bin ich doch lieber an einen anderen Tisch gegangen.« Es stellte sich heraus, dass Monika Eichberg drei Kinder hatte und dass sie von ihrer Familie getrennt lebte. Viele Jahre hatte sie gebraucht, um sich zu dieser Entscheidung durchzuringen. Wie nicht anders zu erwarten, hörte die Mutter nicht auf, der Tochter deshalb Vorwürfe zu machen und sie zu drängen, zu ihrer Familie zurückzukehren.

Monika Eichberg betonte mir gegenüber, ihren Mann zu verlassen, um ihr eigenes Leben zu führen, sei der beste Entschluss ihres Lebens gewesen. Dann fielen einige Sätze, die mich im ersten Moment überraschten. »Er ist zwanzig Jahre älter als ich – ein typisches Kriegskind, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich habe schon früh gespürt: Mit ihm wollte ich nicht alt werden.« Als ich mich von ihr verabschiedete, bat ich sie um ihre Telefonnummer in der Hoffnung, sie für mein Buchprojekt zu gewinnen.

Frisch verliebt

Acht Wochen später kommt es zu einem Treffen in ihrer Düsseldorfer Wohnung. Mir fällt sofort auf, wie stark sie abgenommen hat, was sie vergnügt bestätigt. »Ich hab mich verliebt. Endlich! Jetzt geht’s bergab mit den Pfunden.« Wir gehen zum Wohnzimmertisch, und während ich mich umschaue, fällt mir auf, wie unterschiedlich die Mehrzahl der Kriegskinder im Vergleich zu den Kriegsenkeln eingerichtet sind: dort die mit Möbeln voll gestellten Räume, die Teppiche, die vielen Bilder und Bildchen an den Wänden, und hier die gezielte, eher sparsame Ausstattung, schlichte, klare Formen, weiße Bücherregale, viel [75]freie Fläche, keine Vorhänge, Holz- oder Parkettboden. Bei ihr handele es sich aber um Laminat, sagt meine Gastgeberin. Grundsätzlich stimmt sie mir zu: Ihre Eltern umgäben sich mit Deutscher Eiche, mit »Gelsenkirchener Barock« – falls ich mir etwas darunter vorstellen könne. Dann erfahre ich, wie wenig sie sich in ihrem eigenen Haus wohl gefühlt habe, zwischen dunklen, wuchtigen Möbeln, die noch von den Schwiegereltern und der verstorbenen Schwägerin stammten. »Es gab Phasen, da hätte ich am liebsten die Kettensäge genommen«, bricht es aus ihr heraus. »In dieser Frage kam überhaupt kein Verständnis von ihm.« Ich bin überrascht. Die Frau, die mir gegenübersitzt, strahlt soviel Kraft inklusive Überzeugungskraft aus, dass ich mir ein Unterliegen in Einrichtungsfragen überhaupt nicht vorstellen kann.

Im Laufe des Gesprächs wird deutlich: Monika Eichberg war auch in ihrem früheren Leben eine resolute Frau, die mit Umsicht und Sparsamkeit ihre Familie managte. Aber in wesentlichen Punkten, die ihre eigenen Interessen betrafen, fehlte es ihr an Durchsetzungskraft. Ihr Mann – genauso wie ihre Mutter – schien stets besser zu wissen als sie selbst, was gut für sie war. »Dagegen kam ich nicht an. Ich dachte immer, ich bin verkehrt. Ich hatte Angst verrückt zu werden, denn ich stand mit meinen Ansichten und Wünschen völlig allein da. Das kenne ich schon seit meiner Kindheit und Jugend.« Zum Beispiel hatte sie nach der Schule die Höhere Handelsschule besuchen wollen – mit dem Traumziel Chefsekretärin. Doch ihre Mutter, die damals als ungelernte Verkäuferin in einer Metzgerei arbeitete, wollte davon nichts wissen. Der Friseur nebenan suchte ein Lehrmädchen, und sie hatte ihm schon zugesagt, die Tochter zu schicken. Monika gehorchte.

[76]Du weißt gar nicht, wie gut du es hast

Ihre Eltern, Klara und Wolf Kasza*, sind beide Flüchtlingskinder; sie stammt aus Ostpreußen, er aus Schlesien. Klara, 1940 geboren, verbrachte ihre Kindheit in der Nähe von Insterburg. Die Familie lebte von einer kleinen Landwirtschaft, die der Vater gepachtet hatte. Über die Flucht und die Folgen der Flucht sprach Klara Kasza als erwachsene Frau nur noch in Andeutungen. Tochter Monika hat die wenigen Sätze ihrer Mutter noch genau im Ohr – sie klangen wie Vorwürfe: »Du weißt gar nicht, wie gut du es hast. Du weißt gar nicht, wie schlimm das damals alles war – auch die Ankunft in Westdeutschland, wo uns keiner haben wollte …«

Klara Kaszas Haltung war: So schlecht, wie es ihr selbst ergangen war, konnte es ihren drei Kindern gar nicht gehen. Einmal hatte Monika nach einem Sturz beim Rollschuhlaufen große Schmerzen im Arm. Die Mutter meinte, es sei nichts Auffälliges zu sehen. »Aber mein Arm tut so weh!« »Ach was, stell dich nicht so an!« Abends ging der Vater mit dem Kind ins Krankenhaus – der Arm war gebrochen. Monika ergänzt: »Mutter hat uns auch mit hohem Fieber in die Schule geschickt. Das gab’s nicht, dass man im Bett liegen blieb.«

Klara Kasza wusste immer, was richtig und was falsch war, sie weiß es bis heute. »Sie hatte einen unglaublichen Einfluss auf mich«, sagt ihre Tochter und nimmt einen Schluck Kaffee »Sehen Sie hier die weiße Tasse. Wenn Mutter nur mit genügend Nachdruck dabei blieb: Diese Tasse ist schwarz! – dann glaubte ich am Ende auch, dass die Tasse schwarz sei.« Erst seit einigen Jahren, fährt sie fort, habe sie gelernt, sich besser von ihr abzugrenzen. Allerdings: »Niemand kann mich so verletzen wie sie. Bis heute ist das so. Darum bin ich ihr gegenüber immer auf der Hut. Wenn ich sie besuche, gucke ich, wie die Stimmung ist. Wenn ich merke, die Zeichen stehen auf Unwetter, lasse ich innerlich die Rollos runter und verabschiede mich [77]schnell wieder.« Zu ihrem Vater dagegen habe sie ein entspanntes Verhältnis. »Es existieren schöne Fotos von Vater und mir, als ich noch klein war. Seine Augen glänzen, meine Augen glänzen. Solche Fotos gibt es von mir und meiner Mutter nicht.«

Monika erinnert sich gern daran, wie es war, wenn sie den Vater nach der Schicht am Zechentor abholte. Er kam auf den Hof in einem Pulk anderer Kumpel, alle mit schwarzgeränderten Augen, dann erblickte er seine kleine Tochter, sein Gesicht strahlte, und er hob sie auf den Arm. »Vater war sehr lustig. Er hat gern Leute um sich gehabt, er hat gern gefeiert. Er liebte meine Mutter sehr, ich glaube, er tut es bis heute. Als Kind habe ich immer gedacht: Meine Eltern lieben sich. Ich muss mir keine Sorgen machen, bei uns gibt es keine Scheidung.« Heute glaubt Monika, ihr Vater konnte seine Frau nicht glücklich machen – egal wie viel Mühe er sich gab: Sie war und ist jemand mit einer tief sitzenden Lebensunzufriedenheit und einem Grundmisstrauen gegenüber Männern.

Als sie ihren fröhlichen Vater verlor

Monika verlor ihren fröhlichen Vater, als sie 11 Jahre alt war. Er starb nicht, er ging auch nicht fort. Er baute ein Haus. Er tat es, weil seine Frau es sich sehnlichst wünschte. Wäre es nur nach ihm gegangen, glaubt seine Tochter, hätte die fünfköpfige Familie weiter in der kleinen Dreizimmerwohnung gelebt. Aber seine Frau wollte, wie sie sagte, »endlich aus dem Elend raus«. Sie wollte ein eigenes Haus. »Ich verstehe sie heute auch«, sagt Monika Eichberg. »Es war wirklich furchtbar eng. Wir Kinder mussten uns ein Zimmer teilen, und Oma kam auch noch jeden Tag.« Doch mit der Schuldenlast des Eigenheims verließ Wolf Kasza die Lebensfreude. Nun hieß es nur noch: sparen, sparen, sparen. Man durfte sich nichts mehr gönnen, keinen Urlaub, kein Fest. Die Kinder wurden noch knapper gehalten [78]als es vorher schon der Fall gewesen war. Wenn sie sich darüber beschwerten, meinte Mutter Klara, sie hätten dankbar zu sein, dass es ihnen so gut ginge, sie hätten ja keine Ahnung, was schlechte Zeiten bedeuteten …

Wolf Kasza war vom Vater zum Heimwerker geworden. Er nahm seine Kinder kaum noch wahr. Mit 50 Jahren häuften sich bei ihm depressive Verstimmungen, die in den vergangenen Jahren noch erheblich zugenommen haben. Dennoch, versichert seine Tochter, sei er weiterhin im Vergleich zur Mutter der Optimistische, und sie verdanke ihm viel. »Er hat mir als Kind vermittelt, dass man Freude am Leben haben soll und dass man sich nicht unterkriegen lassen darf. Mutters Botschaft dagegen lautete: Bloß nicht auffallen. Bloß keine Veränderung. Bloß nichts riskieren. Bloß nicht sich wehren. Andere sind immer stärker. Man kann ja doch nichts machen!«

Monika Eichberg glaubt, ihre Mutter habe sich – im Unterschied zum Vater – nie vom Verlust der Heimat und von ihren Erlebnissen während der Flucht erholt. Die Beschimpfungen, mit denen sie als Flüchtlingskind im Westen empfangen wurde – »Da kommen die Polacken!« – haben sich tief eingebrannt. Daher auch ihre lebenslange Haltung: Lieber leiden, als den Leuten Anlass zu Klatsch geben.

Als Monika sich von ihrem Mann trennte, kam nur Beistand von ihrem Vater. Sie hatte eine unrenovierte Wohnung gemietet und wollte sie nach und nach herrichten. Wolf Kasza aber meinte, seine Tochter brauche eine schöne Umgebung, in der sie sich von Anfang an wohl fühle. Gemeinsam setzten Vater und Tochter die Wohnung in Stand. Sie brauchten dafür drei Wochen – für beide eine gute Zeit. Allerdings entspricht es bis heute nicht seiner Art, Monika mit Worten zu verteidigen, wenn sich seine Frau wieder einmal über ihre Tochter aufregt.

Nie wieder kehrte Klara Kasza nach Ostpreußen zurück. Als Verwandte erzählten, ihnen hätte ihre Reise in die alte Heimat gut getan, wollte Monikas Mutter nichts davon hören. Niemals, [79]sagte sie, werde sie dorthin fahren und sich den Erinnerungen an so viel Schreckliches ausliefern. Ihre Tochter, die sich in den vergangenen Jahren viel mit dem Thema Trauma auseinandergesetzt hat, stellt sich vor, dass die Mutter als kleines Kind in Ostpreußen mit viel Gewalt konfrontiert wurde, dass sie erlebte, wie Frauen von Rotarmisten vergewaltigt wurden. »Denn Mutter hat bis heute keine Worte für ›das Schreckliche‹ gefunden. Sie misstraut Männern grundsätzlich. Zu leiden ist für sie etwas völlig Normales. Sie vermeidet jede Veränderung in ihrem Leben.«

Ein fürsorglicher Ehemann

Monika Eichberg, 1961 geboren, lernte mit 18 Jahren ihren späteren Mann kennen. Natürlich bemerkte sie das Interesse des Kunden, der regelmäßig in den Friseursalon kam, doch bei ihr selbst funkte nichts. Er ist mir zu alt, dachte sie. Aber da er ausdauernd und unaufdringlich um sie warb, begann sie, ihn als einen ausgesprochen netten und zuverlässigen Mann zu schätzen. Dennoch blieb Monika reserviert. Schließlich nahm der Diplomingenieur ein interessantes Arbeitsangebot in Süddeutschland an. Manfred Eichberg* schrieb ihr charmante Briefe, und wenn er gelegentlich in seinem Heimatort seine Eltern besuchte, sorgte er für eine Verabredung mit der jungen Friseurin. Nach zwei Jahren kehrte er zurück und machte Monika einen Heiratsantrag. Da funkte es auch bei ihr. Ein Jahr später wurde geheiratet. Sie war jung und dachte, sie hätte das große Los gezogen: ein liebevoller, fürsorglicher Mann, Akademiker zudem. Sie glaubte, er kenne sich aus im Leben und werde ihr die Welt zeigen. »Er war mein erster Mann«, sagt sie. »Es bereitete mir irgendwie Sorgen, weil ich mit über 20 immer noch keinen Sex hatte. Heute weiß ich: Meine Weiblichkeit war völlig unterentwickelt. Manfred aber konnte ich vertrauen. Ein erfahrener Mann. Ich war schrecklich verliebt.«

[80]Ein Jahr nach der Hochzeit wurde ihr erster Sohn geboren. Da war sie 22 Jahre alt. Ihr wurde ein Bündel in den Arm gedrückt, und sie wartete darauf, dass ihr warm ums Herz würde. Aber sie empfand keine Mutterliebe. »Das sollte doch angeblich der allerschönste Moment im Leben einer Frau sein«, beschreibt sie ihre Situation. »Mein Mann dagegen war völlig high! So glücklich hatte ich ihn noch nie erlebt.« Sie dachte damals: Vielleicht bin ich einfach zu jung. Vielleicht kommt die Mutterliebe von selbst, wenn der Kleine und ich uns erst einmal aneinander gewöhnt haben. Es passierte aber nicht. »Ich bekam noch zwei weitere Kinder. Mit ihnen war es ein wenig besser, würde ich sagen. Ich habe alles für meine Kinder getan, aber ich habe keine wirklich tiefe Beziehung zu ihnen bekommen.«

Heute besteht für sie kein Zweifel: Ihre Muttergefühle waren deshalb so gedämpft, weil sie als Kind einer traumatisierten Mutter selbst auch nichts Besseres kennen gelernt hatte. Eine Psychotherapie, die sie mit 35 Jahren begann, und die Lektüre von Fachliteratur haben Monika Eichberg geholfen, zu verstehen, in welchem Ausmaß unverarbeitete Kriegserlebnisse noch zwei Generationen später nachwirken können.

Besonders interessierten sie in diesem Zusammenhang die frühkindlichen Bedürfnisse, wie sie in der Entwicklungspsychologie beschrieben werden. Dabei ist sie auf die Arbeit des Bindungsforschers Karl Heinz Brisch gestoßen. Er schreibt: »Eine Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung zwischen Eltern und Kind ist die Verarbeitung von elterlichen Traumatisierungen aus der eigenen Kindheitsgeschichte.«11

Haben Eltern ihre seelischen Verletzungen nicht verarbeitet, dann kann es, wie Brisch betont, zu einer »transgenerationalen Weitergabe von traumatischen Erfahrungen führen, auch wenn die nachfolgende Generation selbst keinen derartigen Traumata ausgesetzt war.«12 Die Folgen können also für Kinder der Kriegskinder gravierend sein. »Alte Traumatisierungen von Vater [81]und Mutter führen regelmäßig dazu, dass sie mit dem Säugling reinszeniert werden. Dies kann zu Fütterstörungen, Schlafstörungen, zu aggressiven Auseinandersetzungen bis hin zu Gewalt führen.«13

Was ist emotionale Offenheit?

Eltern, die sich von schweren seelischen Verletzungen nicht erholt haben, sind in der Regel nicht in der Lage, auf ihren Säugling emotional offen zu reagieren. Aber genau das braucht ein Kind für den Aufbau eines sicheren Bindungsmusters – eine der Grundlagen seiner psychischen Stabilität. Emotionale Offenheit, was versteht man darunter? Die Münchner Kinderpsychiaterin Mechthild Papoušek zählt auf: »Sich auf die Entwicklung und die Erfahrungswelt des eigenen Kindes einlassen; sich von seinen Signalen, Interessen, Vorlieben, Freuden und Kümmernissen leiten lassen; sich dabei auf die eigenen intuitiven Kompetenzen verlassen; sich zu Spiel und Erfindungslust mit dem Baby verführen lassen; und bei all dem mit dem Baby sprechen.«14

Davon war Monika Eichberg als junge Mutter weit entfernt. Aber sie holte sich Hilfe und erfuhr: Menschen sind nicht nur intellektuell entwicklungsfähig, sie können auch emotional erwachen und damit wachsen. Heute ist Monikas Mutterliebe voll aufgeblüht. Sie sagt: »Wenn ich meine Kinder sehe, geht mir das Herz auf.«

Vor drei Jahren ist Monika Eichberg ausgezogen. Ihre Kinder blieben mit dem Vater im Haus wohnen. Der glaubt bis heute fest an einen vorübergehenden Zustand. Er zweifelt nicht daran, dass seine Frau zurückkehren wird. Im unserem Gespräch spricht sie von ihrem »Ex-Mann«. Sie ist längst woanders, sie lebt in einer Welt, zu der Manfred Eichberg keinen Zugang hat. Monika will grundsätzlich nicht viel über ihn sagen, schon gar [82]nichts Schlechtes. Das große Missverständnis ihrer Ehe beschreibt sie so: Sie wollte einen Mann – er wollte Kinder. »Unsere Kinder konnten keinen besseren Vater haben. Er hat viel zu Hause gearbeitet, und sich deshalb viel um sie kümmern können.« Als sich Monika nach dem dritten Kind gegen seinen Willen sterilisieren ließ, verlor er das sexuelle Interesse an ihr. Lange Zeit hatte Monika gedacht, ihre Ehe sei noch zu retten, und so war es zu einer Serie von begleiteten Paargesprächen gekommen. Sie erzählt: »Die Therapeutin hatte meinem Mann eindringlich Ihr Buch über die Kriegskinder, über die ›vergessene Generation‹ ans Herz gelegt. Er hat es nicht angerührt. Aber ich habe es gelesen! Das hat mir die Augen geöffnet. Ich begriff, dass ich mich von zwei Kriegskindern gängeln ließ – von meinem Mann und von meiner Mutter – von zwei Traumatisierten, die selbst ein sehr eingeschränktes Leben führten, aber immer wussten, was gut für mich war.«

Manfred Eichberg überlebte als Vierjähriger im Sommer 1943 die »Operation Gomorrha«, die verheerenden Luftangriffe auf Hamburg. Man zählte 35 000 Tote, über 100 000 Verletzte, eine Million Obdachlose. Unter der Bezeichnung »Feuersturm« ging die Katastrophe in die Stadtgeschichte ein – die tiefste Zäsur des 20. Jahrhunderts. Zu den Ausgebombten zählte Familie Eichberg, wie auch der spätere Liedermacher Wolf Biermann. Er, nur wenige Jahre älter als Monikas Ehemann, sang darüber in seiner »Ballade von der Elbe bei Hamburg«. In dem Lied heißt es: »Genau auf Sechseinhalb blieb meine Lebensuhr da steh’n.« Biermann fühlte sich offenbar von der Katastrophe ein Leben lang verfolgt.

[83]Ein neues Ziel: Abitur

Mit Anfang 30 verdüsterte sich Monikas Lebensfreude, die sie dem lustigen Vater ihrer Kindheit verdankte. Nach und nach wuchs in ihr eine Frage, bis sie nicht mehr zu überhören war: Brauchte sie vielleicht mehr als einen Alltag mit Haushalt und Kindern? Sie wollte nicht den Weg ihrer Mutter gehen, den Weg des Leidens, worüber diese nie aufgehört hatte zu klagen. Heute, da sich Monika Eichberg einiges Wissen über das Erbe von Familienmustern angeeignet hat, will sie auch nicht ausschließen, dass sie unbewusst den Spuren der recht unkonventionellen Großmutter väterlicherseits folgte, die wegen ihres eigenwilligen Lebenswandels keinen guten Ruf in der Familie hatte.

Wie auch immer: Als Monikas jüngstes Kind fünf Jahre alt war, überraschte sie ihren Mann mit dem Wunsch, sie wolle das Abitur nachholen. Weiter dachte sie damals noch nicht. Es ging ihr zunächst nur um eines: um Veränderung. Sie wollte frische Luft in ihr Leben hineinlassen. Drei Jahre lang war Monika Mutter, Hausfrau und Abendschülerin. Nach dem bestandenen Abitur begann sie ein Studium der Betriebswirtschaft. Ehemann und Mutter verstanden ihren Schritt nicht. Sie meinten, Monika könne doch, wenn sie sich langweile, wieder halbtags als Friseurin arbeiten.

Mir gegenüber möchte sich Monika Eichberg nicht länger als nötig mit Schilderungen der Hindernisse aufhalten, die sich ihr in den Weg stellten, und der vielen Tiefs, die sie durchlitt – begleitet von einer ständigen Angst und Unsicherheit, ob sie wirklich die richtige Entscheidung getroffen habe. Der Widerstand von Seiten des Mannes, der Kinder und natürlich ihrer Mutter muss enorm gewesen sein. Hauptvorwurf: Sie denke nur an sich, sie sei egoistisch, sie sei verantwortungslos. Aber letztlich ließ sich Monika Eichberg nicht mehr beirren. Sie fand Unterstützung bei ihrer Lieblingstante und bei einer erfahrenen Psychotherapeutin. »Ich kam aus einem Milieu, in dem so [84]etwas wie Therapie unbekannt ist«, erklärt sie mir. »Dass ich dann doch über meinen Schatten gesprungen bin und mir Hilfe geholt habe, hatte aber nichts mit meinem Unabhängigkeitsdrang zu tun, sondern mit meiner zwölfjährigen Tochter. Eines Tages war mir aufgefallen: Ich behandele Julia genauso wie früher meine Mutter mich. Ich mache sie genauso mit Worten nieder! Wenn ich stark unter Stress stand, habe ich kein gutes Haar mehr an Julia gelassen. Sie diente mir als Blitzableiter.«

Der jugendliche Sohn rastet aus

Monika Eichbergs Geschichte ist auch die Geschichte ihrer Kinder. Da ist der Älteste, Oliver, inzwischen 25 Jahre alt. Wie seine Mutter es beschreibt, haben sie heute eine gute Beziehung, aber das ist eine relativ neue Entwicklung. »Früher kriegte ich keinen Draht zu ihm«, bekennt sie. Oliver sei als Kind und Jugendlicher sehr angepasst und zurückhaltend gewesen. Kurz vor seinem Abitur äußerte der Sohn Suizidgedanken. Seine Freundin hatte ihn verlassen und war nun mit einem seiner besten Freunde zusammen. Also hatte er gleich zwei wichtige Menschen auf einen Schlag verloren. Seine Eltern wollten ihn trösten, sie wollten ihm helfen, aber sie bekamen keinen Kontakt zu ihm. Dann kam der Tag, als er seine Zimmereinrichtung kurz und klein schlug. Dabei entwickelte er Bärenkräfte. Niemand konnte ihn bremsen. Sein Vater wollte ihn in die Psychiatrie einweisen lassen. Er hatte schon den Telefonhörer in der Hand – da griff Monika ein. »Ich wusste, die Klinik wäre für meinen Sohn genau das Verkehrte gewesen. Und inzwischen ließ ich mir auch nichts mehr ausreden, wenn ich etwas als richtig empfand. Als Oliver sich ein bisschen beruhigt hatte, sagte ich: Ich werde Dir helfen. Ich weiß zwar noch nicht, wie, aber ich werde Dir helfen. Das geht aber nur, wenn auch du wirklich Hilfe willst.« Ihr Sohn zögerte, es ging noch einige [85]Male hin und her, schließlich willigte er ein. Monika Eichberg fand einen Psychotherapeuten, der Oliver nach kurzer Zeit aus seiner Krise hinausführte. »Und ich saß derweil bei meiner Therapeutin«, erzählt die Mutter, »denn ich wollte begreifen, was mit meinem Sohn und mir schief gelaufen war.« Das Drama mit ihrem Ältesten ereignete sich während einer Zeit, als sie immer wieder mit dem Gedanken spielte, ihren Mann zu verlassen, aber glaubte, sie dürfe es ihren Kindern nicht antun. Sie entschied damals, noch sieben Jahre zu warten, bis der Jüngste sein Abitur bestanden hatte.

Ihre Beziehung zu Marcus, erklärt sie, sei immer schon eine besondere gewesen. Er, das Sorgenkind der Familie, habe von Anfang an eine labile Gesundheit gehabt. Mit fünf Jahren wurde bei ihm eine Wachstumsstörung diagnostiziert – da war er kleiner als üblicherweise ein Vierjähriger. Den Eltern wurde von Fachärzten vorausgesagt, das Kind werde weiterhin zu langsam wachsen, aber in späteren Jahren alles nachholen. Als Jugendlicher schien Marcus mit 1,60 Meter das Äußerste erreicht zu haben.

Zu diesem Zeitpunkt merkte Monika: Sie konnte das stumme Versprechen, das sie ihren Kindern gegeben hatte, nicht mehr einhalten. Inzwischen war sie finanziell unabhängig. Sie hatte ihr Studium abgeschlossen und als Diplomkauffrau eine gute Stelle in einem internationalen Konzern gefunden. Schnell stieg sie dort auf. Auch wurde sie in den Betriebsrat gewählt. Doch gesundheitlich ging es ihr immer schlechter; Rückenbeschwerden, Migräne und eine Gebärmutterentzündung, die chronisch zu werden drohte. Monika Eichberg erzählt: »Eines Tages war mir klar, ich muss gehen! Sonst werde ich ernsthaft krank – sonst gehe ich drauf!« Wie nicht anders zu erwarten, habe ihr die Mutter die Hölle heiß gemacht. »Allerdings sehe ich auch«, sagt Monika, » wie fassungslos sie vor meinem Entschluss stand und dass sie sich furchtbare Sorgen machte. Ich kann meine Mutter heute in ihrem ganzen Elend erfassen. Da blutet mir [86]manchmal das Herz. Ich sehe das ganze eingeschränkte Leben in ihrem Gesicht. Mehr konnte sie daraus nicht machen. – Andererseits muss ich mich immer noch vor ihr schützen. Wenn ich sie treffe, muss ich alle Antennen ausfahren.«

Nachdem Monika Eichberg ausgezogen war, erlebte Marcus, der Jüngste, einen Entwicklungsschub. Innerhalb eines Jahres wuchs er 20 Zentimeter. Das ist jetzt drei Jahre her. Marcus steht heute kurz vor dem Abitur. Seine Mutter freut sich sehr auf die Feier. Wieder einmal wird sie mit der ganzen Familie zusammen sein – so wie sie jeden Geburtstag und jedes Weihnachtsfest zusammen mit ihrem Mann und ihren Kindern in dem Haus verbringt, das einmal auch ihr Zuhause war.

Der letzte Schritt in die Freiheit

Wenn der Jüngste flügge ist, versichert sie, dann habe sie ihre Pflicht getan. Dann werde sie mit dem Vater ihrer Kinder über die Scheidung sprechen. Zu ihren Fähigkeiten im Beruf, sagt sie nicht ohne Stolz, gehöre das Herstellen von Struktur und Ordnung, vor allem aber von Transparenz. Das brauche sie auch im Privatleben, andernfalls würde sie sich – wie in ihrem früheren Leben – im Nebel verlieren. »Wenn mein Jüngster sein Abitur in der Tasche hat und ausgezogen ist, dann war’s das. Dann ist Schicht.«

Sie steht unvermittelt auf und geht in die Küche, während sie noch schnell einen Satz über die Schulter wirft, dem Sinne nach: »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Als sie wieder auftaucht, trägt sie ein Tablett mit einer bunten Auswahl köstlichster italienischer Törtchen. Genießerisch langt sie zu. Kein Lamento der Art, sie dürfe ja eigentlich nicht, sie müsse abnehmen. Dann fällt ihr etwas ein, was sie mir unbedingt erzählen möchte. Sie sei immer davon ausgegangen, sie habe in ihrer Ehe guten Sex gehabt, und das habe für die damaligen Verhältnisse [87]auch gestimmt. Heute aber wisse sie: Ihre Weiblichkeit sei nicht wirklich entwickelt gewesen. »Man kann auch sagen: Sie war verschüttet«, stellt sie fest. »Meine Mutter konnte mir keine gute weibliche Identität vermitteln, und diesen Mangel habe ich auch wahrgenommen, auch wenn ich dafür keine Worte hatte. Also war da immer eine Sehnsucht«.

Ihr äußerlicher Befreiungsprozess ging Hand in Hand mit einem persönlichen Entwicklungsprozess und der schloss das Wachsen einer starken weiblichen Identität mit ein. Die erlebe sie nun im Zusammensein mit ihrem neuen Freund. »Dieser Mann ist das Beste, was mir passieren konnte.« Sie sucht nach Worten des Vergleichs, um zu beschreiben, wie ihre Emanzipation ihre Sinnlichkeit gesteigert habe. »Wie soll ich das erklären? Vielleicht so: Wenn man die ganze Zeit nur trocken Brot bekommt und nicht weiß, dass es Kuchen und Torte gibt, dann hält man trocken Brot für gutes Essen. – Meine Güte!«, unterbricht sie sich lachend. »Das ist ja schon wieder so ein Bild von Krieg und Not! Es steckt doch alles tiefer, als man glaubt.« Mit Mitte vierzig hat sie erfahren, wie Torte schmeckt – eine Belohnung dafür, dass sie, wie sie es nennt, in die »kriegskinderfreie Zone« umgezogen ist.