Sechzehn
Das Schöne, wenn du Freiberufler bist, ist, dass du dich nicht an die konventionelle Zeiteinteilung der anderen halten musst. Der Mandel war ja schon immer ein Freigeist in Sachen Arbeitszeiten gewesen, aber ich saß jeden Tag meine acht Stunden im Büro ab und hab mich geärgert, dass vor der Arbeit der Elektromarkt noch zu war und nach der Arbeit dann die Drogerie. Mit der neu gewonnenen Freiheit eines flexiblen Tagesablaufs konnte ich aber auch noch nicht umgehen. Ich hatte immer das Gefühl, um spätestens zehn am Nordufer sein zu müssen. Der Mandel hingegen war da, wie gesagt, immer schon etwas laissez-faire gewesen, aber seit der Freiberuflichkeit kam und ging er endgültig zu den vogelwildesten Zeiten. Ich komm nur gerade drauf, weil es ein Montagnachmittag war, an dem wir einfach so aus der Stadt raus an den Scharmützelsee gefahren sind, genauer gesagt nach Diensdorf-Radlow. Und ich noch gedacht habe, schönes Wetter, wir fahren an den See, und das an einem Montagnachmittag, wo die ersten an der neuen Arbeitswoche verzweifeln und ihre Selbstmordversuche für das Wochenende planen.
Der Mandel steuerte den gelben A8 von seinem Bruder über die Landstraße und hörte schon das zweite alte Bob-Dylan-Album hintereinander. Die Blood On The Tracks zuerst und jetzt die Slow Train Coming . Nichts gegen Bob Dylan als Typ, aber nach einer Platte nervt mich das Genöle. Der Mandel hingegen schien ganz in die Musik versunken. Ich drehte das Autoradio leiser.
»Sigi, ich hör das grade.«
»Und ich kann so nicht denken.«
»Was musst du denn jetzt auch denken?«
»Was in dem Edelstein vorgeht.«
»Was soll denn in dem vorgehen?«
»Dass er uns auf sein Segelboot einlädt.«
»Keine Ahnung, vielleicht will er nicht im Mittelpunkt unserer Ermittlungen stehen und sich irgendwie aus der Affäre ziehen. Mit einer Geste.«
»Aber dass er dann ausgerechnet auch mich einlädt, wo er sich doch denken kann, dass ich ihm am liebsten seine Schnöselfresse in den Scharmützelsee halten will, bis die Sonne untergeht.«
»Er hat ja auch nur mich eingeladen«, sagte der Mandel, ohne eine Miene zu verziehen.
»Wie bitte?«, fragte ich nach.
»Aber wir sind doch ein Team«, sagte der Mandel und lächelte verträumt. Dann drehte er den Bob Dylan wieder auf laut.
Diensdorf-Radlow ist eine dieser typischen Ortschaften, die über eine höchst pittoreske Lage am Wasser verfügen, das aber vollkommen unverdient. Mit unverdient meine ich: Das sind Ortschaften ohne einen Funken Kultur. Man könnte ja meinen, dass so eine Seelage den Geist und die Sinne beflügelt, dass die Leute veranstalten und kreieren, weil sie die schöne Gegend so inspiriert. Oder zumindest ein vernünftiges Restaurant eröffnen, ein akzeptables Frühstückscafé oder eine gute Bar. Stattdessen: ein spießiger kleiner Hafen, den ein Investor aus der Stadt dann »Yacht-Akademie« nennt. Mit ein paar privaten Segelbooten und ein paar dieser lahmen Motorboote, für die man keinen Führerschein braucht, weil sie langsamer fahren, als der Mandel joggt. Das war das Einzige, was diese Ortschaften als Seeorte auszeichnete. Für mich war ein Seeort so etwas wie Torri del Benaco am Gardasee oder von mir aus noch Walchensee am Walchensee mit seinen alten Bauernhäusern. Das waren die Seeorte, die ich mit meinen Eltern jedes Jahr bereist habe. Ortschaften mit einem Flair. Ehrlich gesagt habe ich mich ein bisschen erschrocken, als ich das erste Mal hier oben in einer Seeortschaft war, wie wenig positiv so eine schöne Angelegenheit wie ein See das Ortsbild beeinflussen kann. Dennoch zieht es immer mehr von diesen wehleidigen Großstädtern, die ab fünfunddreißig plötzlich das Bedürfnis nach Natur verspüren, an die Seen. Die wirklich Geldigen natürlich nicht, die kaufen sich lieber ein Haus am Gardasee, aber so ein paar Ärzte, Juristen und zweitklassige Schauspieler verschlägt es in Orte wie Diensdorf-Radlow. Dort renovieren sie dann verweste Datschen von verstorbenen SED-Funktionären, von denen sich manche zwar ein Rustikalwohnzimmer mit Bärenfell und Kachelofen geleistet, aber dafür statt eines Badezimmers nur ein einziges Scheißhaus eingebaut haben. Keine Dusche, keine Badewanne, das muss man sich vorstellen.
Kann sein, dass ich laut gedacht hatte, denn der Mandel sagte plötzlich: »Lass sie doch machen. Bevor das hier alles verrottet.«
»Das soll ruhig verrotten mitsamt seinem Regime-Mief«, sagte ich und war mir in dem Moment selbst ein bisschen unsympathisch.
Der Mandel hatte sein neues Telefon zu einem Navigationsgerät umfunktioniert und schien sich auf jede neue Ansage der weiblichen Stimme zu freuen.
»Bitte wenden«, sagte die Stimme, und der Mandel wendete.
»In zweihundert Metern bitte wenden«, sagte die Stimme, nachdem der Mandel gewendet hatte.
»So ein Schrott«, sagte ich.
»Das wird schon so stimmen«, sagte der Mandel und wendete erneut.
Die Yacht-Akademie war natürlich nur ein kleiner weißer Flachbau mit einem Shop für sündhaft teure Poloshirts und Windjacken und einer kleinen Rezeption für den Bootsverleih. Neben der Rezeption befand sich eine Art Wartecouch. Von der stand der Edelstein auf, als wir eintraten, und reichte dem Mandel freundschaftlich die Hand. Mich sah er von oben bis unten an und sagte dann: »Hallo.«
»Ist kein Problem, dass der Sigi mit dabei ist, oder?«, fragte der Mandel.
»Jetzt ist er ja schon da«, sagte der Edelstein.
»Ha«, machte ich, warum, weiß ich gar nicht mehr genau.
Wir folgten dem Edelstein zu einem anliegenden Segelboot. Rumpf aus rötlichem Holz, Deck weiß gestrichen. Nicht besonders angeberhaft, muss ich zugeben, aber immerhin ein Segelboot. Veronique stand in einer weißen Schreibschrift drauf, was ich sehr bedenklich fand, nicht nur wegen der Schreibschrift. Backbord wartete ein untersetzter Mann mit Halbglatze, der aussah wie Gregor Gysi ohne Brille. Er trug eine weiß-rote Krawatte unter seiner Windjacke.
»Guten Tag, die Herren. Es gibt schönere Tage zum Segeln«, sagte der Gysi-artige Mann und lachte uns freundlich zu.
»Darf ich vorstellen, Max Mandel und sein Partner«, sagte der Edelstein.
»Peter Neumann«, sagte der Gysi und hielt dem Mandel die Hand hin.
»Aha«, sagte der Mandel und steckte die Hände in die Hosentaschen.
»Fahren wir erst mal ein bisschen raus«, sagte der Edelstein, und mit dem Segeln versuchte er es erst gar nicht, sondern machte gleich den Motor an.
Es war ein trüber Tag, ich hatte das Gefühl, es müsste jeden Moment anfangen zu hageln.
Der Edelstein drückte jedem von uns eine Flasche holländisches Bier in die Hand und steuerte dann das Boot auf dem See herum. Der Mandel, ich und der Neumann saßen im Halbkreis hinter dem Edelstein auf einer Holzbank.
»Wohin fahren wir denn?«, fragte der Mandel.
»Ich dachte, wir fahren mal rüber nach Bad Saarow. Da können wir im Café Dorsch was essen. Den gebackenen Schafskäse kann ich empfehlen. Chutney-Senf-Dressing auf Feldsalat. Hat was«, sagte der Edelstein.
»Es ist gut, dass wir uns mal unterhalten können«, sagte der Neumann, und ich musterte ihn. Ich hatte nämlich noch nie einen echten Rechtsextremen getroffen. Noch nicht einmal einen Rechten. Vielleicht mal aus der Entfernung gesehen. Auf der anderen Straßenseite. Und im Fernsehen. Aber noch nie so nah. Ich fragte mich, ob Leute wie der Neumann vielleicht depressiv waren. Klinisch depressiv. Dass einen das Leben oder die schwere Kindheit so in die Knie gezwungen hat, dass man zum Revisionisten und Extremisten wird. Das war doch die einzig plausible Erklärung, warum er so lange bei den Nationalen gewesen war und jetzt der Vorsitzende der Kulturfreunde des Nordens, eines »Vereins zur Pflege historisch deutscher Werte«, was immer damit auch gemeint war. Obwohl er gar nicht deprimiert aussah, muss ich zugeben.
»Ja, trifft sich gut«, sagte der Mandel.
»Die beiden ermitteln im Auftrag der Plattenfirma wegen den Aufnahmen«, sagte der Skipper Edelstein, der sich kurz von seinem Steuerrad zu uns umgedreht hatte. Fehlte noch, dass er sich eine Kapitänsmütze aufsetzte.
»Sehr schön«, sagte der Neumann.
Jeden Tag läuft mindestens eine Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg im Fernsehen, dachte ich. Man kann also gar nicht in den Fernseher schauen die Woche über, ohne mit dem Holocaust aneinanderzugeraten. Das muss doch einem wie dem Neumann zu denken geben, wenn man das im Nachhinein sieht.
»Wir haben uns gefragt, ob Sie oder Ihr Verein etwas mit dem Verschwinden von Aufnahmen des ermordeten Leo Tilmann zu tun haben«, sagte der Mandel.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte der Neumann sanft.
»Die Verrückten haben mir einen Peilsender ans Auto geklebt«, sagte der Edelstein vom Steuerrad aus und lachte.
»Sie sind ja bestens ausgerüstet«, lobte der Neumann.
»Danke«, sagte der Mandel.
»Vielleicht entstand durch das geplante Album von Herrn Tilmann ja ein Interessenkonflikt mit Ihnen.«
»Ach, wissen Sie, Herr Mandel, wenn der Herr Tilmann auf seiner Platte den Meinungen des Vereins oder gar meinen widersprochen hätte, dann wäre das doch kein Grund, auf illegale Weise irgendwelche Aufnahmen verschwinden zu lassen. Wir sind ein freies Land. Über uns schreibt und sagt doch sowieso jeder, was er will. Wie weh kann uns ein weiterer Künstler wie Herr Tilmann tun, der sich durch ein sogenanntes antifaschistisches Statement Aufmerksamkeit auf unsere Kosten verschaffen will?«
Was für Bücher lasen solche Leute wie der Neumann? Die komplette Weltliteratur ist doch von humanistischem Gedankengut durchzogen, da finden sich Leute wie der Neumann doch gar nicht wieder. Und er wird ja nicht den ganzen Tag deutsche Sagen lesen können. War das nicht eine Beleidigung für den Intellekt, wenn man nur diese schlecht geschriebenen Verschwörungsbücher lesen konnte, oder interpretierte man einfach den gängigen Kanon an humanistischer Prosa nach eigenem Gutdünken? Vielleicht war das eine Art geistiger Hochleistungssport, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen.
»Ich glaube auch nicht, dass es sich lohnt, wegen irgendwelcher Aufnahmen so einen Terz zu veranstalten«, sagte der Mandel.
»Geschweige denn, jemanden umzubringen«, fügte er hinzu.
»Dann sind wir ja einer Meinung. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, Herr Mandel. Wir besitzen keine Aufnahmen und sind auch nicht auf der Suche nach welchen. Das künstlerische Schaffen von Herrn Tilmann und seiner Band ist uns ziemlich egal, wenn ich das mal so frei sagen darf.«
»Na dann«, sagte der Mandel.
»Dann kann ich also davon ausgehen, dass Sie von mir jetzt alle notwendigen Informationen für Ihren Fall erhalten haben?«, fragte der Neumann.
»Na ja«, sagte der Mandel.
»Dann zum Wohle«, sagte der Neumann und hielt dem Mandel seine Bierflasche hin.
Was hören solche Leute wie der Neumann eigentlich für Musik? Wagner wär zu einfach. Aber Klassik kann schon sein. Jazz geht ja nicht wegen den Vorbehalten gegen Schwarze. Und man glaubt nicht, wie viele Leute auch heutzutage noch Schlager hören. Was da CDs über den Ladentisch gehen, da träumen Bands wie die Killers davon, in Deutschland so viele Platten wie Andrea Berg und Andy Borg zu verkaufen. Was auch gut zum Neumann passen könnte, ist diese Mittelalterfolk-Welle, die sowohl bei Gothic-Leuten als auch bei den Rechten gut ankommt. Ein bisschen Blut und Boden war da auf jeden Fall mit drin. Überhaupt bezeichnend, dass sich solche Leute für das Mittelalter begeisterten.
Der Mandel nahm einen Schluck von dem holländischen Bier.
»Wegen mir könnten wir auch wieder zurückfahren«, sagte der Mandel zum Edelstein.
»Kein Bier mehr?«, fragte der Edelstein.
»Nein«, sagte der Mandel.
»Keinen gebackenen Schafskäse?«
»Nein«, sagte der Mandel, obwohl ich Hunger gehabt und mir gerne noch genauer den Neumann angeschaut hätte.
Nachdem der Neumann sich überfreundlich von uns verabschiedet hatte, stand der Edelstein mit mir und dem Mandel vor der Yacht-Akademie und strich sich nervös über seine frisch rasierten Schläfen. Neben dem Edelstein sah der Mandel wie ein unartiges Kind aus. Wegen dem Unterschied in der Körpergröße.
»Was sollte denn das Theater?«, fragte der Mandel, und ich wunderte mich, dass er so einen Ton anschlug dem Edelstein gegenüber. Der Neumann schien ihn wütend gemacht zu haben.
»Mensch, Mandel, kapierst du das nicht? Ich wollte dich aus der Schusslinie nehmen. Der Neumann verfolgt eine eigene Agenda mit den Aufnahmen vom Leo, und es könnte unangenehm werden, wenn er denkt, ihr kommt ihm dazwischen.«
»Was für eine Agenda?«, fragte der Mandel.
»Inwiefern unangenehm?«, fragte ich.
»Was meinst du denn, was passiert, wenn du dich mit solchen Leuten anlegst?«, sagte der Edelstein zum Mandel.
»Dein Auto brennt«, beantwortete ich die Frage vom Edelstein, obwohl die vermutlich nur rhetorisch gemeint war.
»Den Leo hast du aber offensichtlich nicht rechtzeitig aus der Schusslinie genommen«, sagte der Mandel.
»Ich habe keine Ahnung, wer den Leo umgebracht hat. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass der Neumann dahintersteckt.«
»Was hast du denn mit dem Neumann zu schaffen, Herr Edelschwein?«, fragte ich.
»Ich arbeite nur für den Leo, du Affe«, sagte der Edelstein.
»Das sieht aber nicht danach aus«, sagte ich.
»Glaub, was du willst«, sagte der Edelstein.
»Das ist schon eine berechtigte Frage vom Sigi. Was tust du für den Neumann, und weiß der Neumann, dass du für den Leo arbeitest, also gearbeitet hast?«, fragte der Mandel.
»Natürlich nicht. Der denkt, ich arbeite für ihn.«
»Aber was arbeitest du für den Neumann?«, fragte der Mandel nochmal und machte eine Ausnahme in seinem üblichen Verzicht auf Penetranz.
»Ich berate ihn in der einen oder anderen Rechtsfrage und habe ihn über das Album vom Leo auf dem Laufenden gehalten. Natürlich nur zum Schein.«
»Kann man sagen, du bist ein Doppelagent?«, fragte ich den Edelstein und fand das Wort »Doppelagent« noch abwegiger als das Wort »Privatdetektiv«.
»Ich arbeite ausschließlich für den Leo«, sagte der Edelstein gereizt.
»Und wollte der auf seinem Soloalbum speziell die Kulturfreunde bloßstellen?«, fragte der Mandel.
»Das kann ich nicht sagen«, sagte der Edelstein.
»Warum nicht?«, fragte der Mandel.
»Weil es euch nichts angeht. Der Neumann hat die Aufnahmen nicht. Das wüsste ich. Mehr braucht ihr nicht zu wissen.«
»Warum triffst du dich noch mit dem Neumann, jetzt wo der Leo tot ist?«, fragte ich.
»Weil es verdächtig wäre, sich sofort nach dem Tod vom Leo zurückzuziehen.«
»Du bist ein dubioser Typ«, sagte ich zum Edelstein.
»Und du kannst mich mal«, sagte der Edelstein zu mir.
»Was läuft denn zwischen dir und der Malleck?«, fragte der Mandel, als wir zusammen auf einer Bank am Ufer saßen. Der Edelstein war wieder auf sein Boot zurückgegangen und fuhr jetzt wahrscheinlich alleine zu seinem überbackenen Schafskäse.
»Ach, eigentlich nichts«, sagte ich. Irgendwo in der Entfernung hörte ich Musik. Es klang wie einer dieser ruhigen Songs von Black Sabbath. Nach Mittelalter. Oder irgendwas von Wishbone Ash. Aber es war sicher nicht Black Sabbath, es war vermutlich irgendeine Esoterik-CD aus einem Teeladen, die zu uns herüberwehte, an dem frühen Abend am Scharmützelsee. Es war nicht mehr ganz so bedeckt, aber der Wind war stärker. Ein unerwartetes Stück Abendsonne mühte sich durch die Wolken, was ein schwefelgelbes Licht auf dem Wasser verursachte. Es war niemand in der Nähe.
»Was ist denn eigentlich nichts?«, fragte der Mandel und setzte sein Interviewgesicht auf.
Ich summte die Mittelaltermelodie mit.
»Ich habe dich etwas gefragt«, sagte der Mandel wie ein Mathelehrer.
»Wir haben uns geküsst. In einem Park.«
»Wann?«
»Am Tag von dem Konzert im Kunstpalast.«
»Und danach war nichts mehr?«
»Kaffee trinken.«
»Lügst du mich an, Sigi?«, fragte der Mandel in einem Ton, als hätte ich gerade die dritte binomische Formel falsch aufgesagt.
»Warum?«
»Aha!«
»Aha?«
»Du hast warum gesagt.«
»Wie bitte?«
»Wer warum auf die Frage sagt, ob er lügt, ist immer schuld.«
»Woran denn schuld?«
»An dem, weswegen er lügt.«
»Versteh ich nicht«, sagte ich, weil ich es nicht verstand.
»Ich habe dich gefragt, ob du lügst, und du hast gefragt, warum, statt zu sagen: nein. Da ist es doch klar, dass du lügst. Zudem wäre der Edelstein nicht so schlecht auf dich zu sprechen, wenn du die Malleck nur mal kurz geküsst hättest«, sagte der Mandel.
Ich versuchte angestrengt, diese Musik wieder zu hören, aber sie war weg. Kein Black Sabbath und kein Mittelalter mehr. Nur noch Gegenwart und die Gegenwart vom Mandel.
»Wir haben auch miteinander geschlafen. Aber nur kurz«, sagte ich, und mir war ein bisschen schwindelig. Da hat das angefangen mit dem Schwindel, meines Wissens nach.
»Nur kurz?«
»Mir ist ein bisschen schwindelig«, sagte ich.
»Hättest ja mal was sagen können.«
»Mir ist erst seit ein paar Sekunden schwindelig.«
»Ich meinte wegen der Malleck.«
Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut. Es war mein gutes Recht, mein Verhältnis zur Malleck nicht vor dem Mandel offenzulegen, solange es keine definierte Struktur hatte, aber ich fühlte mich dennoch ertappt und schuldig. In mir trieb eine Angst hoch, dass der Mandel mir das nachtragen würde. Dass es unser Verhältnis aufs Schwerste belasten könnte. Und unseren neuen Beruf. Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, jetzt geht alles den Bach hinunter. Die ganzen Veränderungen, der frische Wind, das war alles nur ein Vorbote vom Niedergang gewesen. Der Mandel würde mich in einem nie vermuteten Anfall von Jähzorn und Eifersucht im Scharmützelsee ertränken, die Malleck würde den Edelstein heiraten und der Urbaniak die Stimme vom Tilmann auf eine Platte samplen, die er so nie geschrieben hat, ähnlich wie bei Freddie Mercury und Tupac Shakur. Jetzt mal übertrieben gesagt.
»Du siehst gar nicht gut aus, Sigi«, sagte der Mandel.
»Doch, doch, geht schon. Bin nur ein bisschen durch den Wind. Aber geht schon.«
»Gut, weil ich geh jetzt nämlich auch.«
»Wie, du gehst?« Der Mandel war schon aufgestanden.
»Ich geh jetzt. Beziehungsweise ich fahr jetzt.«
»Wohin?«
Ich wollte auch aufstehen, aber ich konnte gar nicht wegen dem Schwindel.
»In die Stadt zurück.«
»Und ich? Wie komm ich nach Hause?«
»Ruf doch die Malleck an. Vielleicht holt sie dich ab.«
»Das ist nicht dein Ernst. Jetzt bleib da, du Spinner.«
»Ciao, Sigi.«
Der Mandel ging in Richtung Yacht-Akademie, wo der gelbe Fahrschul-Audi parkte. Ich konnte nicht aufstehen. Der Mandel war nicht mehr in Sichtweite, als ich es endlich schaffte. Mir war immer noch schwindelig, aber ich tat ein paar Schritte in Richtung Ufer, wo ich mir eine Handvoll Wasser ins Gesicht schütten wollte, um wieder zu Sinnen zu kommen. Zum Wasser hin war es ziemlich abschüssig. Meine Beine gaben nach, ich fiel hin und rollte in Richtung See. Dann war ich weg.
Die Malleck und ich liegen in diesem Kaiserbad unterhalb der Strandpromenade. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schön die Strände hier sind, obwohl wir noch in Deutschland sind. Weißer Sand wie im exotischsten Palmenstaat, kilometerweise. Landseitig allerdings nur der Verfall. Ich liege mit der Malleck an einem weißen, leeren Strand, und im Hintergrund der Verfall. Leerstehende, an der eigenen Vergangenheit erstickte, halb in die Promenade hineinfaulende alte Villen. Der Verfall frisst die Idylle auf, er rückt immer näher. Direkt hinter uns steht eins dieser Gemäuer, und mich fröstelt, wenn ich mich danach umdrehe. Ich liege mit der Malleck am Strand, und wir sind verkeilt und küssen uns. Die Malleck trägt einen Badeanzug in den Farben der amerikanischen Flagge. Ich drehe mich immer wieder um, und die finstere Villa rückt immer näher. Bald steht sie direkt hinter uns. Wenn ich den Arm nach ihr ausstrecke, kann ich die eiskalte Hausmauer berühren. Der Himmel ist gelb, und es riecht nach Glut und Rauch, wie an einem Grillabend. Es wird schnell dunkel. Das Gemäuer stößt schon an meinen Hinterkopf. Die Malleck flüstert in mein Ohr.
»Ich liebe dich. Aber nur, bis es dunkel ist. Keine Sekunde länger.«
Es wird rasend schnell dunkel. Ich sehe kaum mehr die Hand vor Augen. Die Malleck rankt sich um mich wie eine Schlingpflanze, man hat das Gefühl, sie wird immer länger. Dann steckt sie mir ihre Zunge ins Ohr, und ich merke, wie es hineintropft. Immer mehr Wasser, immer schneller. Immer überfüllter wird mein Ohr mit dem Speichel von der Malleck. Ich höre nichts mehr vor lauter Wasser in den Ohren. Der Geruch von Rauch und Glut wird schärfer. Die Malleck hat sich um mich herumgesponnen wie eine Schlingpflanze, und das Wasser fließt von meinen Ohren in meinen Kopf, in mein Hirn, in meinen Mund und vorne wieder heraus. Es ist jetzt dunkel, nur noch ein gelbes Licht ganz weit weg, irgendwo da vorne. Ich muss zu dem gelben Licht. Zu dem gelben Licht, und zwar schnell, bevor hier alles lichterloh brennt oder ich an der Malleck ersaufe. Quasi höchste Eisenbahn. Wo ist mein Portemonnaie? Hab ich das in der Dunkelheit am Strand verloren? Ich dreh durch, wenn ich jetzt alle Karten sperren muss.
Als ich aufwachte, war es fast dunkel. Ich lag am Uferstreifen vom Scharmützelsee, ein bisschen unterhalb der Stelle, wo ich umgeknickt war. Von hier aus konnte ich die Parkbank über mir sehen, auf der ich mit dem Mandel gerade noch gesessen war. Aber wie lange her war gerade noch?
Der Mandel. Der war nicht ernsthaft ohne mich in die Stadt zurückgefahren, oder? Das konnte er nicht bringen. Nicht wegen der Sache mit der Malleck. Die Malleck. Die Malleck. War sie auch da gewesen? Nein, kann nicht sein. Das hatte ich mir eingebildet. Ich blieb noch eine Weile liegen und schaute in den sich immer schneller verdunkelnden Himmel. Oben auf der Anhöhe die Parkbank aus Holz. Es fühlte sich an, als hätte jemand mit mir Schluss gemacht. Mein Portemonnaie fiel mir wieder ein. Ich tastete am Hintern meiner nassen Hose herum, aber da war nichts. Ich stand auf, kein Schwindel mehr. Grotesk, so ein Schwindelanfall aus dem Nichts. Ein regelrechter Kollaps. Ich suchte das Gras ab, aber ich konnte kaum noch etwas erkennen, weil es schon so dunkel war. Ich war nass bis auf die Knochen. Mein Telefon war noch in der vorderen Hosentasche. Es war nass und aus. Vielleicht war es auch kaputt. Aber wo war mein Portemonnaie? Bin ich in den See gefallen, oder warum ist alles nass? Wo ist das scheiß Portemonnaie? Die ganzen Karten, die man sperren und nachbestellen muss. Hoffentlich funktioniert das Telefon noch. Ich konnte es nicht einschalten. Ich ging die Anhöhe nach oben zu der Holzbank und setzte mich erst mal hin. Der Mandel hatte mich hier zurückgelassen. Ohne Geld und Ausweise. In der Dunkelheit von Diensdorf-Radlow.
Der Taxifahrer, den ich nach einer Viertelstunde Umherirren in dem Ort auftrieb, war nicht willens, bis in die Stadt zu fahren, auch nicht für viel Geld. Ich war ihm zu nass, und das war ihm zu weit. Und ich hätte ihn ja noch nicht einmal gleich bezahlen können. In dem Aushang am kleinen Regionalbahnhof stand, dass der letzte Bus um 19:16 Uhr nach Fürstenwalde rausging, aber das half mir wenig, weil es schon 19:56 Uhr war.
In der Pension Odin war noch ein Doppelzimmer frei, für sagenhafte hundertzehn Euro mit Frühstück. Ich unterschrieb dem Mann mit der gelben Frisur – vermutlich ein Färbeunfall – und dem grauen Schnauzbart eine Einzugsermächtigung für unser Betriebskonto, dessen Kontonummer und Bankleitzahl ich auswendig wusste. Der Mann sagte, es sei gefährlich, nach Dunkelheit in dem See zu baden. Es gäbe auch keine offizielle Badestelle. Ich solle das nächste Mal vorsichtig sein. Es sind schon Leute im Scharmützelsee ertrunken. Wenn ich wollte, könne ich einen Bademantel haben. Gegen fünfzehn Euro Leihgebühr, sagte der Mann mit den gelben Haaren. Ich fragte, ob ich telefonieren dürfe. Ich durfte und rief bei der Auskunft an und fragte nach der Nummer, unter der man Scheckkarten sperren lassen konnte. Ich ließ mich gleich weiterverbinden. Das Telefon stand hinter der Rezeption und der Mann während des Telefonats die ganze Zeit neben mir. Am Ende schrieb er acht Euro und dreiundvierzig Cent in sein Rechnungsbuch. Ich hatte genug von diesem Tag, ließ mir den Bademantel geben und ging auf mein Zimmer, das direkt unter dem Dach lag. Über einem ziemlich tiefliegenden Holzbett, das in der Länge gerade mal für meine eins fünfundsiebzig ausreichte, hing ein gemaltes Bild von einem Haus auf einer Anhöhe. Es sah ein bisschen aus wie das Haus in Psycho, nein, es sah aus wie das Haus auf dem Cover von der Them von King Diamond. Das Haus, in dem dieser kleine Junge seine vom Teufel besessene Großmutter empfängt, die gerade aus dem Irrenhaus kommt. Die Them war nur der erste Teil von der Geschichte um das Haus gewesen. Die Nachfolgeplatte ist die Conspiracy, mit dem Gesicht vom King vorne drauf. Ich hatte damals die Conspiracy als LP , die Them besaß ich lediglich auf überspielter Kassette, und zwar noch nicht einmal in Chrom, sondern nur in Ferro-Qualität. Jetzt, wo ich das Bild von dem Haus sah, erinnerte ich mich wieder genau an die Them, die Conspiracy und überhaupt an King Diamond. Auf dem Cover-Foto von der Conspiracy trug der King nämlich ein neues Make-up, das war mir damals sofort beim Kauf im Stereo Wunderland aufgefallen. Überhaupt wusste ich früher anhand des Make-ups haargenau, ob es sich um ein Foto aus der Abigail-Zeit (das war das erste Konzeptalbum), der Them-Phase oder von der Conspiracy handelte. Oder sogar noch von Mercyful Fate, der ersten Band vom King. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, aber in der Abigail-Phase war diese okkulte Gesichtsbemalung deutlich symmetrischer und das umgedrehte Kreuz auf der Stirn der Blickfang. Bei Conspiracy floss das Schwarz immer mehr ins Weiß, das Chaos breitete sich wie eine Kreatur auf dem Gesicht vom King aus. Das passte zu der ausufernden Fantasie von dem Mann. Jetzt im Nachhinein gehört King Diamond ja zu den Heavy-Metal-Sängern, die einem eher peinlich sind. Wenn ich zurückdenke an die Falsettstimme und die hanebüchenen Konzeptalben mit Storylines, die selbst Edgar Allen Poe das Fürchten gelehrt hätten. Ich hatte bis dahin mindestens zwanzig Jahre nicht mehr an King Diamond gedacht, das war ein unerwartetes Wiedersehen. Der King war übrigens einer der wenigen ernsthaft bekennenden Satanisten gewesen. Aber er war auch Däne, und die da oben haben den ganzen Okkultismus im Metal immer schon ein bisschen ehrgeiziger betrieben als der Rest. Im Geiste hab ich es genau vor mir: »Welcome Home«, das erste Lied von der Them nach dem Hörspiel-Intro.
»Grandma, welcome home. You have been gone for far too long«, kreischte der King, und ich erinnere mich, dass wir das damals schon albern fanden. Immer wenn meine Oma zu Besuch kam, sang ich mit der Falsettstimme vom King: »Grandma, welcome home«, sobald es an der Haustür klingelte. Riesengag. Vermutlich hätte mich an dem Abend nichts besser aufheitern, nichts mehr ablenken können, als das Bild an der Wand, das wie das Cover von der Them aussah. Wenn der King nicht gewesen wäre in dieser Nacht, ich hätte vor Enttäuschung nicht einschlafen können.
Am nächsten Tag funktionierte mein Telefon wieder. Vielleicht hatte sich die Elektronik über Nacht gesundgetrocknet, vielleicht hatte es auch geholfen, dass ich das Telefon am Morgen einmal kräftig gegen den Bettkasten gehauen habe. Erstaunlich, wie verlässlich das klappt: ungehalten auf etwas Kaputtes draufhauen, bis es wieder geht. So habe ich schon Fernseher und Diktiergeräte repariert, denn diese Art von Alchemie wurde in meiner Familie über die Generationen weitergegeben. Ich rief den Mandel an und fragte ihn, ob er mir online ein Bahnticket buchen und es an die Pension Odin faxen könne. Ich erwartete große Probleme, erstens wegen dem Ärger mit der Malleck, zweitens der Mandel und etwas online buchen. Kein Problem, sagte der Mandel. Sei praktisch schon unterwegs. Oha, dachte ich.
Nach einem Frühstück mit ganz miesen Croissants im trostlosen Speisesaal der Pension Odin neben einem Rentnerpaar aus Erlangen fuhr ich mit dem Bus nach Fürstenwalde, und eine Stunde später saß ich im Zug in die Stadt. Die paar Mark für den Bus lieh mir der Mann mit den gelben Haaren und setzte sie auf die Rechnung.
Wenn man sich vergegenwärtigt, wie schlecht man finanziell ohne seine ganzen Scheckkarten dasteht, wird man wahnsinnig. Und wenn man, so wie ich, auch noch seinen Führerschein und seinen Personalausweis im Portemonnaie trägt, dann bleibt am Ende überhaupt keine Identität mehr übrig. Dann glaubt dir im Zweifelsfall nur noch deine eigene Mutter, dass du du bist. Gottseidank hatte ich irgendwo zu Hause noch einen Reisepass, der abgelaufen war. Mit dem ging ich zur Bank und hob etwas Geld ab. Auf dem Bürgeramt gab es auch keine Probleme, außer dass ich bei der Beantragung eines neuen Ausweises und Führerscheins schon wieder bezahlen musste. Ich fragte den Dr. Fritsch am Telefon, wann ich vorbeikommen konnte wegen dem Schwindel. Denn ein plötzlicher und unerklärlicher Schwindel, da habe ich einen Heidenrespekt, weil man nie weiß, wo das hinführt. Der Hausarzt Dr. Fritsch hat dann später diagnostiziert: Kreislauf. Definitiv nur der Kreislauf. Maximal ein otogener Schwindel, weil Gleichgewichtsorgane beschädigt. Das ist aber eine HNO-Sache, wegen den Cortischen Organen. Ob es auch Hörstörungen gäbe, ob ich viel Lärm ausgesetzt sei, zum Beispiel beruflich. Neurogen würde er jetzt mal nicht tippen. Wenn ich allerdings einen Tumor ausschließen wolle, dann müsste ich zur Radiologie. Aber da macht er keine Überweisung, weil das wäre ja pure Spekulation, außer ich wolle das. Nein, nein, es war hundertprozentig nur der Kreislauf. Einfach mal beobachten. Und wenn, dann höchstens der otogene Schwindel. Ich sag das jetzt, damit keiner beunruhigt ist.