Fünfzehneinhalb
Hip-Hop, Hardcore und Heavy Metal sind im Grunde genommen die einzigen Musikrichtungen, die mein Nervenkostüm nicht überbeanspruchten, die ich sowohl nebenbei als auch aufmerksam hören kann. Und das war auch ein großer Unterschied zu früher. Wenn es mir vor fünf Jahren schlechtgegangen ist, dann habe ich die Red House Painters, Neil Young oder zur Not noch Yo La Tengo gehört. Mit dem Resultat, dass mich eine alles hinwegreißende Melancholie ergriffen hat und die Gewissheit, dass die Welt wirklich eine Mördergrube ist. Weil das ist nämlich alles, was diese sogenannten Indiebands mit dir machen: Sie versichern dir, dass alles auch genauso wehtut, wie du es dir einbildest. Und noch schlimmer: Wenn es dir dann wieder bessergeht, dann haben diese Interpreten deinen Schmerz und dein Unglück fest in ihren Songs abgespeichert. Für immer. Und für immer musst du dann die Dinge durchleiden, die du schon längst nicht mehr durchleidest, wenn du wieder den betreffenden Song hörst. Wer sich so etwas freiwillig antut, ist entweder jung oder ein Masochist.
Und so habe ich mich im Privaten schon vor ein paar Jahren völlig von dem sogenannten Indiepop abgewendet. Und auch vom Folk. Und mich den Musikrichtungen meiner Jugend zugewendet. Vor allem dem Heavy Metal. Der war ja quasi von Anbeginn der Zeit da.
Heavy Metal war die erste Musikrichtung, die ich mir selbst ausgesucht hatte und nach deren Stilrichtlinien ich mich gekleidet habe. Und seit ich ihn wieder regelmäßig höre, bin ich ein ausgeglichenerer Mensch, fragen Sie den Mandel. Nach dem Debakel mit dem Edelstein war ein völliger Rückzug aus der Realität angebracht, einer Realität, in der kahlköpfige Anwälte mich zu Boden warfen, Rockstars zerhackt und Autos angezündet wurden und bekannte Schauspielerinnen wortlos mit mir schliefen. Und je brachialer der Heavy Metal, desto leichter fiel der Rückzug. So blieb mir eigentlich nur der Griff zu Slayer.
Für den Rückzug erschien mir die Hell Awaits am geeignetsten. In letzter Zeit war ich zwar dazu übergegangen, eher die Alben von Slayer zu hören, die ich während meiner weinerlichen Red-House-Painters-Zeit verpasst hatte, aber noch waren die Riffs von »Christ Illusion« und »God Hates Us All« nicht so verankert, dass ich mich mit jener schlafwandlerischen Sicherheit in den Songs bewegte, die mir diese schöne schwere Ruhe verschaffte. Die Hell Awaits war die zweite LP der Band und mir seit meinem vierzehnten Lebensjahr geläufig. Sie war ein warmes Wohnhaus des Thrash Metal, das mich immer wie einen alten Bekannten empfing. Die Hell Awaits war allerdings noch deutlich vor meinem vierzehnten Lebensjahr erschienen, nämlich ’85. Es war das Nachfolgealbum zum Debüt Show No Mercy, das für die kleine Plattenfirma Metal Blade damals der bestverkaufte Tonträger gewesen war. Die Show No Mercy war eine leicht zu begreifende Black-Metal-Platte gewesen, eingängig, rockig und oberflächlich satanistisch. Die Slippery When Wet des Thrash Metal, wenn man so will. Die Band hat noch mehr kopiert als komponiert, aber eine gewisse Kompromisslosigkeit war ihr auch da schon anzumerken. Mit der Hell Awaits war dann aber schlagartig Schluss mit lustig. Selbst Fans der sperrigeren Passagen auf der Show No Mercy standen plötzlich vor einem bitterernsten und brutalen Stück progressiver Metalmusik ohne einen Funken Rücksicht auf bierselige Feierabendmetaller und Mitgrölrefrains. Wie kompromisslos und böse dieses Album war, konnte man schon auf dem Cover sehen. Brachte mich der Geißbock mit dem Schwert auf der No Mercy noch eher zum Schmunzeln, so drang das Dante-artige Inferno auf der Hell fast augenblicklich in meine Alpträume ein. Ich war ja auch erst vierzehn. In einem nie enden wollenden Niederschlag aus Blut und Feuer vertrieben sich ein paar recht unappetitlich aussehende Beelzebuben mit der Aufspießung halbverwester, aber offensichtlich noch lebendiger Sterblicher die Zeit. Das Intro der Platte war aber der eigentliche Schocker. Ich muss dazusagen, dass ich selbst mit vierzehn die Gerüchte um versteckte Teufelsbotschaften auf Metalplatten als Unsinn abgetan hatte und es bedauerte, dass nicht mehr dahintersteckte als eine Provokation. Ich war noch nicht lange Metalfan damals, und die Hell war die erste Platte, die ich eigenhändig rückwärts drehte, natürlich in fürchterlicher Angst, ich könnte sie zerkratzen. Heute mit MP 3s geht das ja gar nicht mehr wirklich mit dem Rückwärtsabspielen. Ich hatte das Licht ausgemacht und lediglich eine Taschenlampe über meinem Technics-Plattenspieler befestigt. Ich trug mein schwarzes Slayer-Longsleeve, und die Zimmertür war abgeschlossen. Dann setzte ich den Plattenarm während des Intros auf und drehte mit dem Finger langsam das schwarze Vinyl verkehrt herum. Als sich aus dem ohnehin schon bedrohlichen Intro zum Titelsong dann plötzlich eine dämonische Botschaft schälte, fühlte ich mich, als hätte ich tatsächlich das Tor zur Hölle aufgestoßen. Vorwärts abgespielt klang es, als ob ein Geisterchor aus tiefen Stimmen »Sign Your Heart« flüstert, was ich schon furchteinflößend genug fand, auch wenn ich es nicht ganz verstand. Rückwärts abgespielt sagten die Stimmen eindeutig »Join Us«. Ich hatte für einen Augenblick das Gefühl, einer satanistischen Weltverschwörung auf die Schliche gekommen zu sein, und hätte mich am liebsten unter dem Bett verkrochen. Der Rest des Songs war auch nicht grade erbauend, er wirkte wie ein mörderischer Wutanfall auf mich. Ich habe mich damals auch vor der Band an sich geängstigt: Tom Araya, der wolfsartige Sänger und Bassist, Kerry King mit seinem rostigen Riesennietenarmband, Jeff Hanneman, das blonde Fallbeil des Heavy Metal mit seinen SS-Runen, und der fast eingeboren trommelnde Dave Lombardo als der einzig einigermaßen menschlich Wirkende.
Der Grusel ist natürlich nach ein paar Jahren von der Platte abgefallen, aber geblieben ist der Respekt vor der Gemeinheit ihrer Kompositionen und wie fertig mit dieser Platte eigentlich schon das gesamte Konzept der Band war, das über die nächsten neun Studioalben stabil bleiben würde. Und wie sehr diese Platte auch den eigentlichen Klassiker Reign In Blood vorwegnahm, den ich aufgrund meiner intensiven Studie der Hell Awaits natürlich als nicht ganz so revolutionär einstufte, wie das viele Musikkritiker taten. Mein Lieblingslied auf der Hell war neben »Hell Awaits« immer »Necrophiliac« gewesen, wegen dem Midtempo und dem Hauch einer Melodie bei meiner Lieblingstextzeile »Down to the fiery pits of hell«. Auch ansonsten ein guter Text, wenn man von dem eher ekligen Grundthema Nekrophilie absieht. Eat this, Tilmann.
Mortuaries, dead of night
My body starts to rise
In my mind the horror lives
To feel death deep inside
Mit »Crypts Of Eternity« legt Tom Araya übrigens fast noch mal den identischen Refrain drauf, was das Einzige ist, was mich an der Hell stört. Zweimal habe ich an diesem frühen Abend die Hell Awaits im Büro durchgehört, bevor ich das Licht gelöscht habe und zur U-Bahn gegangen bin. Zu Hause habe ich versucht, auf der Gitarre »Necrophiliac« nachzuspielen, aber es ist einfach zu schnell für mich.