Sieben

Am Samstag war der Mandel schon nachmittags beim Kunstpalast, genauer gesagt am Hintereingang, wo ein wahres Baustelleninferno wütete. Ein Konzert aus Kränen in einer Arena aus Baugruben im märkischen Schlamm. Ich frage mich ja, was in dieser Stadt die ganze Zeit gebaut wird und wozu, und woher das Geld dafür kommt. Weil angeblich hat keiner welches, man muss ja nur mal die Schlaglöcher anschauen. Wer baut diese ganzen neuen Gebäude, und wer wohnt oder arbeitet nachher darin? Woher kommt das ganze Geld? Wer sind die Leute mit dem Geld? Das ganze Geld, das man nie zu Gesicht bekommt und nie selbst verdient? Die zahllosen Baustellen dieser Stadt sind ein Beweis dafür. Dem Mandel war das alles egal. Der Mandel ging ganz in seiner neuen Aufgabe auf, da interessierten ihn keine Bauvorhaben oder der Ursprung von dem ganzen Geld. Ich hatte ihn ja nochmals gefragt, warum er nicht schon im Sägewerk den Tilmann mit Hilfe seines neuen Telefons beim Posieren mit der Brünetten fotografiert hatte, aber der Mandel bestand darauf, sich erst das Vertrauen vom Tilmann zu sichern.

»Aber die Fotos oder Videos musst du doch dann trotzdem heimlich machen«, hatte ich ihm noch gestern gesagt.

»Ja, aber da hab ich eine ganz andere Ausgangsposition«, hatte der Mandel entgegnet.

Was hätte ich darauf auch erwidern sollen, es waren ja erst ein paar Tage vergangen, in denen wir offiziell ermittelten. Beziehungsweise der Mandel ermittelte. Wenigstens war ich zu dem Konzert am Abend eingeladen worden, wenn auch ohne Backstage-Zugang. Im Gegensatz zum Mandel hatte ich mich die letzten zwei Tage mit dem Material von dem IHK-Kurs beschäftigt, aber so richtig wollte der Funke auch bei mir nicht überspringen. Das Fachchinesisch und Behördendeutsch erleichterten einem den Zugang zum neuen Gewerbe nicht unbedingt.

Zudem waren mit der Post Der kleine Abhörratgeber und Observation: Praxisleitfaden für private und behördliche Ermittlungen (broschiert) angekommen, die einen ähnlichen Beamtenjambus anschlugen. Wobei ich mich bei ersterem Buch geärgert habe, es überhaupt bestellt zu haben. Es war von ’97, und jemand aus dem Mittelalter muss mir natürlich nichts über Computer und Internet-Recherche erzählen.

Irgendwann hatte ich dann auch keine Lust mehr gehabt, und überhaupt dachte ich, der Ermittlerberuf ist entweder ein Instinktberuf, oder er ist gar nichts für mich, weil mit Akribie hab ich nichts am Hut. Außerdem musste ich dauernd an die Malleck denken und konnte mich unmöglich jetzt auf den »Zertifikatslehrgang Fachkraft Detektiv« konzentrieren. Die Malleck, das hübsche, hübsche Ding. Letztlich war das Produktivste in den vergangenen zwei Tagen dann auch gewesen, dass ich die Malleck angerufen und mich mit ihr vor dem Konzert auf eine Zigarette verabredet hatte. Um ihr die neuesten Ermittlungsergebnisse vorzulegen. Der Mandel bat mich ausdrücklich, ihr nicht das mit der Dunkelhaarigen im Sägewerk zu erzählen. Immerhin konnte ich mit der Neuigkeit auftrumpfen, dass der Urbaniak uns beauftragt hatte, den Tilmann im Auge zu behalten. Wegen dem Geld von dem Vorschuss und dem Stand der Dinge bei der Vorproduktion von dem Soloalbum. Das konnte man der Malleck ja erzählen, vielleicht wusste sie auch gar nichts von dem Soloalbum und dem Vorschuss, und dann würde ich Eindruck schinden mit dem topaktuellen Stand der Ermittlungen. Der Mandel hatte mich zwar ermahnt, auch das erst mal für mich zu behalten, aber ich musste der Malleck doch was bieten. Fakten. Ich überlegte, welchen Anzug ich anziehen sollte.

Indessen stand der Mandel schon längst an der Rückseite vom Kunstpalast und wartete auf den Tilmann. Ungefähr zwanzig Minuten später als verabredet und auch erst nach dreißigmal Durchklingeln kam der Tilmann raus und holte den Mandel rein. Durch eine Aula mit einem langen Garderobentresen, der jetzt noch unbesetzt war, zu einem Aufzug, hinauf in einen großen weißen Raum mit einer kleinen Theke im Eck und etlichen modernistischen Sitzgelegenheiten. Im Raum daneben befand sich der Saal, wo DEMO später spielen würden, und man hörte schon, wie jemand am Klang der Fußtrommel herumexperimentierte.

»Das ist die Peggy, unsere Tourmanagerin«, sagte der Tilmann und zog den Mandel an der Schulter in Richtung einer Frau, die aussah wie Nena wie sie eigentlich aussehen müsste in ihrem Alter. Faltiges Gesicht, Lederminirock, blauschwarz gefärbte Mötley-Crüe-Frisur auf dem Kopf und Fingernägel von hier bis nach Spandau, und ich habe ja erwähnt, wie mich lange Fingernägel belasten.

»Wir kennen uns doch, gell, Maxi?«, sagte die Peggy und gab dem Max rechts und links einen Kuss auf die Wange. Der Mandel konnte sich an keine Peggy erinnern, und wenn er etwas hasste, dann wenn man ihn Maxi nannte. Besonders wichtig war auch dem Tilmann die Bekanntschaft zwischen dem Mandel und der Peggy nicht, denn er nahm den Mandel bei der Hand wie einen kleinen Bruder und zog ihn hinter sich her aus der Aula. Der Mandel folgte dem Tilmann in den Saal und hinter die Bühne. Er ging einen Gang entlang und am Ende durch eine Tür, eine Art Umkleideraum, wo ein Buffet aufgebaut war. Schinkensemmeln, Tomatensalat und Mousse au Chocolat.

»Kannst du nicht fressen, das Zeug«, sagte der Tilmann.

»Ach so?«, sagte der Mandel.

»Unser Koch ist in Urlaub, und jetzt haben wir das Hauscatering. Kriegst du nicht runter, diesen Fraß.«

Der Tilmann holte aus der Innentasche seiner Lederjacke einen durchsichtigen Plastikbeutel mit Kokain hervor und portionierte das Zeugs auf einem kleinen Stehtisch in der Mitte des Raums.

»Hau rein, Max, sonst langweilst du dich bei dem Konzert zu Tode.«

»Wie meinst du das jetzt?«, fragte der Mandel.

»Die Band, der Kai, die haben aus ein paar der älteren Sachen so Mammutversionen gemacht. Mit Improvisation im Mittelteil und sogar Percussion. Und dann noch die neuen Lieder, da sind ja auch so ein paar Rohrkrepierer dabei. Kannst du dir stellenweise nicht anhören.«

Man merkte, dass der Tilmann aufgekratzt war, die Sätze flossen regelrecht ineinander, schnell und unausgeglichen in der Sprachmelodie. Das war wohl nicht sein erster Abstecher in die Umkleidekabine. Der Tilmann hackte mit der Karte von seiner Krankenkasse das Pulver auseinander und drückte dem Mandel dann einen zusammengerollten Fünfziger in die Hand.

»Bitte sehr! Lass dir schmecken«, lachte der Tilmann.

Der Mandel nahm eine Prise Kokain zu sich und musste niesen.

»Gesundheit!«, wünschte der Tilmann und redete weiter über das Konzert und wie er den Musikermanieren seiner Kollegen entschlossen entgegentreten würde. Und wie er im Zugabenteil die alten, rebellischen DEMO wieder heraufbeschwören würde, welche Songs er wieder ausgegraben hatte und dass sie das erste Mal seit Jahren »Totengräber« spielen würden.

»Wir haben in den letzten Jahren diesen Zwang verloren, der uns ausgemacht hat, Max. Den Zwang, die Umstände zu verändern. Sich gegen die Umstände zu wehren. Das war der Druck, den wir früher hatten. Das steckt in den alten Songs drinnen. Und ich fühle das jetzt wieder. So, als wäre ich wieder fünfundzwanzig. Es brennt wieder, Max.«

»Ja, sehr schön«, sagte der Mandel. »Das klingt doch gut.«

»Und ich hab noch viel mehr vor. Was ich dir jetzt sage, muss unbedingt unter uns bleiben. Um jeden Preis, sonst steinigen die anderen mich. Kann ich mich auf dich verlassen, Max?«

»Auf jeden Fall«, sagte der Mandel und musste noch einmal niesen.

»Ich mach ein Soloalbum. Fuck yeah, ich mach ein Soloalbum. Ich erfinde den neuen Leo Tilmann. Der alte ist tot. Tot, sag ich dir. Nur noch diese Tour, und dann ist Schluss mit DEMO und dem alten Leo Tilmann. Schluss mit diesem Schwachsinn. Mit den Schulfreunden im Bus durch die Gegend fahren und im Proberaum neue Songs ausprobieren, so, als wären wir immer noch in Everswinkel, das pack ich nicht mehr. Ich hab diese Bandscheiße satt. Max, ich sag dir, wir machen da ein Riesending draus. Das wird die Rückkehr zu meinen politischen Wurzeln. Ich hab ein paar Texte auf Tasche, da werden sich einige Leute ganz schön auf den Schlips getreten fühlen. Ich bin der deutsche Bob Dylan, Alter. Deutschland braucht wieder Protestmusik. Ich muss das nur noch mit dem Urbaniak absprechen, aber mit deiner Story lassen wir die Bombe platzen.«

»Welche Bombe meinst du?«, schniefte der Mandel, dem das Kokain nicht bekommen war.

»Na, das Soloalbum. Die Texte. Den Skandal.«

Das mag jetzt nur meine Meinung sein, aber schon damals, und im Nachhinein erst recht, fand ich das Tamtam um sein Soloalbum völlig übertrieben, ja hysterisch. Mein Gott, dann nahm er nach fünfzehn Jahren halt mal alleine ein Album auf. In spätestens drei Jahren würde sowieso wieder die große DEMO-Reunion passieren. Welche Band löst sich denn heutzutage noch ernsthaft auf Dauer auf?

»Max, geht’s dir gut?«, fragte der Tilmann den Mandel besorgt, weil dem Mandel die Augen tränten.

»Alles gut«, sagte der Mandel und musste noch einmal laut niesen.

»Dann gehen wir mal wieder hoch, ich muss gleich zum Soundcheck«, sagte der Tilmann.

»Moment. Da muss ich jetzt mal nachhaken«, sagte der Mandel unter Tränen, weil ihm die Frage schon lange auf den Nägeln brannte, er aber nie den passenden Moment in Interviews gefunden hatte.

»Warum macht eine Band wie ihr eigentlich noch Soundcheck? Ihr habt die teuersten Roadies des Landes und die beste Technik, und dann stellt ihr euch immer noch Stunden vorher auf die Bühne und macht Soundcheck. Wär es nicht viel entspannter, ihr treibt euch ein wenig in der Stadt rum, trinkt ein Bier zusammen, tut, was ihr wollt, und kommt dann pünktlich zum Konzertbeginn mit Paukenschlag auf die Bühne? Dann müsstet ihr auch nicht schon immer nachmittags vor Ort sein. Und es wäre doch auch spannender, den Konzertsaal das erste Mal zu sehen, wenn er schon proppenvoll ist, oder?«

»Genau meine Rede, Max, meine Rede. Das predige ich doch seit Jahren. Aber die Berufsmusiker in meiner tollen Band bestehen drauf. Müssen sich eingewöhnen. Warmspielen, akklimatisieren, blablabla. Ein Haufen Bullshit ist das. Aber was willst du machen.«

»Ein Soloalbum«, sagte der Mandel.

»Der war gut«, schrie der Tilmann und haute dem Mandel ziemlich hart auf die Schulter. Der Mandel musste gleich noch mal niesen.

Vermutlich zur gleichen Zeit schritt ich mit der Malleck durch den Park, ein Café war ihr dieses Mal zu öffentlich. Sie trug ein weißes, enges T-Shirt und eine blaue, hautenge, aber vermutlich dehnbare Jeans, die in ihren Stiefeln steckte, wie man das jetzt so hatte. Ihr Haar hatte sie irgendwie kunstvoll geflochten, es erinnerte mich an Gwyneth Paltrows Frisur in einem Kostümfilm Name vergessen. Schade, dass sie eine dieser großen Sonnenbrillen trug, so musste ich auf das Augenfreibad verzichten. Und ja, schlimm, wie hingerissen ich von dieser Frau war.

Wir liefen durch eine Allee, die Bäume waren ziemlich schnell grün geworden in den letzten Tagen, aber die Äste hingen weit in die Allee hinein, so, als wären sie noch müde von dem langen Winter. Im Gehen erzählte ich ihr gegen den Willen vom Mandel erst von der Brünetten aus dem Sägewerk und dann noch brühwarm die Geschichte mit dem Soloalbum und dem Urbaniak.

»Ach, das ist doch zum Kotzen. Da seid ihr einen Abend mit dem Leo unterwegs, und schon hat er die erste Schlampe im Schlepptau. Das ist doch peinlich.«

»Ich war ja gar nicht dabei, ich weiß ja nicht, ob da mehr war als nur Poussieren. Tut mir leid«, ruderte ich zurück.

»Ach, klar war da mehr, ich kenn doch meinen Mann.«

Die Malleck schaute danach eine Weile beim Gehen stur auf den Boden, bevor sie wieder mit dem Reden anfing. Das mit dem Soloalbum wisse sie sowieso, und von den Geschäften zwischen dem Urbaniak und dem Leo wolle sie eigentlich gar nichts mehr hören.

»Das weiß doch jeder, dass der Leo nicht mit Geld umgehen kann. Ganz sicher hat der seinen Vorschuss schon verkokst oder sonst was damit gemacht. Er hat sich auch grade ein paar Tausend Euro von mir geliehen. Ich verdiene das erste Mal wirklich viel Geld in meinem Leben mit der Deininger-Produktion, da tun mir ein paar Tausend nicht weh. Ich hab auch heute Morgen nochmal mit dem Leo geredet, also versucht zu reden. Ob er nicht aufhören will mit der Dauerbedröhnung und seinen Weibergeschichten. Ob es ohnehin nicht sinnvoller wäre, getrennte Wege zu gehen. Mir ist ja auch nicht so ganz wohl bei der Vorstellung, ihn mit einer Observation zu hintergehen. Aber keine Sorge, ihr behaltet euren Auftrag. Weil der Leo will auch nicht wahrhaben, dass das nicht ewig so weitergehen kann. Der nimmt einen dann in den Arm und sagt, dass es längst keine anderen mehr gibt, dass er mich liebt und braucht, wie er das noch nie in seinem Leben getan hat, und in dem Moment musst du das glauben. Jeder glaubt dem Leo doch seine Herzlichkeit, das ist ja das Problem. Weil er im Prinzip auch ein herzlicher Mensch ist. Der Mann ist ja durchdrungen von Liebe, dass es fast schon unheimlich ist. Aber vor allem von der Liebe zu sich selbst. Habt ihr ein Foto von ihm und der Brünetten aus dem Sägewerk?«

»Nein, leider nicht, der Max wollte sich nicht gleich am ersten Abend aus der Deckung wagen.«

»Hmm. Vielleicht besser.«

»Hast du eine Zigarette?«, fragte die Malleck, und ich gab ihr eine. »Ich bin eigentlich Nichtraucher«, sagte sie, und Tränen liefen unter ihrer großen Sonnenbrille hervor. »Ich weiß doch auch gar nicht mehr, was ich da tue. Ich hätte euch überhaupt nicht beauftragen sollen. Aber es ist so demütigend: Da geht der Max nur einmal mit dem Leo aus, und schon hat der die erste Nutte dabei. Es ist so demütigend. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch mehr wissen will.«

Beim letzten Satz lief sie weg. Ich war zunächst so verdutzt, dass ich ihr nicht folgte. Stand nur da und atmete ihr Parfüm ein, das in der Luft hängengeblieben war, wo sie eben noch stand.

Du musst dich zusammenreißen, Sigi. Du kannst dich doch nicht so dermaßen in diese Frau hineinsteigern. Das gibt nur wieder Ärger, wie immer, wenn du dich so in eine hineinsteigerst. Ich ging den Weg weiter, der Malleck hinterher, an der Abzweigung links, und da saß sie dann auf einer Parkbank, die Füße angezogen, rauchend, trotzig wie ein Schulmädchen.

»Äh, soll ich gehen?«, fragte ich. »Wir können ja ein andermal reden.«

»Nein, setz dich. Ich bin einfach nur überdreht. Der ganze Druck mit dem Film. Und Leo. Und überhaupt ist das eine komische Zeit. Es passiert so viel und so schnell. Manchmal hat man das Gefühl, man kommt nicht mehr hinterher.«

»Versteh ich«, sagte ich und dachte an den Wust an Unterlagen von der IHK, den ich noch durchlesen musste. Und an den Mandel, der sich da schön aus der Affäre zog bei der Ermittlerausbildung, und dass es deshalb nur gerecht war, dass ich jetzt hier neben der schutzbedürftigen Malleck auf der Parkbank saß und er backstage mit den Altrockern seine Zeit verschwendete.

Die Malleck nahm ihre Sonnenbrille ab und schaute sich um. Drehte den Kopf nach links und nach rechts. Es war weit und breit niemand zu sehen. Dann küsste sie mich auf den Mund. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und sagte: »Uh.« Dann küsste sie mich noch mal mit Zunge. Es fühlte sich an, als wäre ihre Zunge ganz kurz. Von einem alles verschlingenden, leidenschaftlichen Kuss konnte keine Rede sein, es war eher ein Züngeln. Aber Herrgott, es war die Malleck, und ich war im Himmel. Ich legte eine Hand knapp unter ihren Busen, und wir schmusten weiter. Zwei, drei Minuten. Dann bewegte ich die Hand ein wenig nach oben, und die Malleck nahm sie weg und stand auf.

»O je«, sagte die Malleck.

»O je?«, fragte ich.

»Ich muss sofort weg. Hab total die Zeit vergessen. Wir sehen uns heute Abend. Aber sei bitte nicht anhänglich«, sagte die Malleck und ging.

Ich blieb auf der Parkbank sitzen und fragte mich, wo das alles hinführen sollte.