Neun

Der Mandel hatte erst die Polizei und dann mich angerufen. Ich war schon auf dem Weg nach Hause, als sein Anruf mich erreichte. Als ich zum Hintereingang vom Kunstpalast kam, unterhielt sich ein Uniformierter mit dem Mandel. Der Kai Bartels stand daneben und schaute auf den Boden. Besagte Kiste lag immer noch am Hinterausgang vom Kunstpalast, genau da, wo der Mandel sie hatte öffnen lassen. Ein Krankenwagen fuhr vor, und zwei Sanitäter sprangen heraus. Der Polizist, der gerade noch mit dem Mandel geredet hatte, zeigte auf die Kiste mit dem Tilmann drinnen. Ich schaute zu, wie die Sanis auf die Kiste zuliefen.

»Der Tilmann ist hin? Hab ich dich da richtig verstanden?«, fragte ich den Mandel.

Der Mandel sagte nichts.

»Was ist denn in der Kiste?«

»Der Tilmann«, antwortete der Mandel und starrte auf die Sanitäter bei der Kiste.

»Halbiert«, fügte er hinzu.

»Echt jetzt?«, fragte ich nach.

Der Kai Bartels schaute mich an wie einen Außerirdischen.

»Gibt’s doch nicht. Und was jetzt?«, sagte ich zum Mandel.

»Jetzt bringen sie ihn erst einmal in die Pathologie. Zur Leichenschau.«

»Und was machen die ganzen Bullen? Sind ja eine ganze Menge hier.«

»Befragen alle Mitarbeiter, lassen sich alle Adressen geben. Fragen rum und bestellen alle nacheinander für die nächsten Tage aufs Revier.«

»Dich auch?«, fragte ich den Mandel.

»Dich auch, Sigi. Jeden. Die Band, die Malleck, die Journalisten, die Roadies, die Zuschauer, jeden.«

Während der Mandel das sagte, entfernte sich der Kai Bartels wortlos von uns.

»Und wie geht’s dem?«, fragte ich und nickte in Richtung des sich davonschleichenden Kai Bartels.

»Woher soll ich das wissen?«, sagte der Mandel.

»Und wie geht’s dir?«

»Mir geht’s gut. Ich bin ja nicht tot«, sagte der Mandel.

Ich beobachtete aus der Entfernung, wie die Sanitäter den zweimal halben Tilmann in eine Folie wickelten, genau erkennen konnte ich es nicht.

»Und was machen wir jetzt?«

»Ich geh heim«, sagte der Mandel.

»Das war’s dann mit unserem Fall.«

»Sieht so aus.«

»Rauchen wir noch eine, bevor wir gehen?«

»Von mir aus«, sagte der Mandel.

»Sie haben den Herrn Tilmann gefunden?«, fragte ein langer Mann mit dichtem grauen, Haar und einer für die Uhrzeit unheimlich gut gebundenen Krawatte.

»Ja«, sagte der Mandel.

»Winter, achte Mordkommission. Wir unterhalten uns noch ausführlicher morgen früh bei Ihrem Termin, aber kurz die Frage: Woher wussten Sie, dass sich das Opfer in der Kiste befindet?«

»Mandel, angenehm. Das hatte ich Ihrem Kollegen schon erzählt. Ich habe den Herrn Tilmann angerufen, und der Klingelton von seinem Telefon kam aus der Kiste.«

»Was wollten Sie denn überhaupt hinter der Bühne?«

»Ich bin Journalist und habe mit dem Herrn Tilmann zusammengearbeitet«, sagte der Mandel und schaute hinauf zum Mordkommissar Winter und ihm fest in die Augen.

»Aha. Sie kommen morgen um zehn in die Keithstraße 30, dann sprechen wir uns da im Detail.« Das klang nach einer Drohung.

»Jawohl. Und einen schönen Abend noch, Herr Winter«, sagte der Mandel, aber der Mordkommissar Winter schritt grußlos davon. Der Mandel konnte es nicht ausstehen, wenn Leute nicht grüßten. Mindestmaß an Höflichkeit, sagt er.

Am nächsten Morgen ging es drunter und drüber in der Stadt. Alle waren wie aufgescheucht, im Fernsehen lief eine Sondersendung nach der anderen, und Hubschrauber waren in der Luft, obwohl ich mir nicht sicher war, ob das an dem Mord lag. Mütter mit Kinderwagen hetzten über die Bürgersteige, Autos hupten wie verrückt, und der Verkehr war zähflüssig. Das Wetter war nervös, es regnete morgens, und eine unerwartete Sonne trocknete alles bis Mittag. Dann regnete es wieder. Die Stadt war in Aufruhr wie an einem Werktag, obwohl Sonntag war.

Alle wurden verhört. Der Mandel wurde verhört, ich wurde verhört. Der Mandel hatte dem Mordkommissar Winter nichts von unserem ursprünglichen Auftrag erzählt, und genau darum hätte ihn die Malleck auch gebeten, da bin ich mir sicher. Der Mandel erzählte von seiner Reportage und dem Konzert und wie er den Tilmann gefunden hatte. Der Winter hörte ihm wortlos zu und musterte ihn eindringlich. Ich selbst machte meine Aussage bei einem anderen Beamten. Ich hatte auch nicht so viel zu erzählen wie der Mandel, und es schien, als schenkte man meiner Aussage kaum Beachtung. Den großen Kommissar Winter bekam ich an dem Tag gar nicht zu Gesicht. Als ich vor dem alten Funktionalgebäude in der Keithstraße auf den Mandel wartete und ein erneuter Regenguss auf mich niederging, fühlte ich mich seltsam erfrischt. Der Frühling war in vollem Gange, das war nicht mehr der eiskalte Regen von letzter Woche.

»Das Wetter wird besser«, sagte ich zum Mandel.

»Nächste Woche soll’s schneien«, sagte der Mandel.

Die Zeitungen waren voll mit Schlagzeilen über die Ermordung vom Tilmann. Aber keine Zeitung und auch sonst niemand erzählte uns, ob die Polizei jemanden verdächtigte und ob am Tatort noch weitere Spuren gefunden wurden. DNA, Fingerabdrücke, Stofffasern, was es da eben so gab. Braucht niemand zu glauben, dass man als Privatdetektiv plötzlich mehr weiß als das, was in der Zeitung steht.

rockstar zerstückelt

Der letzte Auftritt des DEMO -Sängers

Leo Tilmann, der 41-jährige Sänger der bekannten Rockband DEMO, wurde am Samstag gegen null Uhr tot in einer Transportkiste im Berliner Kunstpalast aufgefunden. Die Band hatte dort einen Auftritt vor Journalisten und ausgewählten Fans gegeben. Nach ersten Erkenntnissen wurde das Opfer erschlagen und nach Eintritt des Todes zerstückelt. Aus Kreisen der Mordkommission gingen noch keine Informationen bezüglich Tatverdächtiger ein. Es gilt jedoch als sicher, dass sowohl die Band als auch die bei dem Konzert anwesende Ehefrau des Toten die bekannte Schauspielerin Veronika Malleck zur Stunde verhört werden.

Zusammen mit seiner Band DEMO verkaufte Leo Tilmann bis heute etwa 20 Millionen Tonträger. Tilmann und DEMO veröffentlichen nächsten Freitag ihr 13. Album Lauthals und Halbstärke.

Das war schon hochinteressant, dass in wenigen Tagen das neue Album von DEMO erschien, das war mir gar nicht bewusst gewesen. Das klang nach dem besten Promotion-Stunt der Musikgeschichte. Und dann noch die Malleck als trauernde Witwe, statt als geprellte Ehefrau. Auf eine gewisse Art und Weise war das für alle ein Happy End. Außer für den Tilmann. Und natürlich den Mandel und mich. Wir hatten keinen Auftrag mehr, weder von der Malleck noch vom Urbaniak, und saßen blöd in unserem Ermittlungsbüro am Nordufer herum. Und warteten auf die Lieferung der Mini-Peilsender. Und sind wir mal ehrlich: Welcher Auftrag hätte besser zu uns passen können als dieser? Wer sollte uns denn sonst engagieren? Spätestens jetzt bereuten wir unsere Geschäftsidee. Und die Bestellung der Mini-Peilsender. Und die Anmeldung zu dem sündhaft teuren Kurs von der Industrie- und Handelskammer. Und überhaupt.

Der Mandel und ich, wir saßen am Sonntagabend im Deichgraf und teilten uns einen Teller Grünkohlauflauf. Es waren immer noch Grünkohlwochen, und die Kreationen vom Koch des Deichgraf wurden immer fantasievoller. Sogar ein Grünkohlfrühstück war neuerdings im Angebot. Und dabei war es Mitte März, die Grünkohlsaison war längst vorbei. Das hätte uns eigentlich zu denken geben sollen. Ich kratzte lustlos auf dem Teller herum, und keiner sagte etwas. Ich fing dann doch an, weil im Gegensatz zum Mandel war mir so eine Stille unangenehm.

»Und jetzt?«

»Wie jetzt?«

»Na, was jetzt?«

»Wie was jetzt?

»Na, was jetzt dann?«

»Wann?«

»Na jetzt.«

»Was soll denn jetzt sein beziehungsweise dann«, fragte der Mandel, der ewig so weitermachen konnte.

»Na, wie geht’s denn jetzt dann weiter?«

»Mit was denn?«, fragte der Mandel, und langsam wurde ich sauer.

»Jetzt frag halt noch blöder. Mit uns. Mit der Detektei. Mit dem Mord. Mit der Malleck.«

»Woher soll ich denn das alles wissen?«

»Eine Meinung wirst du ja wohl dazu haben.«

»Was ist denn deine Meinung?«

»Ich hab zuerst gefragt.«

»Ich hab keine Meinung«, sagte der Mandel und kratzte mit seinem Messer zwischen den Grünkohlauflaufresten auf dem Teller herum, ein furchtbares Geräusch.

»Mensch, wach auf, Mandel! Da ist vor deinen Augen ein Mord passiert, und du stehst zudem vor dem finanziellen Nichts! Irgendeine Meinung wirst du doch wohl haben«, herrschte ich ihn an.

Der Mandel schaute auf den Teller und hörte auf zu kratzen. Irgendwie tat er mir leid. Vielleicht hatte ihn der Tod vom Tilmann ja mehr mitgenommen, als ich dachte.

»Sorry, Mandel, ich bin auch ein bisschen durch den Wind.«

»Ich frag mich nur, wer so was macht? Ich meine, den muss ja jemand zerhackt haben und vorher auch noch umgebracht. Umbringen ist ja die eine Sache, aber dann musst du auch noch jemand zerhacken. Wer macht denn so was?«

»Vielleicht irgendein verrückter Fan.«

»Ich weiß nicht«, sagte der Mandel. »Vielleicht sollten wir das Büro ein paar Tage zumachen.«

»Ja, vielleicht. Oder gleich ganz«, sagte ich.

Am Montagmorgen saß ich im Büro, und ein Kurier von der Post brachte die Peilsender vorbei. Drei Stück à dreihundert Euro. Das wäre auch billiger gegangen, ich hatte entsprechende Angebote bei Amazon gesehen. Für hundert Euro bekommt man schon was Vernünftiges, das hatte ich dem Mandel auch gesagt. Aber nein, der Herr kauft ja prinzipiell nur Bücher und CDs bei Amazon. Alles andere muss man beim Fachhändler bestellen, sagt er. Und dann muss es ja selbstverständlich teure Markenware sein, völlig egal, wie der Verbraucher bewertet. Ich las auf der Rückseite der Verpackung:

Der Finder Pro ist der kleine Bruder des Finder L6. Er besticht durch einfache Bedienung und die ebenso ausgefeilte und hochempfindliche Elektronik. Wenn auch manche Sonderfunktionen wie der Bewegungsmelder fehlen, ist es dennoch möglich, das Gerät für die Personensuche oder Tierrettung einzusetzen.

Tierrettung, alles klar. Die Mini-Peilsender kamen in den Aluminiumschrank. Ich hatte kein Interesse daran, sie auszuprobieren oder auch nur auszupacken. Stattdessen bemühte ich die Suchmaschinen zur Causa Holger Edelstein. Ich muss dazusagen: Es gab meinerseits nicht den geringsten Impuls, mich in irgendeiner Form an der Mordaufklärung zu beteiligen. Außer dem Ärger, dass unsere Zigtausend Euro von der Malleck weg waren und die Malleck jetzt wegen dem Trauerfall außerhalb meiner Reichweite, betraf es mich ja nicht, wer den Tilmann in zwei Teile gemäht hatte. Aber dieser Edelstein und seine »Kulturfreunde des Nordens« gingen mir nicht aus dem Kopf. Weil er schließlich ja der Hausfreund und Anwalt der Malleck war. Schon kurios, wenn man bedenkt, dass die Malleck gar nichts mit Rechtsextremen zu tun hatte und sogar mit einem Mann verheiratet war, der sich stets als antifaschistischer Künstler verstanden hatte. Und dann der bizarre Zufall, dass die Malleck gerade als Eva Braun vor der Kamera stand. Ich fand, das rechtfertigte meine Neugier, auch wenn ich wirklich keinen Mordfall untersuchen wollte. Sondern eher das Privatleben der Malleck. Schließlich war ich ein Privatdetektiv.

Der Zusammenhang zwischen dem Edelstein und den Rechtsekzemen mein Lieblingswortspiel ging im Detail so: Vor drei Jahren gab es in der Stadt eine Mai-Demonstration, bei der eine Gruppe linker Demonstranten einen Aufmarsch der Rechten verhindern hatte wollen und ein rechter Demonstrant, in dem Artikel nur Torsten G. genannt, einen Stein geworfen hatte, der den linken Demonstranten Johann F. so ungünstig am Kopf traf, dass der tot umgefallen war. Jetzt hat der Anwalt Edelstein offensichtlich Torsten G. verteidigt, aber es ging nicht aus dem Bericht hervor, ob es nur eine Pflichtverteidigung gewesen ist. Auf jeden Fall hat der Edelstein herausgefunden, dass der linke Demonstrant im Moment des Steineintreffens vor Schreck einen Herzinfarkt erlitten und deshalb nicht, wie zunächst angenommen, wegen der Kopfverletzung das Zeitliche gesegnet hatte. Damit war Torsten G. in Sachen Totschlag aus dem Schneider, und dann fand der Edelstein sogar noch einen Zeugen, der aussagte, dass auch ein Linker vorher etwas auf die Rechten geworfen hatte. Dass es sich dabei nur um eine Plastikflasche gehandelt hatte, tat wohl nichts zur Sache, weil der Wurf als solcher offensichtlich eine Affekthandlung von Torsten G. provoziert habe. Für mich klang das alles ziemlich hanebüchen, aber ich bin ja auch kein Anwalt.

So ein Mord ist eine ziemliche Grausamkeit, und obwohl er die Malleck wie eine Geisha behandelt hatte, hab ich ihm keine Ermordung gewünscht, dem Tilmann, geschweige denn eine Zerstückelung. Aber gleichzeitig war mit dem Mord endlich diese Ödnis vorbei. Das war ein Erwachen. Aus diesen Monaten, ja Jahren, in denen nichts passiert war. In denen der Mandel die immer gleichen alten Witzfiguren interviewt hat und ich die immer gleichen Musiknews ins Netz schrieb. Immer und immer wieder. Die einen haben eine neue Platte aufgenommen, und die anderen sagen, sie werden nie wieder eine aufnehmen, während wiederum andere nach fünfzehn Jahren jetzt doch wieder neue Platten aufnehmen. Dann sind die einen schon beim Soundcheck so betrunken, dass die Tour abgebrochen und ein halbes Jahr später nachgeholt wird, weil der Veranstalter dem Label Druck macht, das Label dem Management und das Management der Band. Die anderen machen noch schnell eine Abschiedstour, spielen aber nur Lieder der ungeliebten letzten Platte, wegen der sie sich eigentlich aufgelöst haben. Wieder andere gehen nochmal auf große Welttournee, aber trinken mittlerweile nur noch Erkältungstee auf der Bühne. Dann kommen die Open Airs im Sommer, dann wieder die ganzen Neuerscheinungen im Herbst, dann ist Weihnachten, und es gibt nur noch Greatest-Hits-Alben von Bands, die gerade mal drei Platten aufgenommen haben. Im Frühjahr trennen sich die einen, und die anderen vereinigen sich wieder, und die ganz anderen nehmen eine Platte mit einem Sinfonie-Orchester auf, und dann kommen die Open Airs im Sommer, und irgendwann ist wieder Weihnachten und Greatest-Hits-Zeit. Und ich im Büro und der Mandel mit dem Goethe-Institut in Shanghai und mit der Plattenfirma in London und mit der Pressepraktikantin im Kino.

Gott, war ich froh, dass das alles vorbei war. Glücklich war ich, dass ich nicht mehr den ganzen Tag gezwungen war, Musik zu hören und darüber zu schreiben. Unter uns und ich weiß, dass das keine populäre Meinung ist –, ich fand populäre Musik von Tag zu Tag obsoleter, und über sie zu schreiben war zusehends zur Qual geworden. So dass der Beruf sich immer mehr zur Agonie entwickelt hatte. Am Ende habe ich mich für meinen Beruf fast geschämt. Ich wollte nicht mehr dahin zurück.

Scheiß aufs Geld, Sigi, dachte ich. Hab keine Angst. Angst macht nur spießig. Man muss sich das mal vor Augen führen: Wir hatten das Absurde in die Tat umgesetzt und ein Detektivbüro eröffnet. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Aber das war ja bei weitem nicht alles: Die Malleck hat mit mir geschmust, und den Tilmann haben sie zersägt. Und dazwischen hat es zehn Minuten lang gehagelt wie beim Jüngsten Gericht. Blut, Sex, Unwetter – und wir mittendrin. Endlich, endlich, endlich. Ein Leben jenseits von Musiknews und Redaktionssystemen, jenseits von hysterischen Ex-Freundinnen und der Erhöhung der Mietnebenkosten. Ein Sturm der Ereignisse. Und jetzt erst recht, dachte ich. Jetzt rufst du die Malleck erst recht an. Vielleicht nicht direkt am Tag nach der Abschlachtung ihres Ehemannes, aber bald. Nur nicht lockerlassen, jetzt wo alles so schön im Fluss war. Im reißenden Fluss.

Gegen vierzehn Uhr kam der Mandel ins Büro.

»Die Peilsender sind da«, sagte ich.

»Wo?«, fragte der Mandel.

»Im Schrank«, sagte ich.

Der Mandel ging zum Schrank und holte die noch verpackten Peilsender heraus. Er hockte sich an seine Seite unseres Doppelschreibtisches und setzte den mitgelieferten Akku in eins der Geräte ein.

»Ich hab übrigens vergessen, dir zu sagen, dass bei dem Kurs von der IHK Anwesenheitspflicht ist. Dreimal nicht da, und du wirst nicht zur Sachprüfung zugelassen«, sagte ich.

Der Mandel schaute von seinen Peilsendern auf.

»Da gibt es eine Prüfung?«

»Klar gibt es da eine Prüfung. Ist nicht wie damals in deinem Politologiestudium, alles nur Sitzscheine.«

»Das waren keine Sitzscheine«, sagte der Mandel bierernst.

»Außerdem sind wir blöd, wir hätten uns die Umschulung eventuell vom Arbeitsamt bezahlen lassen können.«

»Schön blöd«, sagte der Mandel, als wäre das nur mein Versäumnis, und schaltete einen der Sender ein. Es fiepte.

»Kommst du zum ersten Kurs mit, oder? Am Mittwochabend«, wollte ich wissen.

»Diesen Mittwoch? Das ist doch nur einmal im Monat, und den ersten hab ich verpasst.«

Aber so leicht kam mir der Mandel nicht davon.

»Letzten Mittwoch war nur die Einführungsveranstaltung. Ab dieser Woche fängt das Kursprogramm an. Es ist wichtig, dass du mitkommst. Mir wär’s wichtig.«

»Ja, ja«, sagte der Mandel. Einer der Sender erzeugte eine Rückkopplung mit einem unserer Telefone.

»Hast du dir eigentlich mal die Agenda angeschaut von dem Kurs?«, fragte ich.

»Mensch, Sigi, wann denn? Ich war ja unterwegs mit dem Leo.«

Wie er Leo sagte. Das klang fast liebevoll.

»Okay, ich les dir mal ein bisschen was aus dem Inhaltsverzeichnis vor. Klingt gar nicht so uninteressant: ›Rechtskunde für Sicherheitsdienstleister, demokratische Grundordnung und staatliches Rechtssystem, Grundlagen des Zivilrechts, Grundlagen des Strafrechts mit ausgewählten Straftatbeständen, Gewerberecht, Datenschutz, Waffenrecht, Unfallverhütungsvorschriften, Kriminalistik und Kriminologie, Psychologie, Umgang mit Menschen‹ das ist doch interessant, oder? Dann dein Fachgebiet: ›Technikeinsatz im Detektivgewerbe‹ und meine Lieblingsdisziplin: ›Erkennen von Angriffen mit und Verhalten bei Auffinden von unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen‹. Nicht zu vergessen: ›Grundlagen der Observationsarbeit und Einsatz als Doorman‹ und «

»Ist gut, Sigi. Ich komm ja mit«, sagte der Mandel und nahm den Akku wieder aus dem Peilsender.

»Ich bin gespannt, wie sie einem das praktische Wissen vermitteln wollen. Vielleicht dürfen wir ein Schnupperpraktikum als Kaufhausdetektiv machen. Das wär der Hammer, oder?«, sagte ich und fand das alles sehr komisch.

»Hm. Warum nicht?«, sagte der Mandel, und ich war mir gar nicht sicher, ob er mir zugehört hatte.

»Weißt du was, Sigi, ich nehm die Sender mit nach Hause und lerne ein bisschen damit umzugehen. Ich komm dann morgen wieder ins Büro.«

Der Mandel kam nicht am nächsten Tag und auch nicht am übernächsten. Ich saß alleine im Büro herum, spielte das Zweite-Weltkrieg-Spiel und blätterte in den Unterlagen aus der Einführungsveranstaltung. Es gab tatsächlich so etwas wie eine Leseliste zur Vorbereitung, aber da ich das jetzt erst sah, war es viel zu spät, die Bücher noch rechtzeitig zu bestellen, geschweige denn zu lesen. Zwischenzeitlich wurde der teure neue Rechner geliefert, und ich brachte Stunden damit zu, bis die ganze notwendige Software installiert war. Der Mandel hatte unbedingt auf dem neuesten Photoshop bestanden. Und zwar samt der teuren Lizenz, weil man bei der Raubkopie keinen Kundendienst hat, sagte er. Auf meine Frage nach dem »Warum überhaupt Photoshop?« hat er etwas davon gefaselt, damit gefälschte Fotografien besser entlarven zu können, was heutzutage unerlässlich sei bei der ungebremsten Bildbearbeiterei.

Gegen Mittag rief ich den Mandel an, ob er denn jetzt mit zu dem Kurs käme, aber er ging nicht ans Telefon. Ich rief die Malleck an, aber sie ging auch nicht ans Telefon, wobei ich sie auch nicht zu dem Kurs mitgenommen hätte. Am Abend kam der Mandel aber dann doch zu dem Vortrag an der Sicherheitsakademie. Tief, tief im Osten der Stadt, ich war eine Ewigkeit in der S-Bahn gesessen und der Mandel sicher eine Ewigkeit in seinem Audi A4. Trotzdem schien er bester Dinge zu sein.

»Wir sind wieder im Geschäft«, sagte er leise zu mir und erntete einen harschen Blick vom Ronny Novack, dem Dozenten. In der Raucherpause im Innenhof erzählte mir der Mandel dann Folgendes:

Gestern war der Mandel noch auf seinem Balkon gesessen und hatte sich einen Beefeater-Tonic nach dem anderen gegönnt. Weil und das hat er dann doch zugegeben ihn das schon ein bisschen mitgenommen hatte mit dem Tilmann seiner Zerstückelung. Irgendwann so gegen zweiundzwanzig Uhr, als der Mandel sich schon am Geländer festhalten musste, weil Stuhl hatte er keinen auf dem Balkon, klingelte es an der Haustür. Der Mandel wohnte ja in diesem neumodisch restaurierten Altbau, wo jemand ganz Schlaues an der Haustür eine Videokamera installiert hat, und so konnte er über einen kleinen Schwarz-Weiß-Monitor beobachten, wie der Urbaniak sich nervös durch die Fettlocken strich, während er sagte: »Ich bin’s, der Karsten.« Und das »S« von Karsten deutlich gelispelt, das hörte man selbst durch die Gegensprechanlage. Und dann kam er hoch, und obwohl beim Mandel im Haus alles so neumodisch ist, war im Altbau scheinbar kein Platz mehr für einen Fahrstuhl gewesen, und als der Urbaniak oben ankam, lief ihm der Schweiß von der Stirn, und er roch nach altem Rost. Sag ich jetzt. Der Mandel hat das nicht so en detail geschildert.

»Setz dich doch, Karsten«, bot der Mandel dem Urbaniak einen Stuhl im Wohnzimmer an. An dem länglichen weißen Tisch, der eher wie ein Konferenztisch als ein Esstisch aussah. Der Urbaniak setzte sich auf einen von den Pseudo-Art-Déco-Stühlen, und beide ächzten. Also der Stuhl und der Urbaniak. Der Mandel holte seinem Gast ein Bier aus der Küche, er selbst hatte ja noch seinen Beefeater-Tonic.

»Grässlich, oder?«, sagte der Urbaniak.

»Furchtbar«, sagte der Mandel.

»Wer macht denn so was?«, sagte der Urbaniak.

»Keine Ahnung«, sagte der Mandel.

Dann schwiegen sie eine Minute lang, was beiden ganz angenehm war. Dem Urbaniak, weil er immer noch völlig außer Atem von den Stockwerken war, und dem Mandel, weil er tranquilophil war. Dann sagte der Urbaniak:

»Du hast in der kurzen Zeit vermutlich nichts über die Vorproduktion von Leos Soloalbum rausfinden können, oder?«

Der Mandel schüttelte den Kopf.

»Hier ist das Ding, Max: Vertraglich ist für das Album ja alles unter Dach und Fach. Leo hat den Vorschuss bekommen, das Studio ist gebucht, und die Tour wird vorbereitet. Und es wäre schade, wenn ausgerechnet das letzte musikalische Vermächtnis vom Leo jetzt nicht mehr das Licht des Tages erblickt. Oder, Max? Say something.«

»Ja, wär schade drum«, sagte der Mandel.

»Und deshalb brauche ich Demos vom Leo. Und wenn es das dreckigste Homerecording ist, selbst wenn er es in seiner Küche aufgenommen hat, Hauptsache, da ist ein Song und seine Stimme. Alles andere machen wir am Computer. Bis jetzt hab ich keine einzige Textzeile oder auch nur eine Sekunde Ton vom Leo, aber der Mann hat angeblich das letzte Jahr dreißig Songs geschrieben. Selbst wenn er nicht die Songs verwendet hat, die ich ihm habe schreiben lassen, brauchen wir Material von ihm. Irgendwo muss es was geben. Die Band hat nichts, die weiß ja noch nicht einmal von dem Soloalbum, und jetzt ist auch nicht gerade der günstigste Zeitpunkt, denen zu erzählen, dass der Leo seinen Absprung vorbereitet hat. Die stellt man lieber vor vollendete Tatsachen, sprich einen konkreten Release, denn wenn die Geld wittern, machen die freiwillig als Gäste auf dem Album mit. Leo Tilmann featuring DEMO nennt sich das dann.«

An der Stelle lachte der Urbaniak befreit auf, als hätte er gerade gemerkt, dass so ein Mord an seinem Hauptkünstler gar nicht der Weltuntergang ist. Dann fing er sich wieder.

»Aber ich brauche diese Aufnahmen. Irgendwelche Aufnahmen. Hauptsache mit der Stimme vom Leo drauf.«

»Hat die Veronika denn nichts? Oder der Danny? Hatte der Leo nicht ein eigenes Studio daheim?«, fragte der Mandel.

»Der Danny ist nicht ansprechbar wegen seiner Nierenkolik, und die Malleck kann ich natürlich jetzt nicht fragen, ob ich nach dem Tod ihres Mannes sein Studio durchsuchen kann. Und ich bin mir sicher, wenn die was findet, dann veröffentlicht die das auf eigene Faust.«

»Kommt ihr nicht gut aus, du und die Veronika?«

»Na ja, sagen wir mal, bei uns im Haus nennen wir sie Yoko Ono. Aber ihr, du und der Singer, euch mag sie doch. Ich weiß, dass sie euch beauftragt hat. Ich weiß, dass ihr den Leo hättet observieren sollen. Ich weiß, dass die Reportage nur ein Vorwand war. Ich weiß das alles und hab aber nichts den Bullen erzählt, das hätte die Dinge nur verkompliziert, und wir sind doch alte Buddys, du und ich. Hilf mir, Max, das lohnt sich big time für euch.«

»Hmm«, machte der Mandel, weil ihm das gar nicht recht war, dass scheinbar jeder von dem Ermittlungsbüro wusste.

»Die Malleck kann doch die Demos gar nicht selbst rausbringen. Der Leo hat doch den Vertrag mit dir und der Plattenfirma«, analysierte der Mandel.

»Schon, aber nach dem Tod vom Leo ist sie ja die Rechtsvertreterin und kann alles blockieren, und dann müsste ich beweisen, dass die Aufnahmen im Zuge des von uns geplanten Soloalbums entstanden sind. Wenn das Zeug aber ohnehin in meinem Besitz ist, stehe ich nicht in der Beweispflicht, wenn die Malleck einen auf Schwarze Witwe macht. Ich behaupte einfach, der Leo hätte mir als seinem A&R die Aufnahmen bereits vor seinem Tod zukommen lassen.«

Der Mandel nickte einsichtig.

»Was ist denn der Finderlohn für ein paar brauchbare Songs?«

»Zehntausend bucks bei mindestens acht Songs. Bei allem drunter müssen wir verhandeln. Das ist doch ein brauchbares Geschäft, oder?«

»Klingt so«, sagte der Mandel.

»Hast du für mich auch so einen Gin Tonic?«

»War leider der Letzte«, sagte der Mandel.

Die Raucherpause war vorbei, und wir mussten in den kleinen sterilen Unterrichtsraum zurück, wo Dozent Ronny Novack bereits zum nächsten Tagesordnungspunkt übergesächselt war und uns strafend anschaute, als wir zu spät in die Klasse kamen.

»Wenn wir uns dann alle eingefunden haben, zeig ich Ihnen in der nächsten Stunde, wie man einen Mini-Peilsender an einem Personenkraftwagen anbringt.«

Der Mandel schaute den Dozenten Ronny Novack verträumt an.