Acht

Um neun lungerte ich mit zahlreichen Journalisten und ein paar hysterischen Fans, die Tickets gewonnen hatten, in dem loungeartigen Bereich im Kunstpalast herum. Von der Malleck keine Spur, vom Mandel genauso wenig. Ich bestellte mir ein Glas Wodka auf Eis und eine kleine Flasche Wasser dazu. Ich beobachtete die Leute und grüßte hin und wieder jemand aus der Ferne. Schon merkwürdig, dass ich in keine Gespräche verwickelt wurde, immerhin kannte ich gut die Hälfte der anwesenden Journalisten. Ich war aber auch noch nie ein großer beruflicher Unterhalter, wenn ich ehrlich bin. Der Mandel tat sich da deutlich leichter mit den Kollegen, immer wenn der Mandel irgendwo war, herrschte ein großes Hallo. Komisch, weil der Mandel mit seiner stoischen Art eigentlich nicht der Typ für ein großes Hallo war. Aber er zog das große Hallo magisch an.

»Servus«, sagte der Mandel und stellte sich neben mich an die Theke.

»Na, hast du deinen Schützling aus den Augen verloren?«, fragte ich den Mandel.

»Der zieht sich um. Es geht gleich los.«

»Und? Hast du was herausgefunden?«, wollte ich wissen.

»Nein«, sagte der Mandel, und nach einer halben Minute dann: »Und du?«

»Ich? Nein. Was hätte ich denn herausfinden sollen? Und wie, vor allem?«

»Na, übers Netz«, meinte der Mandel.

Und da war’s wieder. Übers Netz. Schon klar, Mandel. Alle denken immer, wenn man als Online-Redakteur gearbeitet hat, kann man alles: sich in den CIA-Computer einwählen, eine Festplattenrettung durchführen oder das Internet erfinden. Ich kann gar nicht zählen, wie oft ich von irgendwelchen Deppen im Verlag angerufen worden bin, die mich gefragt haben, ob ich ihren Browser, ihr E-Mail-Programm oder am besten den ganzen Rechner reparieren könnte.

»Na, du bist doch der Onliner. Du kennst dich doch mit Computern aus«, hieß es dann.

»Ich kann noch nicht einmal meinen Computer selbst einschalten. Ich bin eine reine Fachkraft«, habe ich dann immer bockig gesagt.

Und auch der Mandel war anfangs so einer von der steinzeitlichen Sorte gewesen. Er hat mich mal ernsthaft gefragt, ob ich ihm nicht eine MP3-Datei runterladen könnte, das ihm eine Plattenfirma auf einen Server gestellt hatte. Dabei hätte er nur auf einen Link klicken und ein Passwort eingeben müssen. Nur wenn er sich für ein Gagdet interessierte, etwas ganz Spezielles, dann war er an vorderster technischer Front anzutreffen. Das Internet fiel nicht in diese Kategorie.

»Im Netz ist nichts«, sagte ich. »Außer vielleicht, dass der Anwalt von der Malleck erfolgreich so einen Neonazi verteidigt hatte, weil der bei einer Demo einen Linken ziemlich übel zugerichtet hat.«

»Der Anwalt von der Malleck verteidigt Nazis?«, der Mandel schien empört, eine seltene Anwandlung.

»Mehr weiß ich auch nicht. Unschöne Sache, und eigentlich geht es uns auch nichts an.«

»So was geht einen immer was an«, sagte der Mandel, und ausgerechnet der Mandel, der letzten Sonntag vergessen hatte, zum Bürgerentscheid wegen der Parkraumbewirtschaftungszonen zu gehen, weil er geglaubt hatte, es wäre noch Samstag. Die Freiberuflichkeit tat seinem Zeitgefühl keinen Gefallen.

»Wie war dein Treffen mit der Malleck?«, fragte der Mandel.

»Ganz okay. Ich hab ihr das vom Sägewerk erzählt. Sonst hätte ich ja gar nichts Neues gehabt«, rechtfertigte ich mich schon mal im Voraus.

»Dass du jetzt nicht gescheiter bist, Sigi. Was musst du dich denn überhaupt mit ihr treffen?«

»Ich wollte sie nur auf dem Laufenden halten. Ihr zeigen, dass wir am Ball bleiben.«

»Am Ball«, wiederholte der Mandel abfällig.

»Wo ist eigentlich die Malleck?«

»Woher soll ich denn das wissen?«, sagte ich, als im Saal nebenan das Licht ausging.

»Es geht los. Gehen wir rein«, sagte der Mandel.

Das Konzert hatte noch nicht einmal angefangen, und ich war schon genervt, weil Intro. Intros finde ich gut bei Heavy-Metal-Bands, die einen Okkultfimmel haben, aber ansonsten ist das meist nichts anderes als ein Zeichen für schlechtes Pathos und ein Vorzeichen für schlechte Musik. Und bei DEMO dann auch ganz übel: das Andante aus der Kleinen Nachtmusik vom Mozart. Und wie vorherzusehen: danach das totale Punkbrett, um alle zu schockieren. Albern und total Neunziger, wenn nicht sogar Achtziger.

DEMO spielten »Arschgeigen«, eine ganz alte Nummer und zu Recht in Vergessenheit geraten.

Warum bist du noch hier?

Hast dich nicht schon längst verpisst?

Weil selbst im Streichquartett der Verlierer

Keiner die Arschgeige vermisst!

Lyrisches Frühwerk vom Tilmann und ganz sicher seine Idee, mit der Nummer anzufangen. Ein Statement vermutlich. Ich bekam die Kotze bei so viel scheinheiliger Pseudorebellion. Der Mandel wippte mit, es war kaum zu glauben.

»Die alten DEMO-Sachen sind gar nicht so schlecht«, schrie er mir ins Ohr, und ich schüttelte nur den Kopf.

Nach dem Song sagte der Tilmann zum Publikum via Mikrofon:

»Hallo, ihr Punkrocker. Yeah.«

Danach folgten zwei, drei Standards wie »Rockomotive«, »Franz der Teufel« und »Isabella« und darauf die neue Single »Afrika«, die aber nicht die Begeisterung der anderen Lieder wiederherstellte. Danach gab es zwei weitere Stücke vom neuen Album, die ich nicht kannte, und ich holte mir noch einen Wodka und dem Mandel ein Bier, weil es keinen Beefeater gab.

Dann wurde es noch schlimmer. In der Mitte von »Neunerbahn« ging der Tilmann von der Bühne, und es entstand eine Art Jam-Session, alleine das Wort schon. Selbst der Mandel hatte jetzt das Interesse verloren und war mit einem Kollegen von Spiegel Online an die Bar gegangen. Ich lief in der Lounge herum und suchte die Malleck, nach der ich freilich schon die ganze Zeit Ausschau gehalten hatte. Als ich an der Bar vorbeikam, hielt mich der Mandel fest.

»Komm wieder mit rein. Jetzt passiert gleich was.«

Er lachte, und der Kollege von Spiegel Online lachte gleich mit. Offensichtlich war er eingeweiht. Dann gingen sie rein und ich hinterher. Der Tilmann war gerade wieder auf die Bühne gekommen und justierte sein Mikrofon. Seine Mitmusiker, der Kai Bartels, der Kretschmann und der Schredder, sahen erschöpft, aber zufrieden aus nach ihrem Hippiegewichse.

»Damit ihr mir hier nicht wegpennt, hab ich jetzt einen Gastsänger, den ihr alle kennt«, sagte der Tilmann ins Mikrofon.

»Max, komm rauf zu uns!«

Unter lautem Jubel stieg ausgerechnet Max Mandel, Intimfeind aller Karaoke-Abende, auf die Bühne.

»Der Max singt jetzt seinen Lieblings-DEMO-Song von früher, als der Max noch ein kleiner Studenten-Punker war.«

Der Mandel lächelte unsicher, aber er freute sich, das konnte ich sehen. Studenten-Punker, der Mandel, da lach ich. Der Mandel war immer schon ein Schnösel gewesen. Auch an der Uni. Er selbst hätte natürlich eher »Dandy« gesagt als Schnösel.

»Sag doch das Lied gleich selbst an, Mäx«, sagte der Tilmann, und das Publikum, das zu großen Teilen aus Musikjournalisten bestand, schien sich das erste Mal an dem Abend wirklich zu amüsieren. Ich fragte mich, ob auch die hysterischen Ticketgewinner wussten, wer der ältere Mann mit dem akkuraten Seitenscheitel und dem jugendlichen schwarzen Mantel auf der Bühne war. In dem Scheinwerferlicht konnte nun wirklich jeder sehen, dass der Mantel dem Mandel an der Hüfte zu eng war.

»Kennt ihr alle. Der Song heißt ›Sommerrebell‹«, sagte der Mandel ins Mikro, aber so beiläufig, dass man ihn kaum verstand. Zudem zählte der Schredder während der Ansage schon ein. Die Strophe sang dann der Tilmann, und der Mandel stand wippend daneben. Ganz peinliche Angelegenheit. Der Tilmann hielt ihm bei Schlüsselpassagen das Mikro vor den Mund, und der Mandel kannte tatsächlich den Text. Da taten sich ja Abgründe auf. Und dann kam der Refrain, und der Mandel übernahm jetzt das Mikrofon und stampfte mit dem Fuß auf wie ein betrunkener Stier.

Rebell, Rebell, schrei so laut du kannst

Sommer sind zum Träumen da

Sommer sind zum Brennen da

Schrei die Stille in Grund und Boden

Sommerrebell, Sommerrebell

Und dann sah ich auch die Malleck. Nur wenige Reihen vor mir stand sie mit einem Typen mit kurzrasierten Haaren und Polohemd. Sie sprang, sie jubelte, sie war völlig außer sich. Sie sang mit und warf dem Mandel Luftküsse zu. Ich fühlte mich jetzt endgültig fehl am Platz. Der Mandel trat unter dem Gejohle der Musikjournalisten vom Mikro zurück. Die hysterischen Fans schauten ein bisschen befremdet, aber klatschten höflich.

»Give it up for Max Mandel«, schrie der Tilmann ins Mikrofon. Und »Gute Nacht!« hinterher.

Die Band wanderte hinter die Bühne ab, während der Mandel unbeholfen wieder ins Publikum kletterte, wo er von der Malleck stürmisch in Empfang genommen wurde. Als sie ihm um den Hals fiel, ging ich zu ihnen.

»Hi, Sigi«, sagte die Malleck noch aus der Umarmung mit dem Mandel heraus.

»Hallo«, sagte ich. »War’s das schon?«

»Nein«, sagten der Mandel und die Malleck gleichzeitig.

»Die haben sich noch ein hammer Zugabenprogramm ausgedacht. Der Leo nimmt nur kurz sein Asthmaspray, und dann kommen sie wieder. Kennst du eigentlich den Holger?«, fragte die Malleck und nahm den großen kahlen Mann mit dem teuren Polohemd bei der Schulter, drehte ihn in meine Richtung.

»Holger, das ist der Sigi Singer, der Partner vom Max. Sigi, das ist der Holger, mein Anwalt.«

»Na?«, sagte der Holger Edelstein und schüttelte meine Hand. Wenn jemand schon »Na?« sagte.

»Und das ist der große Max Mandel, Musikjournalist, Freund der Stars und neuerdings Punkrocksänger«, lachte die Malleck und drehte den Holger Edelstein noch ein paar Grad weiter in Richtung Mandel.

»Geiler Auftritt«, sagte der Holger Edelstein, und »geil« ist auch so ein Scheißwort, dachte ich.

»Ich hol dir schnell deinen Drink, Roni«, sagte der Holger Edelstein zur Malleck und ließ uns mit ihr allein.

Jetzt wusste keiner von uns so recht, was er mit der Malleck reden sollte, weil Stimmung zwar ausgelassen, aber Anlass ja nach wie vor unschön, weil Spionage. Sogar Industriespionage, wenn man den Auftrag vom Urbaniak miteinrechnete. Wo war der eigentlich? Die Malleck sah übrigens schon wieder anders aus als heute Nachmittag. Eine kurze schwarze Hose und türkise Leggins darunter. Hohe Schuhe mit Korkabsatz. Aber ihr Geruch war noch derselbe wie im Park. Der Geruch, der ohnehin seit Stunden durch meine Sinne irrlichterte. Die Situation mit den ganzen Leuten hier war mir unangenehm. Ich wollte mich lieber mit der Malleck allein unterhalten. Die hysterischen Fans von der Ticketverlosung schrien und pfiffen, als ginge es um ihr Leben. Das Saallicht war noch nicht wieder an, und alles schaute auf die Bühne. Die Malleck sagte dem Mandel etwas ins Ohr. Ich schaute auf die Uhr, seit fast zehn Minuten war die Bühne jetzt leer, aber das Licht blieb aus. Ich blickte zum seitlichen Bühnenaufgang. Dort schaute ein Techniker ebenfalls auf die Uhr. Es dauerte noch weitere fünf Minuten, dann kam der Edelstein mit unseren Getränken zurück.

»Sorry. Hab mich an der Bar verquatscht«, sagte er und gab der Malleck ein Glas mit einer roten Flüssigkeit. Dem Mandel und mir drückte er eine Flasche Bier in die Hand. Es war ein holländisches Bier.

»Ist der Leo wieder aufgetaucht?«, fragte der Edelstein.

Die Malleck schüttelte den Kopf. Der Mandel schaute ernst drein, als wäre er der Tourmanager oder so was in der Art.

»Wo kann er denn sein?«, fragte der Edelstein.

»Keine Ahnung. Ich versteh das auch nicht«, sagte die Malleck und sah jetzt auch aus, als wäre ihr gerade etwas sehr Unangenehmes zugestoßen.

Erst kam der Kai Bartels auf die Bühne, dann der Rest.

»Liebe Fans«, sagte der Bartels. »Der Leo ist leider nicht auffindbar, und falls er das jetzt hört, wird er dringend gebeten auf die Bühne zu kommen, weil ich sonst heute Abend ›Totengräber‹ singen muss, und das willst du doch nicht, Leo, oder?«

Die Band ging wieder zu ihren Instrumenten, aber immer noch kein Tilmann. Der Kai Bartels schaute besorgt zum Bühnenaufgang, dann besprach er sich mit dem Kretschmann und ging zum Schredder hinters Schlagzeug. Eine allgemeine Verunsicherung lag in der Luft. Der Kai Bartels trat an das Mikrofon ganz vorne, wo bis vor kurzem noch der Tilmann gestanden hatte.

»Na gut. Soll ich das mal probieren?«, fragte der Bartels die Leute, und die Leute hielten das offensichtlich für eine gute Idee. Und wenn man ehrlich ist, dann musste man danach auch zugeben, dass der Bartels rein von der Technik und den Tönen her viel besser singen konnte als der Tilmann. Dafür aber völlig emotionslos. In Gedanken nannte ich ihn Kai »No Soul« Bartels, in Anlehnung an diese Szene in Amazon Women on the Moon. Die Begeisterung der Anwesenden hielt sich in Grenzen, als der Bartels sang.

Du bist ein Totengräber

Ich bin ein Leichenheber

Du packst sie ein, ich pack sie aus

Häufst sie in deinem Keller

Doch heut Nacht bin ich schneller

Ich schrei die Wahrheit laut hinaus

Irgendwann war trotz ausuferndem Gitarrensolo vom Kretschmann auch der »Totengräber« zu Ende, und noch immer keine Spur vom Tilmann. Die Malleck war ein wenig blass im Gesicht, und der Mandel kratzte sich am Kopf.

»Ich schau mal backstage«, sagte die Malleck.

»Soll ich mitkommen?«, fragte der Anwalt Edelstein, aber die Malleck war schon losgelaufen, und jetzt schauten wir ihr alle drei konsterniert hinterher.

»Äh, der Leo ist wohl längst in unserer Stammkneipe, und dahin gehen wir jetzt auch. Gute Nacht, meine Lieben«, versuchte sich der Kai Bartels erneut als Ansager, aber das Publikum hatte überwiegend das Interesse verloren und zog sich langsam aus dem Konzertsaal zurück. Der Bartels schaute sich nach seinen Kollegen um und legte dann seinen Fender-Jazzbass ab. Der Schredder haute nochmals so unglaublich laut und verrückt auf seiner Burg herum, dass sich das zurückziehende Publikum erschrocken umdrehte. Die hysterischen Ticketgewinner blieben als Einzige vor der Bühne versammelt und starteten einen »Leo, Leo«-Sprechchor, aber das Saallicht ging gnadenlos an. Der Mandel und ich, wir standen dem Anwalt gegenüber, und keiner sagte etwas. Stattdessen musterte man sich in dem grellen Licht, das völlig andere Menschen aus den Leuten machte. Der Anwalt Edelstein sah ziemlich faltig aus. Der war locker fünfzig.

»Tja, dann gehen wir auch«, schlug ich irgendwann vor.

»Ich muss ja noch auf die Roni warten«, sagte der Edelstein.

»Ja, lass uns noch kurz warten. Ist doch kein Stress«, sagte der Mandel, und jetzt stand ich wieder wie der Stresser da.

»Ich geh mal an die frische Luft«, sagte ich, winkte kurz und stieg das runde Treppenhaus hinunter in den Innenhof, wo schon eine Menge Leute standen und rauchten. Ich sah, wie ein schwitzender Urbaniak an mir vorbei zum Eingang stürmte.

Der Mandel oben sah den Urbaniak mit risiegen Schweißflecken unter den Achseln seines marinefarbenen Hemds an den Bühnenrand stürzen, wo er immer noch mit dem Edelstein auf die Malleck wartete.

»So eine Scheiße. Hallo Holger, hallo Max. Ich hab’s nicht mehr rechtzeitig geschafft. Heavy Verkehr in der Stadt. Und das am Samstag. Warum ist denn hier schon Feierabend? Eigentlich müssten wir doch mitten im Zugabenteil sein. Haben die früher angefangen?«

»Der Leo ist weg«, sagte der Edelstein.

»Wie, weg?«, fragte der Urbaniak.

»Er ist zur Zugabe nicht auf die Bühne gekommen.«

»Nein, oder? Das kann nicht sein. Der Typ treibt mich noch in den Wahnsinn«, sagte der Urbaniak und fügte dann aber beschwichtigend hinzu:

»Weil er halt so motherfuckin’ crazy ist. Unberechenbar. Und das macht ihn ja auch aus. Und die Pressejungs haben wenigstens was zu schreiben.«

Er lachte gezwungen, und bei »Pressejungs« war ein kurzes Lispelfeuerwerk abgeschossen worden. Der Edelstein putzte sich verstohlen die Wange ab.

Die Malleck kam wieder und sah immer noch blass aus.

»Hast du ihn gefunden?«, fragte der Anwalt Edelstein.

Die Malleck schüttelte den Kopf.

»Die anderen wissen auch nicht, wo er sein könnte. Er muss wohl zum Hinterausgang raus sein. Ans Telefon geht er jedenfalls nicht. Holger, ich will nach Hause. Hallo Karsten.«

Die Malleck und der Anwalt Edelstein verabschiedeten sich und gingen über den Innenhof, wo ich schon die zweite Zigarette rauchte, raus auf die Straße zu den Taxis. Der Holger hielt dabei seinen Arm schützend vor die Malleck, so als wären wir auf dem Flughafen in Los Angeles und er müsste einen Angriff der Paparazzi abwehren. Hündisch, wie der Edelstein sich gegenüber der Malleck benahm. Ich hätte der Malleck gerne noch einen schönen Abend gewünscht, aber sie sah mich nicht unter all den rauchenden Leuten.

Dem Mandel oben ließ das mit dem Verschwinden vom Tilmann keine Ruhe. Und das eine, das muss man dem Mandel lassen: Obwohl er ein Stoiker war, der jede Form von Sturm, Drang und Penetranz ablehnte, besaß er einen unwiderlegbaren Instinkt dafür, wann er die Dinge selbst in die Hand nehmen musste. Jeder andere hat in der Situation automatisch eine egoistische Eskapade vom Tilmann angenommen, wäre ja auch nicht die erste in der Bandgeschichte gewesen, aber der Mandel nicht. Der Mandel erinnerte sich nämlich an die Details, die ihm der Tilmann vor dem Konzert erzählt hatte. Von den Songs des Zugabenteils, wie der Tilmann die Texte modernisiert hatte, dass die Band zehn Jahre nach Erscheinen das erste Mal wieder »Totengräber« spielen würde, und überhaupt hatte er sich am meisten auf den Zugabenteil gefreut. Das deutete nicht darauf hin, dass dem Tilmann spontan die Lust an dem Konzert vergangen war. Und so folgte der Mandel seinem Instinkt hinter die Bühne. Die wenigen Leute, die noch im Saal verblieben waren, sahen, wie der Mandel auf die Bühne stieg, zum zweiten Mal an dem Abend. Er blieb vor dem Schlagzeug stehen und sah sich um. Links, rechts. In seinem schwarzen Mantel muss er ein bisschen ausgesehen haben wie ein Cowboy, der sich in der Mittagshitze auf der Hauptstraße einer Goldgräberstadt umblickt, wo die letzten Leute gerade die Flucht in ihre Häuser antreten, bevor die Schießerei anfängt. Der Mandel beobachtete die Roadies, die schnell und mechanisch das Werkzeug der Band wegschafften. Er verließ die Bühne rechts über den schmalen Aufgang und stand dann hinter dem riesigen Molton-Vorhang. Dahinter war noch eine Menge Platz, die Bühne stand nicht am hinteren Ende des Saals. Rechts zweigte ein kleiner Gang ab, den der Mandel heute schon einmal mit dem Tilmann entlanggelaufen war. Nach ein paar Metern den Gang hinunter gelangte er zu zwei Türen auf der rechten Seite. Die eine war die zum Klo, und auf der anderen stand mit Edding auf einem weißen Zettel DEMO. Dort war er früher am Abend mit dem Tilmann zur Drogeneinnahme gewesen. Der Mandel klopfte und öffnete gleichzeitig die Tür, ohne ein Herein abzuwarten. Jemand saß mit nacktem, rotem Oberkörper und einem Handtuch über dem Kopf auf einem Stuhl, in der einen Hand eine Wasserflasche, in der anderen eine Schüssel mit Mousse au Chocolat. Auf der Brust hatte das Handtuch Schredder eintätowiert. In altdeutscher Schrift auf wabbeliger Haut.

»Hey«, sagte der Schredder.

»Selber hey«, sagte der Mandel und lächelte. »Habt ihr den Leo schon gefunden?«

»Ach, der Leo. Dem ist wahrscheinlich nur sein Waschpulver zu Kopf gestiegen. Macht ihn ja von Jahr zu Jahr verrückter«, sagte der Schredder und lächelte dabei schief, aber gutmütig. Dem Schredder fehlte ein Vorderzahn, und dann das rote Gesicht, das schiefe Lächeln und die merkwürdige Tätowierung. Ein putziger Freak, dachte der Mandel. Auf dem Stehtisch, wo der Tilmann vor ein paar Stunden noch das Kokain zerteilt hatte, stand ein Asthmaspray. Das sah der Mandel sofort, weil er das von den Interviews mit Alice Cooper her kannte. Schwerer Asthma-Patient, der Alice Cooper.

»Wo sind denn die anderen?«, fragte der Mandel

»Kretsch ist schon auf dem Weg nach Hause, und Kai läuft hier irgendwo rum.«

»Keine Ahnung, wo der Leo sein könnte?«, fragte der Mandel.

»Keinen Schimmer. Im Royal? Im Poschardt? Na, irgendwo wird er sich’s schon gutgehen lassen«, sagte der Schredder.

»Bist du nicht besorgt?«

»Na ja, er ist halt ne Flitzpiepe. Wird sich schon wieder einkriegen. Kai ist nur stinksauer.«

Der Schredder sah nicht so aus, als beunruhigte ihn das.

»Was brauchst du denn vom Leo? Kann ich dir helfen?«

»Nein, schon gut, ich hätte nur was von ihm wissen wollen. Für die Reportage.«

»Das war ein gutes Konzert«, sagte der Schredder. »Du warst echt gut.«

»Äh, danke. Du, ich muss jetzt los. Bis später«, sagte der Mandel und winkte dem Schredder nochmal, bevor er die Tür wieder zuzog. Er ging den Gang weiter, bis er ins Treppenhaus gelangte, wo gerade zwei der Roadies ein paar dieser Transportkoffer mit Aluminiumbeschlägen, im Fachjargon »Flightcases« genannt, in den Aufzug hievten. Der Mandel schaute den Roadies zu, wie sie mit dem Aufzug nach unten fuhren. Er holte sein Telefon aus der Manteltasche und starrte eine Weile darauf. Zwei weitere Roadies kamen und rollten ein noch größeres Flightcase. Beim Mandel blieben sie stehen und warteten auf den Aufzug. Einer lange Haare, einer keine.

Der Mandel wartete. Der Aufzug kam nur langsam. Auch wenn sie den Kunstpalast von vorne bis hinten renoviert hatten, der Lastenaufzug war der alte. Vielleicht sogar noch von vor dem Krieg. Ein schwerfälliges, vergittertes Ungetüm mit einer Art Stange als Bedienelement. Und einem alten Schloss. Also erst Schlüssel rum, dann Stange runter und dann ächzte man langsam nach oben oder unten, je nachdem, wohin man wollte. Während die Roadies die Kiste jetzt in den Aufzug rollten, wählte der Mandel die Telefonnummer vom Tilmann. Er wartete auf das Freizeichen, und die Roadies zogen die Gittertür zu und drückten die Stange runter. Als sich der alte Aufzug bärbeißig in Bewegung setzte, hörte der Mandel grade das Freizeichen auf seinem Telefon. Aber er hörte noch etwas anderes. Den Klingelton vom Tilmann, den er noch gut von dem Abendessen beim Italiener im Ohr hatte, da hatte es alle drei Minuten geklingelt. Es war »Mer stonn zo dir, FC Kölle«, weil der Tilmann offensichtlich Köln-Fan war. Nur ein paar Sekunden hörte der Mandel den Refrain, dann waren De Höhner wieder verstummt. Doch das Freizeichen blieb.

Natürlich brauchte der Mandel nur eine Schrecksekunde, um zu verstehen, was das bedeutete. Danach rannte er so schnell er konnte, die Treppen hinunter zum Hinterausgang, wo die beiden Roadies gerade die Kiste aus dem Aufzug rollten. Auf der Gebäuderückseite wartete ein Lkw.

»Halt, stopp!«, rief er den Roadies zu.

»Was will er denn?«, motzte der mit den keinen Haaren.

»Mach das Ding auf«, sagte der Mandel und hielt sein Telefon in die Luft. Die Blicke der Roadies folgten dem Handy vom Mandel willenlos in die Luft. Es dauerte einen Moment, aber jetzt mussten auch die Roadies kapiert haben, woher die Musik stammte.

Mer schwöre dir he op Treu un op Iehr:

Mer stonn zo dir FC Kölle!

Un mer jon met dir, wenn et sin muss, durch et Füer,

Halde immer nur zo dir, FC Kölle!

»Hat wohl jemand sein Telefon drin vergessen. Is das Bassdrum-Case vom Schredder«, sagte der Roadie mit den langen Haaren.

»Nicht unser Problem«, sagte der ohne Haare, aber der andere entriegelte schon die sogenannten Butterfly-Verschlüsse. Er hob den Deckel ab, und noch bevor der andere Roadie und der Mandel etwas sehen konnten, trat er zurück und sagte:

»Fotzendreck.«

De Höhner sangen jetzt laut das FC-Köln-Lied. Der Mandel schaute in die Kiste, und da brauchte man kein Kriminaler sein, um auf einen Blick zu sehen, dass eine Sauerei passiert war. Eine braune Wolldecke lag obenauf, links oben war sie leicht umgeschlagen, und es schaute ein rot-weißer Turnschuh heraus. Der Mandel zog die Decke weg. Ich kann jetzt auch nur seine Beschreibung wiedergeben, aber es muss gar nicht so unappetitlich ausgesehen haben, wie es sich gleich anhören wird. Eher extraordinär, also irgendwie außerhalb der üblichen Wahrnehmung, sagt der Mandel.

In der Kiste lag der Tilmann zusammengeklappt wie in einer Yoga-Stellung. Als hätte man ihn einfach verbogen, damit er in die Bassdrum-Kiste passte. Das Gesicht vom Tilmann war blutverschmiert, die Haare blutnass, und da befand sich ein ziemliches Loch über dem Auge, aus dem Blut austrat und was weiß ich was noch. Der halbe Tilmann trug immer noch sein schwarzes Bühnenhemd mit den westernmäßig bestickten Brusttaschen. Seine Augen waren weit aufgerissen und schauten den Mandel vorwurfsvoll an. Schräg über den Oberkörper vom Tilmann hatte man seinen Unterkörper geworfen. Der Mandel kapierte sofort: Jemand hatte den Tilmann in der Mitte auseinandergetrennt und portionsgerecht zum Abtransport fertig gemacht. Die Beine in der Jeans mit dem Westerngürtel mit der protzigen Schnalle und den Basketballschuhen lagen auf dem Brustkorb vom Tilmann, wie einen Liegestuhl hatte man ihn zusammengeklappt und verstaut, badend im eigenen Blut. Das Telefon mit der FC-Köln-Hymne hatte aufgehört zu klingeln, und beim Mandel am Telefon ging der Anrufbeantworter ran.

»Yeah, Freunde, hier is Leo, aber leider nicht persönlich. Nachricht nach dem Ton.«

Und natürlich klang das für den Mandel wie »Nachricht nach dem Tod«.