Vierzehn

Die Mandels parkten direkt am monströsen Bettenturm. Für den Mandel war er genauso ein Wahrzeichen der Stadt wie der Fernsehturm. Gut, das ist vielleicht übertrieben, aber der Mandel war schon einmal in der Klinik gelegen, und da hat sich der Turm bei ihm eingeprägt. Obwohl der Anlass auch kein schöner war, wie so oft, wenn man Zeit in einem Krankenhaus verbringt. Der Mandel hatte damals einen kleinen Zusammenbruch erlitten, das darf man ja eigentlich nicht erzählen, weil für den Mandel ist so etwas ein Eingeständnis, dass er die Dinge nicht immer im Griff hatte.

Es war ungefähr ein Jahr nachdem ich mit dem Mandel in die Stadt gekommen war. Wir sind ja fast gleichzeitig umgezogen. Ich war gerade mit Germanistik fertig, der Mandel hat natürlich schon längst gearbeitet, weil Studienabbrecher. Er war aber auch schon während des Studiums bei der Tageszeitung in der Oberpfalz tätig gewesen. Und dann ist er hierher gekommen, weil sie ihn beim Rock’n’Roll Express genommen hatten, jetzt weiß ich es wieder. Ich hatte das erste Staatsexamen so leidlich bestanden und bin einfach so mit, ohne eine Idee, ohne einen Arbeitgeber, weil ich den Mandel von der Uni kannte und er mich überredet hatte, mit ihm wegzuziehen, er würde mir schon helfen mit der Berufstätigkeit. Das war wahrscheinlich anfangs nur so dahingesagt, aber am Ende war ich durch ihn tatsächlich beim Express sein Kollege geworden. Sein Online-Kollege. Ohne den Mandel wäre ich vielleicht bei den Prominenten-News auf der Startseite eines E-Mail-Providers gelandet. Also nicht als Prominenter, als Redakteur.

Den Mandel hatte ich damals beim Studieren über einen gemeinsamen Bekannten kennengelernt. Wir hatten uns an der Theke vom Ginsberg in eine Diskussion über die besten Lead-Gitarristen im Metal der Achtziger verstrickt. Damals hegte ich noch großes Interesse an Musik und spielte selbst Gitarre in einer Indie-Band, die aber nicht der Rede wert war. Der Mandel und ich hatten uns eigentlich relativ früh darauf geeinigt, in eine andere Bar zu gehen und nach Weibern Ausschau zu halten. Weil im Ginsberg nahm man ein Guinness und einen Paddy und vielleicht noch einen, wenn der Typ mit der Gitarre erträglich war, aber sobald angetrunken genug, wechselte man in die Acht oder probierte sein Glück im Gloria. Der Mandel kannte den Türsteher vom Gloria, das traf sich gut, weil im Gloria waren mit Abstand die schärfsten Weiber der ganzen Oberpfalz, und ich war schon ein paarmal an der Tür gescheitert, geb ich ehrlich zu.

Und trotzdem haben wir das Ginsberg nicht mehr verlassen an dem Abend. Nicht, dass wir nicht betrunken und spitz gewesen wären, aber wir berauschten uns irgendwie aneinander, das kann man im Nachhinein schwer beschreiben. Für mich war der Mandel eine Art Idol, weil er zwar studierte, aber schon damals im überregionalen Musikressort der Mittelbayerischen tonangebend war, jetzt weiß ich wieder, was für eine Tageszeitung es war. Ich kannte damals ja keine anderen Journalisten. Der Mandel war der Einzige, der eine ganz eindeutige Meinung zu Musik hatte. Der genauso geschmäcklerisch wie ich war und in denselben Geschmäckern ausgebildet. Er war mir mehr als nur ebenbürtig, ich konnte von ihm lernen, auch weil er vier Jahre älter ist und deshalb in meinen Augen noch die halben Siebziger miterlebt haben musste. Und die Siebziger waren früher mein musikalisches Lieblingsjahrzehnt gewesen, muss man wissen.

Wir waren uns nicht nur an dem einen Abend einig, dass die klassischen Heavy-Metal-Gitarristen der Achtziger ein Segen für die Musikgeschichte gewesen sind, wir stimmten auch im Hardcore überein. Wir redeten darüber, wie kurios es war, dass Chris Poland sowohl bei Megadeth als auch bei den Circle Jerks gespielt hat. Außerdem war der Mandel der einzige Mensch auf der Welt, mit dem ich mich über die Produktionsmanierismen von Martin Birch bei den ersten sechs Iron-Maiden-Platten unterhalten konnte, weil dem Mandel Produktionen genauso wichtig waren wie mir.

Dazu kam, dass ich an der Uni aus der Ferne beobachtet hatte, wie locker und beliebt der Mandel bei den Schönheiten unserer Cafeteria war. Ich versprach mir eine Menge neuer Bekanntschaften von meiner Freundschaft zum Mandel. Ich war kein unbeschriebenes Blatt bei uns in der Cafeteria, aber irgendwie saß der Mandel immer mit genau den Weibern an einem Tisch, die sich vollkommen meinem Einzugsbereich entzogen. Ich denke da vor allem an diese rothaarige Juristin, Name vergessen. Aber mit der hatten wir am Ende beide nichts. Leider.

Aber der Mandel profitierte auch von mir. Weil er einen loyalen und ernsthaft interessierten Eleven in mir sah, weil er sich gerne als Mentor betrachtete. Und weil ich ihn ergänzte, weil erst im Kontrast zu mir seine Souveränität und Gelassenheit voll zur Geltung kamen. Ich redete meistens viel und riss einen Witz nach dem anderen, während der Mandel immer nur den nötigen Spruch zur richtigen Zeit von sich gab. Ich war derjenige, der bei Konzerten in München ganz vorne stand, während der Mandel sich das in aller Ruhe von der Bar aus anschaute, und ich sprang nachts betrunken in die Donau, nicht der Mandel. Der stand oben auf der Steinernen Brücke und zeigte mir einen Vogel, als ich unten wieder auftauchte. Ich war der Spinner und der Mandel der coole Hund. In diesem Verbund waren wir gesellschaftlich erfolgreicher als alleine, und sobald wir einmal eingespielt waren, half uns das enorm bei den Frauen weiter.

Allerdings dauerte es noch eine ganze Weile nach besagtem Abend im Ginsberg, bis der Mandel und ich uns regelmäßig trafen. Was natürlich am Mandel lag und dass er nie zurückrief. Ich glaube, der Mandel hat mich als Typ immer schon gut gefunden. Ich mit den langen Haaren und er mit seinem elitären Gehabe. Er immer schon der gestriegelte Dandy, ich der Jeans-Rebell.

Drei Jahre später haben wir die Oberpfalz zusammen verlassen und sind hier in eine gemeinsame Wohnung gezogen. Ich weiß noch, dass der Mandel damals so begeistert von der Stadt gewesen ist. Dieses dauernde Aufbauen und wieder Einreißen von Konventionen das hat er immer wieder betont –, das habe ihn so frisch und aufmerksam gemacht, da sei ihm aufgefallen, wie abgestumpft er schon geworden war in der alten Heimat. Ich stand zu dieser Zeit genau wie er unter Strom, dauernd draußen, immer in der Nacht und immer ein Bier in der Hand, aber der Mandel war noch eine Spur härter unterwegs. Der ließ sich nach der traumatischen Oberpfalz so in diese Stadt hineinfallen, der Mann kannte keine Wochentage mehr. Es waren auch seine ersten Monate als hauptberuflicher Musikjournalist, und er war auf jedem Konzert, auf jeder Veranstaltung und in jeder Diskothek. Der Mandel war im Gegensatz zu mir auch der elektronischen Musik immer viel aufgeschlossener gegenübergestanden. Vielleicht auch taktisch bedingt, weil in den elektronischen Kreisen einfach mehr Drogen und hübsche Frauen im Umlauf waren. So stoisch und konsequent man den Mandel heute aus dem Alltag kennt, so stoisch hat er sich damals die Pillen eingepflastert und dazu seinen Gin Tonic. Damals hat ihm noch der handelsübliche Gordon’s gereicht, da musste es noch kein Beefeater sein. Aber diese maßlose Kombination aus Pillen und Gordon’s, die hat dem Mandel nicht gutgetan. Der Mandel ist ja im Prinzip eine empfindsame Seele und nicht so robust, wie er gerne tut. Und die Pillen und der Gin, die ganzen Konzerte und die vielen Leute, die ganze Musik und der Trubel, die haben den Mandel irgendwann fast verrückt werden lassen. Er redet heute noch ungern darüber, aber er war an den Sonntagnachmittagen zu Hause im Bett gelegen, in seinem seit Monaten spärlich eingerichteten Zimmer, und hat sich nicht vom Fleck gerührt. Er lag dann einfach nur auf seiner Matratze in seinem kahlen Zimmer und hoffte, dass die Paranoia weggeht. Mir hat er nie etwas gesagt, ich dachte, er schläft oder ist überhaupt nicht zu Hause.

Der Mandel war jetzt nie der Mörderaufreißer gewesen, aber wenn du so viel unterwegs bist auf Konzerten und Veranstaltungen, da geht schon immer was. Aber er hat es bis heute nicht geschafft, sich auf jemand dauerhaft einzulassen. Von der Gugu mal abgesehen, aber das kann man ja auch nicht Beziehung im klassischen Sinne nennen, dieses Theater. Und das hat ihn zusätzlich geschwächt, diese Eskapaden mit den merkwürdigen Weibern, die man am Ende mehr kurios als erotisch nennen musste. Ich denke da nur an Lorna, die blutige Bestie, wie ich sie nannte. Weil sie nur gekommen ist, wenn sie dem Mandel den Rücken blutig kratzen konnte. Aber egal. Eines Tages hat der Mandel eingesehen, dass die Sonntagsdepressionen kein Dauerzustand sein konnten, und ist in die Klinik gegangen. Er war vor der Notaufnahme gestanden und hat zu der Frau am Empfang gesagt, er brauche einfach eine Weile seine Ruhe. Die haben ihn dann nach einer Untersuchung eine Woche im psychiatrischen Flügel aufbewahrt, und danach hat der Mandel sich tatsächlich eingebremst mit den Pillen und den Depressionen. Nur die vielen Konzerte und der Gin, die blieben. Aber immerhin ist er vom Gordon’s auf Beefeater umgestiegen.

»Du wartest im Auto«, sagte der Mandel zum Dieter.

»Ich lauf ein bisschen rum«, sagte der Dieter.

Der Mandel ging über die Raucherterrasse zur Anmeldung, fragte nach Danny Friedemann und bekam eine Zimmernummer im neunten Stock in der Neurologie. Das hätte den Mandel eigentlich wundern sollen, weil Nierenkolik und Neurologie, das gehört eigentlich nicht zusammen, aber an medizinischen Fachbegriffen war der Mandel so interessiert wie ich an Ergebnissen der Zweiten Bundesliga. Zum einen Ohr rein, zum anderen wieder raus.

Im Treppenhaus und in den Gängen war es sehr ruhig an diesem Tag. Dieses allgegenwärtige, stille Weiß in einem Krankenhaus, diese Zwangsruhe ist für viele beklemmend. Nicht für den Mandel. Ich glaube, er war ganz in seinem Element, als er durch die weißen Gänge vom neunten Stock wandelte. Er klopfte schließlich an einer Tür und öffnete sie dann, ohne eine Antwort abzuwarten. Der Mandel stand jetzt in einem Zweibettzimmer vor einem alten Mann, der kaum zu atmen schien und an diverse Schläuche angeschlossen war. Der Mandel schaute den Mann an, und der Mann schaute den Mandel an. Und lächelte.

»Alter Ganove«, röchelte der unbekannte Mann und lächelte weiter. Merkwürdig, dass ein Erfolgsmanager wie der Danny sich das Zimmer mit einem Halbtoten teilt, dachte der Mandel.

Die beiden Betten waren durch einen dieser fahrbaren Vorhänge getrennt, und der Mandel ging die paar Schritte in die andere Hälfte des Raums hinüber. Es roch nach Schnaps. In dem anderen Bett lag der Danny, Kopfhörer auf, in der Hand eine Zeitung. Die Hand mit der Zeitung wackelte, als würde sie dem Rhythmus der Musik im Kopfhörer folgen, und der Mandel dachte, er könnte so unmöglich Zeitung lesen. Der Mund vom Danny öffnete und schloss sich, ohne dass er zunächst etwas sagte. Doch dann sah er den Mandel und setzte ungelenk den Kopfhörer ab.

»Mandel. Das hat ja gedauert«, sagte der Danny und bewegte dabei den Mund mehr, als er sollte.

»Servus, Danny«, sagte der Mandel.

»Pah«, sagte der Danny.

»Bitte?«

»Mandel, du kannst dem Urbaniak ausrichten, dass ihm der Leo ein richtiges Kuckucksei ins Nest gelegt hat.«

»Bitte was ins Nest?«, fragte der Mandel.

»Bist du der Bluthund vom Urbaniak oder nicht? Oder am Ende der von der Malleck, der Schlampe? Der Leo hat gesagt: Der Mandel ist ein Guter. Aber der Leo war ein gutmütiger Idiot«, lachte der Danny, nicht süffisant, eher hysterisch im Ansatz. Aber vielleicht hat das nur so ausgesehen, wegen der unkoordinierten Mundbewegungen.

»Mein Gott, was für ein naiver Mensch«, sagte der Danny und lachte noch mehr. Der Kopf wackelte, und die langen weißen Haare an der Seite wippten mit. Der Danny bekam sich überhaupt nicht mehr ein.

»Mein Gott, der Leo. Immer schon der totale soziale Tollpatsch. Ein Hofnarr. Hahahahaha!«

Der Lachanfall vom Danny verwandelte sich in einen grässlichen Hustenanfall. Dann war er plötzlich still. Überhaupt war es mit einem Mal sehr ruhig in dem Zimmer. Nur die Flüssigkeit, die in den Zimmergenossen vom Danny über die Schläuche hineinfloss, war noch zu hören.

»Mandel, mir geht’s so wie Woody Guthrie«, sagte der Danny aus der Stille heraus.

Der Mandel hatte keine Ahnung, was der Danny meinte.

»Woody Guthrie?«

»HD, Mandel. Das steht nicht für High Definition, sondern für die Huntington-Krankheit. Ich werd zum Spasti. Merkst du’s schon?«

Die Stimme vom Danny klang, als spräche er durch eine Küchenrolle hindurch. Der Vergleich kam vom Mandel, nicht von mir.

»Ich dachte, du hast eine Nierenkolik«, sagte der Mandel.

Was Besseres fiel dem Mandel nicht ein. Das Elend anderer Leute, nicht seine Spezialdisziplin.

»Ja, ja«, sagte der Danny. »Das haben die sich schön ausgedacht. Will man ja nicht sagen, dass der Manager ein depressiver Spasti geworden ist. Dass die Gehirnzellen sich Stück für Stück in den Feierabend verabschieden. Aber Nierenkolik gab’s auch eine. Letztes Jahr. Das waren noch Zeiten.«

»Das tut mir leid«, sagte der Mandel.

»Papperlapapp«, sagte der Danny. »Du sagst mir jetzt bitte schön, für wen du arbeitest, Mandel, weil einen Halbtoten lügt man nicht an. Dass du die Aufnahmen vom Leo suchst, das weiß ich. Alle suchen die.«

»Wer denn noch?«, fragte der Mandel.

»Die Hyänen. Alle. Sogar die Polizei.«

»Welche Hyänen?«

»Was willst du, Mandel? Ich hab nicht ewig Zeit.«

Die Stimme klang jetzt ziemlich schwach nach dem ganzen Gelächter. Der Mund klappte auch nach dem Satzende noch auf und zu.

»Stimmt, ich suche die Aufnahmen. Aber in meinem eigenen Interesse. Und ich geb zu, eigentlich hat mich der Urbaniak beauftragt, aber das regle ich schon.«

»Und die Malleck, die alte Fotze?«

Der Mandel zögerte, bevor er antwortete.

»Die hat damit nichts zu tun.«

»Bevor du sie der Malleck gibst, verbrenn sie lieber. Die falsche Schlange hat doch nur ihre eigene Karriere im Kopf. Gib sie dem Bartels, dem kannst du trauen«, hustete der Danny. »Das ist der Einzige, dem du trauen kannst.«

»Das heißt, du hast auch keine Ahnung, wo sie sind? Oder ob es sie überhaupt gibt?«

»Mandel, du August. Natürlich gibt es die. Ich hab sie doch gehört. Der Leo hat sie mir neulich noch vorgespielt. Und wie es die gibt. Nur glaube ich nicht, dass sie jemand hören will. Am wenigsten der Urbaniak, der intrigante Fettwanst.«

»Warum?«, fragte der Mandel.

»Weil es ein Haufen Scheißdreck ist. Ein Folk-Album. Texte gegen Gott und die Welt. Das ist ja kein schlechter Grundgedanke, aber aus der Feder vom Leo der reinste Scheißdreck. Hast du dir mal die Texte vom Leo genauer angehört? Dafür, dass er angeblich so ein Punker ist, sind seine Texte aber dem Grönemeyer deutlich näher als Slime. Und wenn der Leo politisch wird, dann wird’s peinlich. Mit so einer Platte hätte er sich zu Lebzeiten keinen Gefallen getan. Schmeiß die Dinger weg, wenn du sie hast. Wirf sie in den Fluss, verbrenn sie und vergrab sie auf dem Südwestkirchhof neben dem Leo. Damit tust du ihm den größten Gefallen.«

»Worum geht’s denn auf dem Album?«, fragte der Mandel.

»Das tut gar nichts zur Sache. Es ist sinnlos, sich darüber aufzuregen, Mandel. Die Platte kommt eh nie raus. Und jetzt geh heim, Mandel. Geh zu deiner Freundin, lass dir einen blasen und schreib einen Artikel über irgendeine neue Platte von einer Band mit engen Hosen aus England. Ach halt, du bist ja jetzt Privatdetektiv. Dann mach eine Autoverfolgungsjagd, oder was man da so tut. Mach, was du immer machst, aber bring nicht noch mehr Schande über die Band und den Leo.«

»Du weißt also nicht, wo der Leo die Songs hat.«

»Nein, verdammt nochmal. Und wenn ich es wüsste, gäbe es längst keine Songs für ein Soloalbum mehr. Und jetzt hau ab, Mandel, ich will schlafen.«

»Okay«, sagte der Mandel. »Und tut mir leid wegen dem Huntington.«

Niemand ist unbeholfener als der Mandel in Situationen mit Krankheit und menschlichem Elend. Der Mandel hatte sich schon umgedreht, aber dann fiel ihm offensichtlich noch etwas ein.

»Ach, eins fällt mir noch ein, Danny. Kennst du eine Adriana?«

Der Danny hatte die Augen geschlossen und machte sie jetzt wieder auf. Sein Handgelenk tat merkwürdige Dinge mit seiner Schläfe.

»Adriana? Was willste denn jetzt noch, Mandel? Soll ich dich verkuppeln? Wenn ich alle Weiber vom Leo im Kopf hätte, dann wär ich Schachweltmeister geworden. Bald hab ich vergessen, wie ich selber heiße, und dann soll ich mir irgendwelche Weiber merken? Ach, geh doch heim, Mandel, und lass mich in aller Ruhe zappeln wie ein Bekloppter.«

»Sorry«, sagte der Mandel und wollte gehen.

»Mandel«, sagte der Danny, und der Mandel drehte sich nochmal um.

»Hast du gewusst, dass der Bob Dylan den Guthrie damals im Krankenhaus besucht hat, als es dem schon ganz dreckig ging wegen dem Huntington?«

Der Mandel schüttelte den Kopf, obwohl er die Geschichte kannte.

»Danach hat der Dylan beschlossen, eigene Songs zu schreiben. Songs, die was bewegen. Aber subtil, nicht so wie der Leo.«

Noch in der Empfangshalle vom Krankenhaus rief der Mandel den Kai Bartels an und verabredete sich mit ihm für morgen zum Abendessen. Als der Mandel zurück zu seinem Auto kam, saß der Dieter bei offenem Fenster auf dem Beifahrersitz und rauchte einen Joint.

»Bist du noch bei Sinnen, Dietz?«, fragte der Mandel.

»Warum? Hier scheißt sich doch keiner was, hab ich gedacht.«

»Wir stehen vor dem größten Krankenhaus der Stadt, mitten im Regierungsbezirk, du Knallkopf.«

»Ist ja gut«, sagte der Dieter und löschte die Glut mit Spucke, Daumen und Zeigefinger.

»Du Anarchist«, sagte der Mandel und fuhr los.

Ich weiß nicht, wo der Mandel und sein Bruder danach hingefahren sind, aber ich weiß, dass in der Nacht etwas passiert ist, was den Mandel von der Beobachterrolle, die er bisher in seinem Leben meistens eingenommen hatte, mitten in ein Chaos hineinstürzte, das sich zusehends seiner Kontrolle entzog. Ich würde sogar so weit gehen, dass in dieser Nacht ein Sinneswandel im Mandel begonnen hat. Vielleicht ist an dem Abend etwas eingerissen, was den Mandel so hat werden lassen, wie er heute ist. Und rückblickend sind mir auch die Unterschiede aufgefallen. Natürlich war er von der Gewaltanwendung fürchterlich erschrocken, aber letztlich hat das einen Akklimatisierungsprozess ausgelöst, eher eine Art Verrohung, kann man sagen. Was dem Mandel an diesem Abend noch passierte, ist nichts Gutes gewesen, aber im Grunde war ich froh, dass sich die Ereignisse endlich überschlugen, weil wenn am Ende dieser Episode unserer Biografie eins stehen musste, dann die vollkommene Umwälzung der Verhältnisse. Ich kann ja nicht für den Mandel sprechen, aber ich wollte keinen Zentimeter mehr zurück in mein altes Leben. Dafür nahm ich auch die paar Verwüstungen in Kauf.

Der Mandel und sein Bruder waren an diesem Abend so gegen eins aus einer Bar zurückgekommen, und der Mandel war fix und fertig von dem langen Tag. Vor der Einfahrt zur Tiefgarage hielt er an und sagte: »Scheiße.«

»Was ist denn?«, fragte der Dieter.

»Ach, ich hab den Schlüssel für die Tiefgarage oben in der Wohnung.«

»Ach, egal, stell den Wagen halt auf die Straße«, schlug der Dieter vor.

»Nein«, sagte der Mandel.

»Wieso nicht?«, fragte der Dieter.

»Komm, scheiß drauf«, sagte er dann und fuhr rückwärts aus der Einfahrt raus und parkte gegenüber rückwärts-seitwärts in eine Parklücke ein. Der Mandel war ein alter Meister im Rückwärts-seitwärts-Einparken, das muss man ihm lassen.

Ein paar Stunden später lag der Mandel in seinem Bett und sah sich auf seinem überdimensionalen Fernseher Wiederholungen der Spiele aus dem englischen Liga-Cup an. Der Dieter schlief indessen auf der Wohnzimmercouch. Ungefähr um drei Uhr dröhnte ein ziemlicher Lärm von der Straße unten in das Schlafzimmer vom Mandel. Aston Villa hatte gerade das 1 : 0 gegen Manchester United erzielt. In einem Spiel, das sie noch 1 : 2 verlieren sollten. Die Sirenen durchbrachen ruckartig den erlösenden Dämmerzustand beim Mandel, den er nirgendwo so gut erreichen konnte wie bei der Wiederholung von Fußballspielen spätnachts. Als der Mandel das Fenster öffnete, kam auch der Dieter ins Schlafzimmer, in seiner Unterhose und einem Beyoncé-T-Shirt.

»Was ist denn da unten los?«, fragte der Dieter.

Der Mandel starrte zum Fenster hinaus und sagte nichts. Das Feuerwehrauto projizierte sein blaues, rotierendes Licht an die hohe Decke vom Schlafzimmer und erzeugte Muster wie ein Bildschirmschoner. Der Mandel starrte einfach nur auf die Straße.

»Jetzt rück halt«, sagte der Dieter und drängte seinen Bruder zur Seite.

»Leck mich am Arsch, das gibt’s doch nicht«, sagte er, als er den Audi A4 von seinem Bruder unten auf dem Chamissoplatz ausbrennen sah.

Die Sonne ging schon auf, als die Polizei mit dem Mandel und dem Audi fertig war. Der Dieter und der Mandel standen schweigend um das herum, was vom Mandel seinem Audi A4 noch übrig geblieben war. Das Vorderteil, so ab dem Fahrersitz ungefähr. Alles dahinter eine einzige Schmorkugel.

»Das ist gar nicht so kompliziert mit der Versicherung. Die ersetzen dir den Schaden. Du darfst dir da nur nichts weismachen lassen von wegen Teilschaden oder höherer Gewalt. Das ist ein Totalschaden, und da können die gar nicht anders als zahlen«, sagte der Dieter und legte eine Hand auf die Schulter vom Mandel.

»Nicht jetzt«, sagte der Mandel.

»Du, ich kann mich auch um die Versicherungssache kümmern. Ich kenn mich da aus. Mein alter Audi hat damals «

»Nicht jetzt«, sagte der Mandel.

»Alles klar. Lass mich das nur machen«, sagte der Dieter.

»Das ist ja eine Schweinerei«, sagte ich zum Mandel am nächsten Tag im Büro. »Und jetzt?«

»Wie, und jetzt?«

»Na, was machst du jetzt? Zahlt das die Haftpflicht?«

»Glaub schon. Der Dieter kümmert sich.«

»Ist er ganz kaputt?«

»Ja«, sagte der Mandel.

»Fährt auch nicht mehr?«, fragte ich.

»Natürlich nicht.«

»Wer macht denn so was? Was sagt die Polizei?«, fragte ich.

»Die Polizei sagt, wenn du deinen Wagen nicht sofort von der Straße schaffst, musst du eine Geldstrafe zahlen. Die Polizei wartet so lange, bis du persönlich den Abtransport veranlasst. Die Polizei will, dass du das auf eigene Kosten erledigst.«

»Echt? Und ermittelt wird überhaupt nicht?«

»Doch, doch. Die Spurensicherung war da.«

»Und?«

»Brandsatz unter dem Benzintank. Irgendein Brandbeschleuniger und eine Stofflunte. Dreißig Sekunden später steht das Aluminium in Flammen.«

»Was für ein Aluminium?«, fragte ich.

»Der Audi«, sagte der Mandel.

Die Tür zum Nordufer ging auf, und der Dieter kam herein.

»Ich hab deine Zigaretten, Max. Und ich hab auch kurz mit dem Typen von der Versicherung gesprochen.«

»Nicht jetzt«, sagte der Mandel.

»Okay, okay«, sagte der Dieter.

»Was machst du denn da mit deinen Haaren?«, fragte ich den Mandel.

»Nichts«, sagte der Mandel und zupfte an seinen Haaren. Eine Nervosität wie das Haarezupfen war ein beunruhigendes Novum in der Bewegungspalette vom Mandel.

»Was ist denn mit dem Server vom Tilmann? Hast du die Mails gefunden?«, fragte mich der Mandel.

»Nein, noch nicht. Der Sascha ist dran. Kann aber gut sein, dass der Tilmann die Mails gelöscht hat. Mich wundert ja eh, was der alles auf dem Computer konnte. Er scheint mir jetzt nicht der technisch versierte Typ gewesen zu sein.«

Zusammen mit dem Dieter gingen wir dann in den Deichgraf, wo es Grühnkohlrouladen im Mittagsangebot gab. Der Mandel sagte kein Wort beim Essen.

»Da haben wir in ein ganz schönes Wespennest hineingestochen«, sagte ich zum Mandel, als ich ihn im Fahrschulauto vom Dieter nach Hause fuhr.

Der Mandel sagte nichts, zündete sich eine Zigarette an und zupfte an seinen Haaren herum.

»Und ganz ehrlich, so viel kann uns der Urbaniak oder die Malleck doch gar nicht zahlen, dass sich so ein Anschlag auf Leib und Leben rentieren würde.«

»Es war ja nur das Auto«, sagte der Mandel. Das war das Letzte, was er während der Autofahrt sagte.

In dieser Nacht träumte ich etwas Merkwürdiges:

Ich komme mit meinem alten roten Toyota und Maria am Fuße einer kleinen Ortschaft an, die an einem Hang liegt. Ringsherum Auen, Felder und am Ende der Sichtweite eine mächtige Baumlinie, die alles gen Süden abriegelt. Das alte Auto schafft nicht mehr den Berg zur Kirche hinauf, deshalb müssen wir unten aussteigen. Wir haben eine Menge Gepäck dabei, und Maria ist jetzt nicht mehr Maria, sondern der Mandel. Der Mandel blutet über dem Auge und wischt sich mit dem Handrücken über die Wunde, so dass er das Blut über die ganze Stirn verteilt. Ich trage einen Koffer, aber keinen von denen, die man rollen kann, und der Mandel schultert einen großen Rucksack. Wir gehen auf dem Bürgersteig in Richtung Ortsmitte eine ganz unangenehme Steigung hinauf zur Dorfkirche, die man bis weit ins Land hinaus sehen kann. Wir kommen allerdings überhaupt nicht voran. Der Mandel trägt jetzt keinen Rucksack mehr, sondern die Schlagzeugkiste vom Schredder. Der Tilmann sitzt aufrecht und blutüberströmt in der Kiste und winkt mir vom Mandel seinem Rücken aus zu.

»Der Leo muss da hoch«, sagt der Mandel, aber der Leo kippt auf die Straße, wo er liegen bleibt, immer noch winkend und mich anschauend, wie ein Kleinkind, wenn es sich wo festgeschaut hat.

»Wir müssen den Leo aufheben«, sagt der Mandel und bückt sich, die Schlagzeugkiste auf den Rücken geschnallt wie vorher den Rucksack.

»Nein, wir müssen jetzt ausweichen«, sage ich, kann aber keinen Schritt mehr gehen. Von oben, von der Dorfkirche herunter, kommt ein brennender Audi geschossen, aber ich bin gelähmt

Ich langte neben mich, um mich zu vergewissern. Ich erwischte mit den Fingern den nackten Rücken von der Malleck und war erleichtert.