Neunzehn

Autofahren mit dem Mandel ist immer dasselbe. Du redest auf ihn ein, er tut so, als ob er dir zuhört, hört aber eigentlich der Musik zu. Sobald du eine Redepause einlegst, dreht er die Musik lauter, und wenn du wieder anfängst zu reden, tut er so, als höre er dich nicht. Als wir an diesem Morgen an die Ostsee fuhren, nicht mehr lange von der kompletten Auflösung der Verhältnisse entfernt, hörte der Mandel keine Musik. Es war sonderbar still in dem gelben Fahrschulauto, weil noch nicht einmal ich redete. Der Mandel saß hinter dem Steuer, als wäre er ein Jetfighter-Pilot. Augen hellwach, die Miene zu Eis erstarrt und überhaupt von einer spielfilmreifen Determiniertheit. Er fuhr viel zu schnell, was man in dem Auto kaum wahrnahm, weil der Motor so gespenstisch leise war. Nach hundert Kilometern erlaubte ich mir dann doch eine Zwischenfrage.

»Was stand denn in der Mail?«

»Hab ich doch gesagt«, mumpfte der Mandel, gerade, dass er überhaupt den Mund aufmachte.

»Na ja, so im Detail«, hakte ich nach.

Der Mandel seufzte und zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Innentasche seine schwarzen Mantels. Ich war froh, wenn es endlich wieder wärmer wurde, dann musste ich nicht jeden Tag den schwarzen Mantel vom Mandel sehen.

Lieber Max Mandel,

der Leo hat mir von dir erzählt. Dass er dir vertraut, dass du die richtigen Dinge an der Musik schätzt. Auch an seiner Musik. Dass du ehrlich bist und es dir nicht nur ums Geschäft geht. Vielleicht hätte der Leo gewollt, dass wir uns treffen. Vielleicht hätte er gewollt, dass ich dir erzähle, was genau er vorhatte. Ich lasse es darauf ankommen. Der Leo besitzt ein Haus in Binz auf Rügen, in dem ich hin und wieder bin. Deshalb treffen wir uns bitte am Freitag um 11 Uhr auf der Promenade bei dem weißen UFO. Ich freue mich.

*L

»Was für ein UFO?«, fragte ich.

»Das ist ein Rettungsschwimmerhaus am Strand«, sagte der Mandel, als müsste man das wissen.

»Haha, und das ist ja süß, dass sie glaubt, dir geht es nicht ums Geschäft«, sagte ich.

Der Mandel riss mir das Papier aus der Hand und sagte: »Ums Geschäft geht es doch schon lange nicht mehr.«

»Sondern?«

»Darum, dass das irgendein Ende finden muss.«

Dann machte der Mandel die Musik an: Neil Young, »Southern Man« von der After The Goldrush. Ab der Hälfte ein einziges Gitarrensolo. Und kein gutes.

Auf dem Weg nach Binz über die Insel haben sie den Mandel geblitzt. Da war eine Siebziger-Zone, von der wir beide dachten, sie wäre eigentlich längst zu Ende. Aber das war eigentlich klar, dass die Polizei gerade hier ihr Blitzgerät hinstellt. Das sei die Wegelagerei der Moderne, sagte der Mandel. Raubritter, fügte er hinzu.

Zielsicher steuerte er auf Binz zu, schlängelte sich durch die Ortschaft bis zur Promenade. Ich war bis zu dem Tag noch nie auf Rügen gewesen, aber war nicht beeindruckt. Was die Villen im Ortsbild positiv herausrissen, das glichen die Leute wieder negativ aus. Spießige Rentner und ranzige Spießer, nordische Geher, fahrradfahrende Fitnessextremisten mit neongelben Helmen und quengelnde Kleinkinder. Der Mandel fand einen Parkplatz in der Geschäftsstraße, der auf eine Stunde begrenzt war. Er holte zielsicher eine Parkscheibe aus dem Handschuhfach und legte sie hinter die Windschutzscheibe, wie es sich gehört. Dann stiegen wir aus und gingen vor bis zur Promenade und die dann hinunter. Der Mandel wusste offensichtlich genau, wohin. Ich betrachtete den Strand. Er war fast leer, der Tag hatte regnerisch angefangen. Es war ein schöner Strand, weiß und breit, wie man ihn sich im Urlaub wünschen würde. Schade um den schönen Strand in so einer piefigen Ortschaft.

»Warst du hier schon mal?«, fragte ich den Mandel.

»Ja.«

»Mit wem denn?«

»Mit meinem Vater.«

»Echt? Ich dachte, du redest seit fünfzehn Jahren nicht mehr mit ihm.«

»Er war zur Kur hier und wollte sein Erbe mit mir besprechen.«

»Und was erbst du?«

»Nichts«, sagte der Mandel und zog an einer Haarsträhne, die ihm in die Stirn hing. Damit war das Thema für ihn erledigt.

Die Sache mit dem Mandel-Vater war immer schon ein heikles Eisen gewesen. Ich wusste nicht viel über das Verhältnis, außer dass es eigentlich keins mehr gab. Die Mama vom Dieter und vom Mandel war gestorben, als der Mandel zehn war, und das Über-Patriarchat schien dem Mandel nicht so gutgetan zu haben. Selbst wenn die beiden Brüder heute zusammensaßen, erwähnten sie so gut wie nie ihren Vater. Alles, was ich wusste: Der Vater vom Mandel wohnte im Nachbarort vom Dieter, der sich um das Behördliche bei dem alten Mann kümmerte und auch seine Haushälterin bezahlte. Der Mandelvater hatte zwar einiges angespart, behauptete aber vehement, er hätte nichts mehr. Die Mandels haben früher eine eigene Firma gehabt, eine Schweißerei, wenn ich das richtig im Kopf hab. In den Achtzigern hatte der Mandel-Vater Konkurs angemeldet, aber sich noch in den Siebzigern so viel zur Seite gelegt, dass er sich zwei vollständige Mietshäuser in Regensburg hatte kaufen können. Und von den Mieten hatte er angeblich nicht schlecht leben können, in seinem alten Haus, alleine mit seiner Haushälterin, die aber der Dieter bezahlen musste. Das war alles, was der Mandel von daheim erzählen wollte.

Das Telefon vom Mandel summte in seiner Innentasche. Nicht das erste Mal.

»Wer ruft denn da dauernd an?«

»Ach, das ist der Dieter. Der will wissen, ob wir gut angekommen sind.«

»Wieso gut angekommen?«

»Wegen seinem Auto wahrscheinlich.«

Jetzt sah ich das UFO. Und es sah wirklich mehr nach einem Flugobjekt als nach einem Bademeisterhaus aus. Ich kann es gar nicht richtig beschreiben, es war ein weißer Behälter auf einer kurzen Säule, abgerundete Ecken, riesige Fenster darin. Wie aus der Kulisse eines windigen Science-Fiction-Films aus den Sechzigern. Ed Wood bestenfalls. Oder wie eine extravagante Konstruktion aus den Neunzigern, als man mit einer rücksichtslosen Penetranz überall das Loungeflair der Sechziger hat hineindesignen müssen.

Natürlich hielten wir längst die Augen offen nach Adriana. Keine Ahnung, wie sie aussah, aber wenn sie eine Bumse vom Tilmann war, dann sicher nicht allzu schlecht und nicht allzu alt. Wir waren noch zirka hundert Meter vom UFO entfernt, als ich beobachtete, wie sich vom Strand aus eine Frau näherte. Weiße Strickjacke, weiße Leggins. Haare dunkelbraun und zu einer Art Kugel auf dem Hinterkopf geflochten. Ein hübsches Gesicht aus der Entfernung. Je näher sie kam, desto sicherer war ich, dass das Adriana war. Sie wirkte elegant, gleichzeitig auch unsicher, tapsig, vielleicht auch einfach nur jung. Ich hatte einen Gedanken, und sie blieb beim weißen UFO stehen. Wir waren jetzt nur noch gute fünfzig Meter entfernt.

»Das ist das Mädchen von der Beerdigung«, sagte der Mandel mit seinem erstaunlichen Gesichtergedächtnis.

»Und mir kommt sie auch bekannt vor«, sagte ich, den Gedanken noch nicht ganz in Worte fassen könnend.

»Woher « Der Mandel sagte seinen Satz nicht zu Ende, weil ihm von hinten jemand eine Pistole in den Rücken hielt.

»Strandspaziergang machta ’n andermal«, sagte der wulstige Typ mit dem akkuraten Mittelscheitel und legte seinen Arm um die Hüfte vom Mandel. Ich hatte meinen eigenen Entführer, mit Wollmütze auf dem Kopf und einem pickeligen, aber glattrasierten Gesicht. Hätte ich so viele Pickel, ich würde mich nicht glattrasieren. Vor allem nicht nass. Aber der Pickelige war da scheinbar anderer Meinung, den Furchen in seinem Gesicht nach zu urteilen. Er war höchstens achtzehn. Auch er hatte eine Pistole, die er mir in die Seite bohrte. Die beiden dirigierten uns von Adriana weg, noch bevor sie uns bemerkte.

»Hilfe«, sagte ich versuchsweise, und der Pickelige haute mir sein Knie zwischen die Beine, dass mir schwarz vor Augen wurde. Wäre es nach mir gegangen, wäre ich jetzt zusammengesackt, aber der Pickelige schleppte mich weiter. Gleich bei der Promenade stand ein schwarzer Jeep mit einem wartenden Fahrer. Klar war der Wagen schwarz. Das möchte ich mal sehen, dass ein Verbrecher ein grünes Auto fährt. Oder ein gelbes. Unsere beiden neuen Bekannten setzten sich mit uns nach hinten in den Wagen, während der Fahrer, ein Mann mit Baseballmütze und Ziegenbart, zurück auf die Hauptstraße steuerte. Unsere beiden neuen Bekannten nahmen uns Handy und Portemonnaie ab. Was für ein Glück, dass ich die Karten nachbestellt hatte. Jetzt war das doch nicht umsonst gewesen.

»Was wollt ihr?«, fragte der Mandel und schob verstohlen den Ärmel seiner Jacke über seine teure Uhr.

»Wir wolln gar nix«, sagte der Mittelscheitel und erinnerte mich in seiner unverbindlichen Patzigkeit an die Handwerker, die meine Hausverwaltung hin und wieder vorbeischickte, wenn im Haus was kaputt war. Denen konnte man auch die vernünftigsten Fragen stellen, man bekam nie eine vernünftige Antwort. Und nie erklärten einem solche Leute, was sie gerade taten, selbst wenn es in deinen eigenen vier Wänden war.

»Aaah«, sagte ich, immer noch wegen dem Tritt in die Eier. Ich konnte kaum die Augen offen halten vor lauter Schmerz. Das Telefon vom Mandel summte vorne auf der Ablage. Wir fuhren nicht lange, ich glaube, es dauerte keine zehn Minuten, bis wir auf dem Parkplatz eines überlangen Gebäudekomplexes hielten, dessen Fassade zumindest landseitig ziemlich heruntergekommen wirkte. Der Mandel sah unleidig aus.

»Auch das noch«, sagte er, als hätte jemand einen Elfmeter verschossen.

»Auch was noch?«, fragte ich.

»Die Herrschaften, aussteigen bitte«, sagte der Mittelscheitel.

»Kraft durch Freude«, sagte der Mandel.

»Ganz genau«, sagte der Scheitel.

Ich verstand nur Bahnhof. Unsere beiden Begleiter führten uns zu einem kleinen Eingang. An der Tür hing ein gelbes Plakat mit den Überschriften NVA -Museum und KdF -Museum. Innen am Eingang saß ein Typ in einem gestreiften Pullover hinter einem Tisch und lächelte, als er uns kommen sah.

»Heute Eintritt frei. Tag der offenen Tür«, lachte er und gab dem Mandel mit Anlauf einen Stempel auf die Stirn, während der Mittelscheitel ihn festhielt. Auf der Stirn vom Mandel stand jetzt bezahlt.

»Arschloch«, sagte der Mandel, aber kam ungestraft davon. Der Mittelscheitel, der Pickelige und der Typ vom Einlass lachten nur.

»Das zweite Gästezimmer ist frei«, sagte der Typ vom Einlass.

Man schleifte uns durch den Eingangsbereich zu einer Treppe. Ich sah ein Schild, das auf die KdF-Ausstellung verwies, und einen Pfeil zu einer Sammlung deutscher Motorradroller. Ein weiterer Pfeil zeigte nach oben und war mit NVA -Museum beschriftet. Man drängte uns die Treppe hinauf und langsam kam die Angst. Beim Mord am Tilmann war noch die Aufregung und das Berauschen an einem Lebensumschwung gewesen. Mit dem brennenden Auto vom Mandel kam ein Unwohlsein dazu, und der Mord am Edelstein hatte uns fast aus dem Fall hinausgegrault. Und jetzt kalter Schweiß und ein Ziehen im Bauch, wie man es sonst nur vom Verliebtsein kennt. Jetzt nistete sich die Angst ein, dass es lebensgefährlich werden konnte. Zumindest für mich. Weil der Mandel sich immer irgendwie aus Misslichkeiten herauswand. Weil der Mandel immer weich fiel. Und ich immer der war, den die ganze Gewalt des Aufpralls erwischte.

Sie schoben uns einen Gang entlang, vorbei an vergitterten Ausstellungszimmern, in denen sich Devotionalien der Nationalen Volksarmee der Deutschen Demokratischen Republik befanden. Sauber aufgereihte Uniformen in Plastikhüllen mit Medaillen in Schaukästen davor. Im Raum daneben eine Wand voller Gasmasken, von der Decke hing eine Puppe im Kampftaucheranzug. Für meinen Geschmack höchst makaber, so eine kommentarlose Aufreihung. In einem anderen Raum ein Altar für schwere Waffen auf einem Tischtuch aus rotem Samt und besonders kurios: ein Zimmer voller holzversetzter Terminals mit Computern und Druckern aus einer Zeit, in der es meines Wissens noch keine Drucker und Computer gegeben hat.

Ich wusste nach wie vor nicht, wo wir uns befanden, aber der Mandel hat es später in mich hineindoziert. Dieses Monstrum von einem Gebäude war ein sogenanntes Seebad, das die Prokuristen des Dritten Reichs hatten bauen lassen, um ihrem Volk ein einheitliches Urlaubserlebnis an der Ostsee zu bieten. Den »Koloss von Prora« nannte man das Untier im Volksmund, hat der Mandel gesagt. Im Zuge der ideologischen Gleichschaltung wollte man hier Urlaub nach Vorschrift durchsetzen so was können sich auch nur die Deutschen ausdenken , aber so richtig fertig ist das Gebäude wohl nie geworden. Es war nur passend, dass nach dem Krieg irgendwann die NVA hier ihre Zelte aufschlug. Und vorübergehend auch die Bundeswehr. Kurzzeitig ist hier auch mal eine großzügig angelegte Jugendherberge eingezogen, aber entweder gab es nicht genug jugendliche Rechtsekzeme, die hier ihre Freizeit verbringen wollten, oder das Ding war selbst für Campingtouristen zu hässlich.

Damit der Laie sich ein Bild von der ursprünglich intendierten Gemütlichkeit machen konnte, hatte man ein paar der Gästezimmer wieder originalgetreu hergerichtet. Und es war gerade diese Originaltreue, die bestialisch auf mich wirkte.

Der Mandel und ich blickten in einen engen Raum, der in der Hauptsache aus zwei frisch gemachten Betten bestand. Die Betten sahen mit ihren Metallrahmen wie Krankenhausbetten aus. Rechts von den beiden Betten standen ein kleiner Holztisch und zwei Holzstühle. Ein großes Fenster ging vermutlich zur See hinaus, es war vergittert und halb verhüllt von zwei orange-braunen Vorhängen. Vor dem Fenster ein kleiner Servierwagen. Auf jede der Bettdecken hatte jemand eine weiß-rosarote Rose gelegt. Depression war der erste Eindruck, egal, in welchem Jahrzehnt man lebt. Selbst mit einem Plasma-Fernseher und einer Minibar hätte dieses Zimmer einem nicht das Gefühl von Urlaub vermitteln können. Im besten Fall wirkte es wie eine Gefängniszelle, auf mich machte es eher den Eindruck einer letzten Ruhestätte. Die Rosen auf dem Bett waren die Blumen auf unserem Grab.

»Schönen Urlaub und Heil Hitler«, sagte der Wulstige mit dem Mittelscheitel, und der Pickelige lachte. Das hatte ich mir sowieso immer gedacht, dass selbst die Rechtsextremen so ein »Heil Hitler« albern fanden. Der gut gelaunte Pickelige drehte mich dann spontan zu sich und schlug mir ins Gesicht, so dass ich rückwärts in den Raum taumelte, direkt auf das Bett. Der Mandel wurde hinterhergeschubst, aber ich weiß nicht, ob man ihn auch geschlagen hatte. Es wäre typisch, wenn es nur wieder mich getroffen hätte. Zumindest reichte sein Schwung nicht aus, um auf mich draufzufallen.

Eine Weile lag ich so da, auf dem Rücken, den Blick auf die niedrige Decke des Gästezimmers vom Koloss von Prora gerichtet. Blut, das mir ursprünglich aus dem Mund gelaufen war, lief wieder in den Mund zurück, weil ich mit der Zungenspitze darin herumbritzelte. Der Mandel hatte sich mittlerweile den Bezahlt-Stempel von der Stirn gewischt, aber ein grauer Fleck war übrig geblieben. Er versuchte, mit Gewalt die Tür zu öffnen, wirkte aber nicht überrascht, als es ihm nicht gelang. Ich unternahm nichts. Es war gar nicht der Schlag ins Gesicht, der mich so apathisch auf dem Bett liegen ließ, es war der Schwindel.

»Wer war das Mädchen? Bevor man uns einkassiert hat, da hast du gesagt, du weißt es«, fragte der Mandel.

»Ich bin mir nicht sicher. Sie kommt mir bekannt vor, hab ich gesagt«, sagte ich.

»Jetzt sag schon, Sigi.«

»Findest du nicht auch, dass wir uns ein bisschen auseinandergelebt haben?«

»Wer ist das Mädchen, Sigi?«

»Ich finde schon, dass wir uns auseinandergelebt haben.«

»Na gut«, seufzte der Mandel. »Wer hat sich auseinandergelebt?«

»Du und ich.«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«, fragte der Mandel und sah verwirrt aus. Vielleicht war es ihm ja wirklich nicht aufgefallen.

»Ich finde, wir haben uns in den letzten Wochen wie Konkurrenten verhalten. Wegen der Malleck.«

»Ach, die Malleck«, sagte der Mandel herablassend.

»Wie, ach, die Malleck?«, fragte ich.

»Ach, die Malleck. Die ist den Ärger doch nie wert gewesen.«

»Ach so, jetzt auf einmal.«

»Denkst du denn, das wäre was für länger gewesen mit euch, Sigi?«

»Ja, nein, wahrscheinlich nicht. Aber nach dieser ganzen Maria-Angelegenheit, da war ich halt anfällig. Das Ego, das wird ja ziemlich in Mitleidenschaft gezogen bei so chaotischen, gallertartigen Geschichten wie mit Maria. Und dann kommt eine Prominente. Klar verliebt man sich da. Und dann ist eben alles egal.«

»Nur wenn man so angelegt ist, dass einem wegen einer Verliebtheit alles egal ist«, sagte der Mandel vorwurfsvoll.

»Okay, John Wayne, sag mir, dass du sie nicht gebumst hättest.«

»Ich hab sie gebumst, Sigi. Hab ich. Lange vor dir.«

»Wie bitte?« Ich setzte mich auf. Trotz des Schwindels.

»Ruhig Blut, Sigi. Da war sie noch nicht bekannt. Sie hat diesen Film gedreht, von der Filmhochschule aus, diesen Königskinder, wo sie die Tochter von einem SED-Funktionär spielt. Der Verleih hat mir quasi ein Interview aufgedrängt, und weil wir in dem Monat eh ein Ostrock-Spezial im Express hatten, passte das ganz gut. Vielleicht erinnerst du dich. Nach dem Interview sind wir noch was trinken gegangen. Wie es halt so ist.«

»Du Motherfucker, Mandel, das hast du mir nie erzählt!«, schrie ich ihn an. Die Rechten draußen würden sich auch wundern, was wir für Sorgen hatten.

»Man redet da nicht drüber. Wenn die Personen bekannt sind oder später bekannt werden, redet man nicht darüber.«

»Aber das gilt doch nicht für deinen besten , ach Scheiße, du weißt schon, was ich meine.«

»Doch, das gilt auch für meinen besten Freund«, sagte der Mandel ganz sachlich. Den besten Freund betonte er explizit.

Jetzt war ich verwirrt, weil der Mandel sich zwiespältig verhielt. Einerseits stellte er einen seltsamen Ehrenkodex den es meiner Meinung nach überhaupt nicht gibt über unsere Freundschaft. Andererseits bejahte er, mein bester Freund zu sein, und da war ich dann doch gerührt. Dann musste ich dran denken, wie der Mandel und die Malleck

»Wer war denn jetzt das Mädchen am Strand? Die war nämlich auch auf der Beerdigung vom Leo. Sie stand abseits«, fragte der Mandel.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ich hab den Laptop vom Tilmann durchsucht und die ganzen alten Fotos gefunden. Und da gab es ein Kind, das mich ziemlich an das Mädchen vom Strand erinnert hat.«

»Ja, und?«

»Ich glaube, das ist die Tochter vom Schredder.«

»Die Tochter vom Schredder? Das ist ja widerlich.«

»Wieso widerlich?«

»Na ja, ich stell mir grade vor, du hast eine Affäre mit meiner Tochter.«

»Hast du eine Tochter?« Jetzt war ich kurz erschrocken.

»Nein, Blödmann. Parabel.«

»Ah. Ja, stimmt schon, wenn das wirklich eine Affäre von ihm ist, dann ist das widerlich. Und wenn ich Recht habe, dann ist das die Tochter vom Schredder seiner Ex-Frau, der Anna Münster. Auch ein scharfes Gerät. Genau wie seine jetzige Frau, diese Irina.«

»Allerdings«, bekräftigte der Mandel.

»Wenn der Tilmann aber tatsächlich die Tochter vom Schredder nagelt, dann hat die gleich mehrere Probleme. Erstens bekommt sie sicher einen Riesenärger mit ihrem Papa und zweitens einen Riesenärger mit der Neumann-Truppe, wenn sie im Besitz der Aufnahmen ist«, sagte der Mandel.

»Aber ich glaube nicht, dass die das Mädchen gesehen haben. Die sind uns einfach nur bis Binz nachgefahren. Vielleicht haben sie ja einen Peilsender benutzt. Einen dieser Markenpeilsender mit der langen Akkulaufzeit«, sagte ich.

»Selten so gelacht«, sagte der Mandel.

Irgendwann muss ich kurz eingeschlafen sein, zumindest fand sich Platz für einen Traum.

Ich bin seit Jahren wieder mal in meiner zweiten Wohnung. In meinen Träumen besitze ich ein zweites Apartment. Das Haus ist ein flacher Neubau und steht auf einer Art Betonplateau, leicht über den Bürgersteig erhoben, in etwa so wie eine dieser alten Kaufhallen. Vorne ein Schaufenster, wie bei einem Geschäft. Innen gibt es einen Vorraum mit einer kleinen, heruntergekommenen Küchenzeile und einem Tisch. Dahinter, ohne Tür oder Durchgang, nur durch ein Mauereck abgetrennt, fängt der Wohnbereich an. Mit einer Couch, einem Fernseher, einer Matratze auf dem Boden und einem Tisch mit einer uralten Stereoanlage darauf. Es stehen einige LPs herum, mehrere von Joni Mitchell, die Aqualung von Jethro Tull, zwei Alben von Quicksilver Messenger Service und die Mars Hotel von Grateful Dead. Das wirklich Merkwürdige an der Wohnung ist, dass man aus dem Wohnbereich durch eine Schiebetür in den hinteren Teil des Gebäudes gelangt. Dort gibt es ein zweites Schlafzimmer mit roten Wänden. Alte, vermutlich teure Perserteppiche liegen auf dem Boden, und naive Malerei hängt an den Wänden. Doch mit dem prunkvollen Schlafzimmer aus einer anderen Epoche ist die Wohnung nicht zu Ende. Ein Arbeitszimmer in schwerem Dunkelgrün mit einem gewaltigen Sekretär schließt sich an und dahinter ein weiteres Schlafzimmer mit einem Himmelbett mit Vorhängen. Es ist fast wie bei diesen Schlossbesichtigungen, wo man in den Seitenflügeln von Zimmer zu Zimmer geht und eigentlich das Gefühl hat, einen nicht enden wollenden Gang abzuschreiten. Am Ende der drei zusätzlichen Zimmer, die durch identische Schiebetüren verbunden sind, befindet sich eine Art Waschküche, wo mehrere Waschmaschinen stehen und jemand weiße Handtücher an Leinen, die an der Decke entlanggespannt sind, aufgehängt hat. Aus der Waschküche führt eine kleine Tür aus Metall in einen langen Garten mit akribisch aufgereihten Bäumen, durch den ein kleiner Bach fließt. An dem Bach spielen kleine Kinder. Ich weiß, dass der geräumige hintere Teil meines Apartments einem Arzt gehört, ich weiß aber nicht, ob ich ihn benutzen darf. Es ist zwar nie jemand in der Wohnung außer mir, aber die Miete, die ich bezahle, ist so lächerlich gering, dass sie unmöglich die noblen Hinterzimmer beinhalten kann. Ich bin manchmal jahrelang nicht in der Wohnung, und ich nehme nie jemand mit. Das ist das erste Mal, dass ich nicht alleine da bin.

»Warum hast du noch eine zweite Wohnung?«, fragt der Mandel.

»Weil ich sie vergessen habe.«

»Aber die Abbuchung der Miete, siehst du das nicht auf deinen Kontoauszügen?«

»Ich schau nie auf meine Kontoauszüge.«

»Was machst du mit der Wohnung?«

»Nichts. Es ist nur gut, dass es sie gibt. Damit ich auch mal in einem anderen Viertel übernachten kann.«

»Aha«, sagt der Mandel.

»Herr Singer«, ruft jemand aus den noblen Hinterzimmern.

»Ich komme gleich«, sage ich.

»Wer ist denn das?«, fragt der Mandel.

»Das ist der Arzt, dem das Haus gehört. Ich geh mal zu ihm, ich hab ja noch nie mit ihm persönlich geredet.«

Auf dem Weg durch die Hinterzimmer frage ich mich wieder, warum hier nie jemand ist. Der Arzt wartet in dem Arbeitszimmer. Er sitzt hinter dem riesigen Sekretär. Er sieht eigentlich aus wie ein Anwalt, er trägt eine schwarze Robe und eine Richterperücke.

»Herr Singer, ich muss gleich weg, aber Sie müssen diese Wohnung auflösen. Es ist wegen Eigenbedarf.«

»Eigenbedarf? Aber hier ist doch nie jemand.«

»Die Wohnung wird verkauft.«

»Aber Sie sagten doch Eigenbedarf.«

»Sie können nicht mehr hier wohnen. Es ist zu spät dafür. Wo waren Sie denn die ganzen Jahre?«, sagt der Arzt, der jetzt definitiv ein Richter ist.

»Ich war doch immer in der Nähe«, sage ich.

»Wie bitte?«, sagt der Richter.

»Wie bitte?«, sagte der Mandel.

Er stand mit dem Rücken zu mir und schaute aus dem Fenster auf den Strand von Prora, den man wegen den hohen Bäumen kaum sehen konnte, was für ein Strandhotel eine Enttäuschung war.

»Was meinst du?«, fragte ich, während ich kurz überlegte, wo ich war.

»Du hast doch was gesagt.«

»Ich hab geträumt«, sagte ich. »Wie spät ist es?«

»Fast drei.«

»Schon so spät.«

»Was denkst du, was jetzt passiert?«, fragte ich.

»Die werden wohl ein paar Fragen stellen.«

»Wegen den Aufnahmen?«

»Vermutlich.«

»Fucking Fuck. Alles wegen diesem Soloalbum. Die überschätzen doch völlig die Wirkung von der Platte. Im Endeffekt interessiert das doch keine alte Sau, wenn der Tilmann auf Protestsänger macht. Was soll der auch aufdecken mit seiner Musik? Wann hat jemals irgendwer etwas aufgedeckt mit Musik? Der Urbaniak wird die Platte sowieso nicht herausbringen. Weil es von den Musikjournalisten nur Häme hageln würde, wenn der Tilmann einen auf Weltverbesserer macht. Nachdem der so einen Sellout die Jahre vorher betrieben hat. Und der Konsument kann doch mit so einer Message-Musik auch nichts anfangen. Das nervt die Leute doch nur, wenn sie politisch erzogen werden. Ich sag dir, was passiert, Mandel: Am Ende gibt es eine neue Best of DEMO mit einem der Folksongs vom Tilmann als Hidden Track und jedes Jahr zum Todestag das große DEMO-Reunion-Konzert, wo der Tilmann auf einer großen Leinwand eingespielt wird, während die anderen Hanseln ihre größten Hits runternudeln. Vielleicht gehen sie auch mit dem Tilmann auf Leinwand auf Tour, so wie Queen. Das haben wir doch alles schon tausendmal erlebt. So ein Musikertod ist nichts Besonderes mehr. Und ein Soloalbum noch viel weniger. Das ist alles viel zu viel Lärm um nichts und wieder nichts. Die steigern sich alle in etwas hinein. Bis ins Ungesunde steigern sich alle hinein. Und wegen dem Hineinsteigern aufgrund von ein paar Musikstücken müssen wir jetzt um unser Leben fürchten. Das ist doch hochgradig lächerlich. Sag doch auch mal was«, fuhr ich den Mandel an, weil ich mich so in Rage geredet hatte.

»Jetzt beruhig dich, Sigi. Und na ja, der Biermann hat schon etwas bewirkt damals. Das mit der Ausbürgerung«, sagte der Mandel.

»Warum hat niemand den Tilmann ausgebürgert? Jetzt ist es zu spät«, sagte ich.