Siebzehn

Jemand hatte den Edelstein-Anwalt in den Scharmützelsee geworfen. Jetzt war er tot. Die Malleck saß mit roter Nase, aber immer noch evabraunen Haaren bei uns im Büro und erzählte uns das in einer Art und Weise, dass man selbst noch beinahe um den Edelstein getrauert hätte. Aufgelöst war das richtige Wort. Sie saß auf demselben Stuhl, auf dem sie vor knapp vier Wochen gesessen hatte, aber ihre Beine waren nicht übereinandergeschlagen, sondern standen nebeneinander, so dass man ihr aus einer günstigen Perspektive unter den schwarzen Rock hätte schauen können. Der Mandel saß auf dem Schreibtisch, genau der Malleck gegenüber, und hielt ihre Hand, was ich merkwürdig fand. Draußen an der Ladenfront sah ich den Hausmeister entgeistert ins Büro stieren. Vielleicht hatte er die Malleck kommen sehen und hatte schon ein Handyfoto für die Bildzeitung gemacht und fünfzig Euro Leserpaparazzi-Prämie kassiert.

»Heute Morgen haben sie ihn aus dem See gezogen. Seine Frau hat mich angerufen«, sagte die Malleck, und ich gab dem Hausmeister per Handzeichen zu verstehen, gefälligst woanders Stasi zu spielen. Mein Handzeichen war der Mittelfinger.

»Wir waren da auch schon mal segeln«, schluchzte die Malleck.

»Der Edelstein war verheiratet?«, fragte ich entsetzt, und der Mandel warf mir einen bitterbösen Blick zu.

»Der hat übrigens für den Neumann gearbeitet«, setzte ich hinzu, und im Nachhinein sehe ich ein, dass ich mich respektlos gegenüber dem Todesfall vom Edelstein verhalten habe. Aber im Nachhinein ist es auch egal.

»Mit dem Neumann«, korrigierte mich der Mandel.

Die Malleck setzte ihre Ahnungslosigkeit mimisch gut um.

»Wer ist der Neumann?«, fragte die Malleck.

»So ein rechter Politiker«, sagte ich.

»Eigentlich hat er für den Leo gearbeitet. Quasi undercover«, klärte der Mandel auf.

»Wie bitte? Undercover?«, fragte die Malleck.

»Wegen dem Protestfolk-Album vom Leo. Als Doppelagent«, sagte ich.

»O nein«, sagte die Malleck und strich sich die braunen Haare aus dem Gesicht.

»Das ist ja alles viel schlimmer, als ich gedacht habe. Dann haben die Rechten den Holger umgebracht?«, sagte die Malleck.

»So sieht’s aus«, sagte ich von der anderen Seite des Schreibtisches.

»Als ob die Dinge nicht schon schlimm genug wären.«

»Wird sicher bald alles wieder besser«, sagte ich und kam mir schon zwei Sekunden nach dem Satz blöd vor.

»Max«, sagte die Malleck zum Mandel, der mittlerweile nicht mehr ihre Hand hielt.

»Ich hab mit dem Sigi geschlafen.«

»Ich weiß«, sagte der Mandel und schaute verständnisvoll.

»Nur, dass du es weißt. Ich will nicht, dass es zwischen euch steht.«

»Ach Quatsch, ich weiß doch, wie einsam du grade bist.«

Was für ein Arsch, der Mandel.

»Ich will ja auch nicht wie ein Flittchen dastehen«, sagte die Malleck.

War man ein Flittchen, wenn man mit mir ins Bett ging?

»Warst du mit dem Holger zusammen?«, fragte der Mandel.

Die Malleck weinte jetzt. Schwer zu sagen, ob diese Staatstrauer echt war. Ich war nach wie vor verliebt, aber traute ihr nicht über den Weg. Wollte sie aber gleichzeitig dringend gegen die Wand drücken und durchficken, bis unser Fickschweiß die hässliche alte Tapete im Büro von der Wand löste. Ich musste nur noch den Mandel loswerden.

Die Malleck schaute auf ihre Füße, die in flachen lila Schuhen steckten.

»Es war nur kurz. Und ich wollte nicht weitermachen. Der Holger hat ja Familie. Wenn auch auseinandergelebt.«

»Verstehe«, sagte der Mandel.

»Sigi, bist du so lieb und machst uns drei einen Kaffee?«, sagte er zu mir.

Ich weiß gar nicht, warum ich immer noch der Büßer war, nachdem der Mandel mich fast im Scharmützelsee hatte ertrinken lassen. Ich ging in die kleine Küche und schüttete lustlos italienisches Espressopulver in die Maschine, die nur jeweils zwei Tassen schaffte. Also verzichtete ich freiwillig auf meinen Kaffee, weil jede weitere Tasse mit dieser Maschine eine Sauerei war.

»Hast du den Edelstein ertränkt?«, fragte mich der Mandel, nachdem die Malleck weg war.

»Klar. Mein Fight-Club-Alter-Ego hat ihn über die Reling gehängt und so lange unter Wasser gehalten, bis er hin war.«

»Jetzt beruhige dich. Ich frag ja nur, weil der Winter das auch fragen wird. Vielleicht hat er ja mittlerweile dein Portemonnaie gefunden.«

»Der ist doch gar nicht zuständig für das Kaff da draußen.«

»Aber für dich ist er zuständig.«

»Was sollte eigentlich das arrogante Getue, von wegen die Malleck so einsam und allein, da kann sie ja auch mit meinem Adjutanten Sigi Singer pennen?«

»Jetzt hör auf. Das bildest du dir ein. Du bist doch nicht mein Assistent. Du bist mein Partner.«

»Adjutant hab ich gesagt.«

»Adjutant bist du?«, fragte der Mandel.

»Nein, eben nicht, aber du hast Assistent gesagt und ich Adjutant.«

Der Mandel sah mich verständnislos an.

Abends stand der Winter bei mir vor der Haustür. Er war mit einem Kollegen in Zivil und einem Uniformierten da und fragte, ob ich kurz Zeit für ein paar Fragen auf dem Revier hätte.

»Nein«, sagte ich.

»Dürfen wir reinkommen?«, fragte der Winter.

»Ist gerade schlecht.«

»Dann kommen wir mit einem Durchsuchungsbefehl wieder«, sagte der Winter.

»Wieso Durchsuchungsbefehl?«

»Dringender Mordverdacht, Verdunklungsgefahr und blablabla«, sagte der Winter.

»Und wie lange dauert das?«, fragte ich.

»Wie lange dauert was?«, fragte der Winter.

»Bis ihr mit einem Durchsuchungsbefehl wiederkommt«, sagte ich.

»Dauert nicht lang«, sagte der Winter, winkte seinem Kollegen in Zivil. Ich zog die Tür zu, aber keine zehn Sekunden später klingelte es wieder. Ich öffnete.

»Wieder da.« Der Winter zog mich am Genick aus dem Hauseingang raus. Wie einen Hund.

»Ziehen Sie sich Schuhe an, Singer, oder ich nehme Sie barfuß mit aufs Revier.«

»Das dürfen Sie doch gar nicht«, sagte ich, war mir aber natürlich nicht sicher.

Der Winter zückte einen Gegenstand aus der Innentasche seines Jacketts. Es war mein Portemonnaie. Und das, wo ich schon alle Karten gesperrt hatte.

Auf dem Revier dann wieder das Gefrage. Warum waren Sie in Diensdorf-Radlow an dem Tag? Wieso liegt Ihr Portemonnaie am Ufer? Wie war Ihr Verhältnis zu dem Ermordeten? Haben Sie den Ermordeten ermordet? Im Nachhinein ist mir schleierhaft, wie der Mandel die Gespräche mit dem Winter so über sich ergehen lassen konnte und dabei auch noch das eine oder andere interessante Detail verschwieg. Mir setzte die strenge Behördlichkeit und das Damoklesschwert der Strafverfolgung so sehr zu, dass ich eigentlich nur die Wahrheit sagen konnte. Zudem gab mir der Winter das Gefühl, dass er mich nicht nur für den Tod vom Edelstein, sondern auch für den Zerfall der gesamten westlichen Welt verantwortlich machen wollte. Und wenn es für den Mordkommissar Winter etwas gab, das noch schlimmer war als Leute aus der Medienbranche, dann waren es Leute aus der Medienbranche, die sich jetzt als Privatdetektive versuchten. Ich erzählte und erzählte, bis auf die Anbahnungen mit der Malleck, versteht sich, aber der Winter wurde immer wütender, weil er nicht verstand, warum der Mandel und ich so handelten, wie wir handelten. Und da konnte ich ihn fast verstehen.

»Warum haben Sie sich mit dem Neumann getroffen? Das habe ich immer noch nicht verstanden. Sie sind doch beauftragt, die verschwundenen Aufnahmen zu suchen, und nicht, bei solchen Leuten zu spionieren. Erklären Sie mir das, weil ich sonst wütend werde.«

Der arme Winter. Da rennst du dir die Füße blutig wegen einem Spektakelmord im Prominentenmilieu und stehst unter riesigem Erfolgsdruck wegen der Presse, aber auch wegen der hausinternen achtzigprozentigen Aufklärungsrate, und dann pfuschen dir zwei Freizeitpolizisten ins Handwerk und machen alles nur noch komplizierter.

»Der Edelstein hat uns eingeladen. Wir wussten gar nicht, dass der Neumann auch da ist. Eigentlich war auch nur der Mandel eingeladen«, sagte ich.

»Ach so. Und Sie sind nicht so speziell mit dem Herrn Edelstein.«

»Wir kennen uns eigentlich gar nicht richtig.«

»Immerhin haben Sie sich in Ihrem Büro geprügelt.«

Der Hausmeister, der gemeine Denunziant.

»Das war eine geschäftliche Prügelei«, sagte ich.

»Eine geschäftliche Prügelei? Und Sie sind sicher, dass Sie nach Ihrem Segeltörn nichts weiter getan haben, als alleine auf einer Holzbank am Scharmützelsee zu sitzen und Ihr Portemonnaie zu verlieren und dann mittellos ins Hotel Odin einzuchecken?«

»Immer noch ganz sicher.«

»Und Sie wollten unbedingt noch eine Nacht in Diensdorf-Radlow verbringen, weil

»Weil es da schön ist. Und wann kommt man schon mal aus der Stadt raus? Nein, natürlich weil ich mein Portemonnaie verloren und außerdem den letzten Bus verpasst hatte.«

»Aber warum hat Sie der Herr Mandel denn nicht mit zurück in die Stadt genommen?«

»Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

»Hören Sie mal, Herr Singer, wenn Sie glauben, Sie können mich hier hinhalten, dann können wir auch andere Saiten aufziehen. Was ist nach dem Segelausflug passiert?«, fragte der Winter lodernd.

»Es war dieser Schwindelanfall.«

»Hast du etwas herausgefunden?«, fragte mich der Mandel am nächsten Tag im Büro.

»Aber ich wurde doch verhört«, sagte ich.

»Wann wurde denn der Edelstein umgebracht? Und wie genau? Hast du da nicht mit dem Winter drüber geredet?«

»Ach so. Jemand hat ihn mit einem stumpfen Gegenstand bewusstlos gehauen und dann in den See geworfen. Etwa zu der Zeit, als ich meinen Schwindelanfall hatte.«

»Den du hoffentlich nicht zugegeben hast.«

»Na ja.«

»Wenn deine Geschichte nicht so unglaublich erfunden klänge, hättest du jetzt ein ernsthaftes Problem.«

»Das sagt der Winter auch.«

»Die arme Malleck. Die Typen sterben ihr weg wie die Fliegen«, sagte ich, und der Mandel zog die Augenbrauen hoch.

»Ich muss nochmal mit dem Urbaniak reden«, sagte der Mandel.

»Warum?«

»Weil ich nicht glaube, dass es da nur um ein paar harmlose Aufnahmen mit Antifa-Texten geht. Sonst würden doch nicht alle so ein Theater machen.«

»Du kennst doch die Musikindustrie«, sagte ich.

Der Urbaniak hatte seine Specklocken zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden und trug ein marineblaues Hemd mit einem aufgestickten Emblem auf der linken Brust. Der Mandel saß ihm gegenüber in einem schwarzen Polohemd, auch mit einem Emblem auf der Brust. Der Urbaniak rollte mit der Handfläche einen Kugelschreiber hin und her, und den Mandel machte so was wahnsinnig. Aber man merkte ihm das natürlich nicht an.

»Das ist ja Irrsinn mit dem Holger. Irrsinn. Worauf hat der sich denn da eingelassen?«

»Furchtbar«, sagte der Mandel.

»Und die arme Roni. Das arme Mädchen.«

»Schlimm«, sagte der Mandel.

»Furchtbar«, sagte der Urbaniak.

»Was soll man da sagen?«, sagte der Mandel.

»Grauenvoll. So ein Gemetzel«, sagte der Urbaniak, und fast hätte der Mandel lachen müssen wegen dem Gemetzel. Weil es für ihn immer klang wie »Geschnetzeltes«.

»Was ist das für eine Welt?«, sagte der Urbaniak und nahm sein Telefon in die Hand.

Der Mandel wartete geduldig in seinem Stuhl vor dem Schreibtisch vom Urbaniak. Der Urbaniak legte sein Telefon weg und fing wieder an, den Kugelschreiber mit seiner Handfläche zu rollen.

»Aber wir müssen trotzdem kurz übers Geschäft reden.«

»Deswegen bin ich hier«, sagte der Mandel.

»Was gibt’s Neues wegen den Songs vom Leo? Wo sind die Dinger? Wissen wir das jetzt?«

»Noch nicht ganz, Karsten. Noch nicht ganz. Wir wissen jetzt, dass die Songs existieren, weil der Leo sie in seinen Unterlagen erwähnt. Wir wissen auch, dass der Leo mit jemand in Verbindung stand, der die Songs entweder auch kennt oder sogar für den Leo verwahrt hat. Diese Person müssen wir nur noch ausfindig machen.«

»Aha. Eine Person. Und welche Person ist das?«, sagte der Urbaniak.

»Es gibt ein paar Hinweise, aber ich will jetzt noch nicht ins Detail gehen, sonst kommen wir durcheinander.«

»Das würde mich jetzt schon interessieren, was das für eine Person ist«, sagte der Urbaniak und stand auf. Er ging um seinen maßlos großen Schreibtisch herum und türmte sich vorm Mandel auf. Der blieb ruhig sitzen.

»Erstens wissen wir noch nicht genug, zweitens darf jetzt nichts passieren, was diese Person verschrecken könnte. Das ist ein Tanz auf dünnem Eis«, sagte der Mandel und schaute dabei eindringlich hinauf zu der drohenden Urbaniak-Lawine, bis der sich wieder hinter seinen Schreibtisch zurückzog.

»Na schön, aber sobald du weißt, wer es ist, sagst du Bescheid«, sagte der Urbaniak, und es klang leicht beleidigt.

»Logisch. Aber da ist noch etwas anderes.«

»Shoot«, sagte der Urbaniak, und der Mandel verstand ihn erst nach einer semantischen Schrecksekunde.

»Man hat erst den Leo umgebracht, dann hat jemand mein Auto angezündet, und jetzt ist der Edelstein tot. Das kann doch nichts mit den Songs zu tun haben, oder? Das ist doch nicht so eine große Sache, wenn jemand ein Soloalbum veröffentlicht, oder? Selbst wenn er ein politisches Album geschrieben hätte. Das löst doch nicht solche Brutalitäten aus, oder ist mir da etwas entgangen?«

»Nein, nein. Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin doch selbst im Schockzustand. Ich weiß nicht, warum der Leo tot ist und wer dein Auto angezündet hat. Dass der Holger etwas mit Rechten zu tun hatte, ist mir auch neu. Aber das hat alles nichts mit dem Soloalbum zu tun. Ich mach doch hier lediglich meinen Job und will, dass die Leute die letzte Platte vom Leo noch hören können. Das haben die Fans doch verdient, dass sie nochmal Abschied nehmen. Kommst du eigentlich auf das große Abschiedskonzert von DEMO in Hamburg? Da spielen die Jungs noch mal die großen Songs mit ein paar Special Guests, wie zum Beispiel «

Der Mandel war nicht jemand, der andere Leute oft beim Reden unterbrach, aber mit dem Marketinggeschwafel brauchte ihm der Urbaniak jetzt nicht kommen.

»Ja, ja. Also du denkst nicht, dass die Morde mit den Aufnahmen zu tun haben? Weil das macht ja auch unseren Job ein bisschen gefährlicher als ursprünglich angenommen.«

»Jetzt versteh ich dich, Max. Klar kann ich euch da noch was extra zahlen. Und das mit dem Auto tut mir leid, aber das hat doch nichts mit dem Leo zu tun. Das ist einfach nur ein komischer Zufall.«

»Hmm«, machte der Mandel. »Wenn wir jetzt die Demos finden, und es ist tatsächlich ein Protestfolk-Album, bringt ihr es dann genau so raus?«, fragte der Mandel.

»Das releasen wir genau so, wie es der Leo wollte.«

Der Urbaniak rollte den Kugelschreiber mit der Handfläche, quälend langsam.

»Ich muss jetzt dann los«, sagte der Mandel und stand auf. Erst als er an der Tür war, schaute ihn der Urbaniak an und sagte: »Adios, Max. Halt mich auf dem Laufenden.«

Der Mandel schloss die Tür hinter sich, aber dann fiel ihm noch was ein. Er öffnete sie wieder und fragte den Urbaniak, der ihn anstarrte wie ein Pferd:

»Du, weil’s mir gerade einfällt, Karsten, wie verkauft sich eigentlich das neue DEMO-Album?«

»Wie geschnitten Brot«, sagte der Urbaniak.

Als der Mandel wieder da war, fand ich etwas Unangenehmes heraus.

»Hast du Gras?«, fragte ich den Mandel.

»Nein«, sagte der Mandel.

»Ich würde mich jetzt gerne ins Nirgendwo rauchen.«

»Hab nichts.«

»Hast du noch Lust auf ein Bier im Deichgraf?«

»Nein, ich muss leider weg.«

»Wo musst du denn hin?«

»Ich treff mich noch mit der Malleck«, sagte der Mandel.

»Mit der Malleck?«, wiederholte ich.

»Warum?«

»Wir sprechen nochmals alles durch.«

»Alles durch? Was ist denn alles?«, fragte ich.

»Ach komm, Sigi«, sagte der Mandel und klaubte den Autoschlüssel vom Dieter vom Schreibtisch auf.

»Du hast wirklich kein Gras?«

»Nein, tut mir leid«, sagte der Mandel und war weg.

Ich wartete kurz, dann rannte ich ihm nach. Er war schon am Wegfahren, aber ließ das Fenster herunter. Es regnete und ich wurde nass.

»Wo geht ihr denn hin?«

»Nur kurz ins Poschardt«, sagte der Mandel und ließ das Fenster hoch. Ich blieb im Regen stehen, während der Mandel wegfuhr.

Danach duellierten sich bei mir zwei Bedürfnisse: dem Mandel sofort ins Poschardt folgen und einen Joint rauchen und ihm dann ins Poschardt zu folgen. Ich hatte nur keinen Joint. Ich schloss das Büro ab und wollte in Richtung U-Bahn gehen, da fiel mir auf, dass im Nachbarfenster zu unserem Büro, also praktisch im selben Haus, das Licht brannte. Das war die Wohnung vom Hausmeister. Ich ging zurück in den Vorgarten und stolperte über ein Blumenbeet, bis ich vor dem Fenster stand. Die Gardinen waren fast zugezogen, aber ein kleiner Spalt ließ einen Blick zu. Der Hausmeister saß drinnen an einem Küchentisch und rauchte einen dicken Jolly Roger. Die scheinheilige Kröte. Draußen einen auf Saubermann machen und sich in den eigenen vier Wänden ins Delirium rauchen. Ich klopfte dermaßen an die Scheibe, dass dem Hausmeister fast der Joint aus der Hand gefallen wäre. Er drückte ihn hektisch aus. Das Fenster ging auf, die Gardinen zurück.

»Das ist Ruhestörung, Herr Singer. Und Sie stehen auf den Bodendecker-Rosen.«

»Uh, das verstößt sicher gegen die Hausordnung.«

»Janz jenau«, sagte der Hausmeister.

»Und wie steht’s mit Einnahme von Rauschgift in der Einbauküche? Da ist die Hausverwaltung sicher kulant, oder?«

»Ick wees nicht, wat Sie hier «, fing der Hausmeister an.

»Sparen Sie sich die Ausreden. Ich hab hier ein schönes Foto auf meinem Telefon«, log ich und hielt ihm mein Mobiltelefon unter die Nase.

»Was wollnse von mir?«, fragte der Hausmeister.

»Sie drehen mir jetzt zwei extrastarke Dinger von Ihrem Kraut und reichen sie mir durchs Fenster.«

»Und dann löschense dit Foto, wa?«

»Mal sehen. Kommt drauf an, ob Sie mich weiter jeden Tag wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zur Sau machen.«

Auf dem Weg zur U-Bahn hatte ich mir die erste der beiden Hausmeister-Zigaretten zu Gemüte geführt und war jetzt schon breit wie ein Haus. In so einem Zustand war ich lange nicht mehr gewesen, weil ich auch grade erst wieder angefangen hatte mit dem Kiffen. Klar, früher jeden Tag unter der Woche die große Bong, um vierzehn Uhr, in der WG, vom Zirngibl Flo, als Star Trek Next Generation noch auf Sat1 kam. Aber nach dem Studium nur noch Verlegenheitsdroge. So richtig Interesse an der Kifferei kam erst wieder Ende letzten Jahres auf, als ich wieder mehr Hip-Hop hörte. An einem langweiligen Freitagabend hab ich mir Friday mit Chris Tucker und Ice Cube angeschaut, den übrigens auch Quentin Tarantino wärmstens empfiehlt. Ein reinrassiger Kifferfilm, da wollen wir mal gar nichts wegtun, aber mir hat er irgendwie begreiflich gemacht, dass man nicht Hip-Hop hören kann, ohne Marihuana zu rauchen. Und so funktionierte mein Wiedereinstieg. Kiffen führt ja bei mir nicht zu einer grenzenlosen Albernheit oder einer überbordenden Fantasie wie bei anderen Leuten, ich entwickle eher eine innere Ruhe. So ähnlich, stelle ich mir vor, ist es, der Mandel zu sein. Die Welt um mich herum bewegt sich dann in Zeitlupe wie in einem der Filme von dem Typen – Name vergessen. Ich aber in Normaltempo mitten durch die Zeitlupen, Sinne geschärft, vor allem der Geruchssinn. Nehmen wir als Beispiel den strömenden Regen aus meiner Erzählung gerade: Regentropfen in Zeitlupe auf den Bordstein, das Auftreffen und Aufplatzen. Malerisch. Und dann der Geruch vom Regen. Würzig, fischig, frisch. Sehr guter Geruch.

Beim Poschardt ums Eck stand das gelbe Fahrschulauto. Mit gültigem Parkschein. Ich zündete mir den zweiten Joint an und überlegte. Es regnete immer noch, und ich fühlte mich wie ein nasser Hund. Ein Hund in Zeitlupe mit einem unglaublich scharfen Geruchssinn. Ich konnte nicht ins Poschardt, ich sah zu scheiße aus. Unrasiert und ungekämmt waren in dieser Stadt ja die geringeren Übel, aber triefnasse Kleidung und das Gelbe in den Augen, das kam nicht gut an im Poschardt, wenn man kein Erfolgreicher ist. Ich hätte mir woanders gerne ein Bier zum Mitnehmen gekauft, aber die Gegend hier war zu arriviert für einen Spätkauf.

Eine Stunde lungerte ich herum und hörte Jay-Z auf dem Kopfhörer, dann kamen der Mandel und die Malleck aus dem Poschardt. Ich weiß natürlich, dass man kein Rap-Connaisseur sein musste, um das Black Album gut zu finden, aber super Platte ist super Platte, selbst wenn sie total erfolgreich ist. Man könnte sich jetzt fragen, ob das Poschardt nicht der ganz falsche Platz für Personen des öffentlichen Interesses war, vor allem, wenn frisch verwitwet und der hauseigene Anwalt frische Wasserleiche. Aber das ist es ja, was das Poschardt ausmacht. Am Abend waren da nur geladene Gäste, Freunde des Hauses oder ganz intime Freunde von Freunden des Hauses. Meistens Prominente, Industrielle, alles Leute, die kein Interesse daran hatten, sich gegenseitig per Klatsch und Tratsch das Leben schwerzumachen. Das war ein ungeschriebenes, aber ehernes Gesetz im Poschardt. So gesehen war das Poschardt der einzige Platz in ganz Deutschland, wo die Malleck zum jetzigen Zeitpunkt hätte ungestört ausgehen können. Vor dem Poschardt stand Henry, ein Türsteher, Securitymensch und Butler in Personalunion. Der Henry geleitet im Zweifelsfall die Gäste noch zu ihren Taxis, und wehe, der Henry sieht einen Fotografen, dann kann der Henry unwirsch werden, wie man öfter im Fernsehen sieht. Nur noch die nassforschen Billigblattschreiber aus der Provinz waren dumm genug, vor dem Poschardt herumzulungern. Aber nur so lange, bis der Henry mit ihnen ins Gespräch kam. Der Henry trug einen teuren Anzug mit einer Fliege und im Gesicht eine Schlange. Eine Tätowierung, die sich von der Stirn die Backen und den Hals hinunterwand. Das ist dann die Tätowierung, wo selbst jemand wie ich sagen würde: Die bereust du irgendwann.

Der Henry verabschiedete die Malleck mit Küsschen, Küsschen, und dem Mandel rieb er zum Abschied den Rücken, als wär der Mandel jeden Abend im Poschardt. Der Mandel spannte einen Regenschirm über sich und der Malleck auf, und die Malleck zog ihre Baskenmütze tief ins Gesicht. Der Mandel schloss der Malleck die Tür zum Fahrschulauto auf, und sie stiegen beide ein. Sie sahen mich nicht. Ich hörte, wie der Mandel sagte: »Vorsicht mit den Pedalen auf deiner Seite, weil das ist das Fahrschulauto von meinem Bruder.« Die Malleck lachte und sagte etwas wie »Spaßbremse«. Ich weiß nicht, ob sie merkte, was für ein gutes Wortspiel das war. Dann fuhren sie weg. In Zeitlupe. Ich roch das Benzin. Ich winkte mir ein Taxi her und sagte den Satz, den ich schon immer einmal zu einem Taxifahrer sagen wollte:

»Folgen Sie dem Wagen da vorne.«

Der Taxifahrer war vermutlich ein Türke, dichtes graues Haar und einen schwarzen Riesenschnauzbart. Ich mag Türken sehr gerne und bin dafür, dass wir Deutschen uns vollständig vermischen, das kann dem Essen hierzulande nur guttun.

»So etwas mache ich nicht. Steigen Sie bitte aus«, sagte der Taxifahrer in ultrakorrektem Hochdeutsch.

»Okay, okay, vergessen Sie, was ich gesagt habe. Fahren Sie mich zum Chamissoplatz. Bitte.«

Es war eine Fifty-fifty-Chance, weil der Mandel hätte die Malleck auch nach Hause fahren oder sonst wo absetzen können, aber ich lag richtig, und der Taxifahrer ist dann doch zufällig dem gelben Audi A8 bis zum Chamissoplatz nachgefahren und hat mich dort rausgelassen. Ich wartete eine Weile im Dunkel der unbeleuchteten Grünflächen vom Chamissoplatz, dann schloss ich die untere Haustür auf. Ich hatte noch den Schlüssel wegen dem Stromableser, als der Mandel letztes Jahr bei dem Festival in Barcelona gewesen war. Leise ging ich die Stockwerke bis zur Wohnung hinauf und wartete vor der Tür, horchte, was sich drinnen abspielte. Da waren Stimmen, aber die Stimmungslage war nicht zu ermitteln. Erotisch, geschäftlich, ausgelassen, es hätte alles sein können wegen der schlechten Akustik.

Dann drangen dumpfe Schläge aus der Wohnung. Eine weibliche Stimme schrie: »Ah!« Ich schloss leise die Tür auf. Mittendrin hörte ich wieder ein »Ah«, vielleicht sogar ein »Au«, und auch noch kurz hintereinander. Jetzt muss man wissen, dass die Wohnung vom Mandel einen ziemlich langen Gang hat. Manche finden das schick, ich finde, es ist die reinste Verschwendung von Quadratmetern. Aus so einem Gang hätte man locker noch ein Zimmer herausbekommen. Ich vermutete den Mandel und die Malleck ursprünglich im Schlafzimmer, aber nachdem ich in der Wohnung war, hörte ich sofort, dass sich jemand in der Wohnküche ganz am Ende des Gangs aufhielt. Die Tür war wie immer offen, und ich blieb im Türrahmen stehen und blickte auf ein verstörendes Szenario.

Die Malleck saß auf einem Stuhl, hatte ihren Rock hochgezogen, aber vermutlich nur wegen der Bequemlichkeit. Umringt war sie von den Mandelbrüdern und Gläsern mit einer transparenten Flüssigkeit, die mir nach Beefeater-Tonic aussah. Man merkte auf den ersten Blick, dass die Stimmung ans Ausgelassene grenzte, und bevor jemand Notiz von mir nahm, rief die Malleck aus vollem Hals: »Mau!«

»Nein, jetzt hättest du Mau-Mau sagen müssen«, sagte der Dieter, und der Mandel lachte, wie ich ihn selten lachen gesehen habe. Man merkt aber immer, wenn plötzlich jemand im Raum steht, deshalb unterbrachen die drei ihr Kartenspiel und schauten mich entgeistert an.

»Sigi«, sagte die Malleck. »Das ist ja nett.«

»Servus, Sigi. Setz dich her, sind wir mehr«, sagte der Dieter.

»Du bist mir nicht nachgefahren, oder? Mit einem Taxi?«, fragte der Mandel.

»Unsinn. Ich wollte nur nochmal mit dir reden.«

»Ach, ich wollt euch nicht aufhalten, kein Ding. Ich muss jetzt dann eh los«, sagte die Malleck.

»Bleib sitzen, Veroni. Ich muss nur mit dem Sigi kurz was besprechen«, sagte der Mandel, stand auf und schob mich aus der Wohnküche in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Bist du noch bei Trost, Sigfried?«

Der Mandel hatte mich das letzte Mal Sigfried genannt, als ich stockbetrunken im Edelweiß diesen Flaming Tequila über den Schoß von Ice Cube geschüttet hatte. Der Mandel war mit dem Ice Cube nach seinem Interview noch auf einen Drink gegangen, und ich als großer Fan hatte mitkommen dürfen. Aber weder die Entourage von Ice Cube noch er selbst fanden das schlimm. Die Flammen erstickten ja sofort, und alle haben herzlich gelacht. Nur dem Mandel war’s natürlich peinlich, und er hat einfach nur laut »Kruzifix, Sigfried« gesagt. Den Ice Cube hat das amüsiert, weil bei denen ist das ja kein Schimpfwort. Also Kruzifix, nicht Sigfried.

»Ich bin völlig bei Trost. Ich will nicht, dass du die Malleck jetzt für dich gewinnst. Ich bin verliebt in die Frau.«

»Ich gewinne überhaupt niemanden. Aber du denkst doch nicht, dass du für die Roni mehr als ein Zeitvertreib bist.«

»Ach, jetzt ist sie schon die Roni. Lass sie das doch selbst entscheiden, wie sie sich die Zeit vertreibt«, sagte ich, und ich musste mich an dem weißen Schreibtisch vom Mandel festhalten, der eigentlich nur ein längliches, an der Wand befestigtes Brett war.

»Hey, was ist denn los? Sigi? Geht’s dir nicht gut? Nicht aufstützen, das ist nicht stabil.«

»Doch, doch, geht schon«, sagte ich.

Der Mandel reichte mir seine Hand.

»Komm, Sigi, lass uns nicht wegen der Malleck streiten. Keiner von uns wird mit der alt werden. Wir sind doch eine Nummer zu klein für die, wenn wir mal ehrlich sind.«

»Du bist so ein widerlicher Klugscheißer«, sagte ich lauter als gewollt und schlug die Hand vom Mandel beiseite.

»Ist alles gut bei euch?«, rief die Malleck von draußen.

»Alles bestens«, sagte der Mandel.

»Sigi, ich hab’s vorhin schon zum Max gesagt, ihr müsst nicht denken, dass ich das nicht merke, dass ihr euch wegen mir streitet. Das ist wirklich das Letzte, was ich in der Situation brauchen kann. Ich dachte, bei euch kann ich mich ein bisschen vor dem Leben da draußen verstecken, aber ihr macht die Sache noch komplizierter. Besser, ich geh jetzt. Ciao.«

Sowohl ich als auch der Mandel waren so verdutzt über diese Gardinenpredigt, dass wir sie nicht aufhielten, als sie die Wohnung verließ. Als hätten wir uns abgesprochen, eilten wir beide zum Fenster vom Wohnzimmer, von wo aus man die Straße sehen konnte. Unten auf dem Bürgersteig vor dem Hauseingang standen ein paar Leute mit schwarzen Anoraks. Einer davon hatte einen Baseballschläger in der Hand.

»Scheißdreck«, sagte der Mandel, und wie der Rote Blitz rannten wir aus der Wohnung die Treppe hinunter und hielten die Malleck im Erdgeschoss gerade noch auf, bevor sie die Haustür öffnete.

»Was ist denn jetzt los? Ich will nach Hause.«

»Pssst«, machte der Mandel und deutete mit dem Finger auf die Haustür. Die Malleck schaute ihn verständnislos an.

»Leute mit Baseballschlägern«, flüsterte er.

»Oh. Dann warte ich noch«, sagte die Malleck.

Ich nahm die Malleck bei der Hand und zog sie die fünf Stockwerke hinauf zurück zur Wohnung.

»Was ist denn los?«, fragte der Dieter, als er uns reinkommen hörte.

»Ärger«, sagte der Mandel.

»Schon wieder«, sagte der Dieter deprimiert. Das mit dem brennenden Audi vom Mandel hatte auch seine Begeisterung an einem Leben als Ermittler gedämpft.

Jetzt versammelten wir uns zu viert am Schlafzimmerfenster, um auf die Straße zu schauen. Einer der Leute in einem schwarzen Anorak schaute zu uns hoch. Sonst tat er nichts. Er schaute nur. Ich zeigte ihm den Mittelfinger.

»Geh, Sigi, du Kindskopf«, sagte der Mandel.

Die Leute mit den schwarzen Jacken stellten unter unseren Augen eine weiße Plastiktüte vor die Haustür, klingelten bei Mandel und gingen dann weg, als wäre nichts gewesen.

»Und jetzt? Holen wir jetzt die Tüte?«, fragte der Dieter.

»Nein, nein. Am Ende ist da eine Bombe drin«, befürchtete die Malleck.

Der Mandel war schon auf dem Weg aus der Wohnung.

»Geh, Max, jetzt spinn nicht!«, schrie ihm der Dieter hinterher und die Malleck auch: »Nein, lass es!«

Kurze Zeit später sahen wir, wie unten die Haustür aufging und der Mandel vorsichtig mit dem halben Körper herausschielte.

»Niemand weit und breit!«, rief ich ihm zu, und er wagte sich vollständig auf die Straße. Vorsichtig betrachtete er die weiße Plastiktüte. Der Mandel legte sich auf den Boden und horchte vielleicht an der Tüte, so genau konnte man das aus dem fünften Stock nicht beurteilen. Jetzt kniete er vor der Tüte und bog vorsichtig ihre Ränder zurück. Und dann hat es mich doch sehr gewundert, was der Mandel als Nächstes gemacht hat. Weil jeder andere, der gesehen hätte, was in der Tüte war, wäre auf der Stelle weggelaufen oder hätte die Tüte ganz schnell wieder zugemacht. Der Mandel hat aber den Kopf vom Holger Edelstein an dessen Ohren aus der Tüte gezogen und ihn sich aufmerksam angeschaut. Selbst von hier oben konnte ich erkennen, dass der Kopf ein wenig aufgequollen war. Und blasser als zuletzt.

»Die sind ja wahnsinnig, die Typen«, hat er dann zu uns hochgerufen, und die Malleck hat mich gefragt, was der Mandel da in der Hand hat. Ich denke heute noch, da wollte der Mandel uns zeigen, wie hartgesotten er ist, denn dass das taktlos ist, der Malleck den Kopf ihres Ex-Liebhabers unter die Nase zu halten, auch wenn fünf Stockwerke dazwischenliegen, das hätte er sich denken können. Als der Dieter und ich die Malleck förmlich vom Fenster wegrissen, war es schon zu spät, denn sie hat sofort auf das Bett vom Mandel gekotzt.