Sechs

Am Abend saßen der Tilmann und der Mandel bei einem Italiener im Süden der Stadt. Der Mandel zerteilte eine gegrillte Aubergine mit der Gabel auf seinem Teller, während der Tilmann sich mit der Hand von dem Antipasti-Teller in der Mitte des Tisches bediente.

»Wie läuft’s denn privat so?«, fragte der Mandel.

Der Tilmann hörte vielleicht grade nicht hin und winkte den Kellner herbei. Er bestellte eine neue Flasche Wein.

Der Mandel fragte vorerst nicht noch einmal nach dem Privatleben. Wenn der Mandel eine der klassischen Journalisten-Tugenden nicht beherrschte und auch nicht beherrschen wollte, dann war es das penetrante Nachfragen. Wenn jemand nichts sagen wollte, dann wollte er halt nichts sagen, dachte sich der Mandel. Wenn man es aber trotzdem unbedingt wissen will, fragt man halt später nochmal nach, und wenn er dann immer noch nichts sagt, dann eben Pech gehabt. Weil Penetranz lief unter uncool beim Mandel. Er mochte keine penetranten Menschen, die versetzten ihn in unnötige Aufregung, und da war es nur logisch, dass er auch selbst nicht penetrant war. Wie sich diese Verweigerungshaltung gegenüber Penetranz jetzt in einem Ermittlerberuf auswirkte, das würde sich zeigen. Nun aber wartete der Mandel über eine halbe Stunde, bis er seine Frage nach dem Privaten noch einmal stellte. Und zwar diesmal nicht so ins Blaue hinein, sondern als Konter auf eine Ausfragerei vom Tilmann. Der Tilmann hatte nämlich ganz entgegen seiner Gewohnheiten Interesse an der Vita seines Gegenübers bekundet und dem Mandel regelrecht ein Loch in den Bauch gefragt. Woher kommst du genau? Warum bist du in diese Stadt gezogen? Warum bist du Journalist geworden? Warum bist du noch nicht verheiratet in deinem Alter, weil ihr aus dem Süden, ihr heiratet doch alle mit spätestens vierunddreißig? Und da hatte der Mandel natürlich zuschlagen beziehungsweise zufragen müssen beim Thema Heirat. Und dann aber auch direkt, und fast ein bisschen penetrant.

»Wie läuft’s denn in deiner Ehe? Ich frag nur, weil gestern im Sägewerk «

Hätte ich so was gefragt, ich hätte mir vermutlich eine gefangen, oder der Tilmann wäre wortlos aus dem Italiener hinausspaziert, aber aus dem Mund vom Mandel eine ganz normale Frage von der Tonalität her. So wie: Glaubst du, dass es am Wochenende nochmal hagelt?

Und genauso eine normale Antwort bekam der Mandel.

»Ach, eigentlich alles Friede, Freude, Eierkuchen. Die Veroni macht ihr Ding, und ich mach meins. Das läuft schon.«

»Hmm«, machte der Mandel und überlegte kurz.

»Kinder?«, fragte der Mandel dann.

»Haben wir’s jetzt nicht so eilig«, sagte der Tilmann und lächelte schmal.

»Ah ja«, sagte der Mandel.

»Il conto, per favore«, sagte der Tilmann, aber zum Kellner.

»Max, my friend. Ich muss jetzt ein paar Tage weg, aber am Samstag, wie du weißt, ist das Geheimkonzert im kleinen Saal vom Kunstpalast. Ruf mich nachmittags an, dann hol ich dich hinten rein. Kannst dir alles anschauen hinter den Kulissen. Und ich bring dir auch was mit.«

Der Tilmann zwinkerte dem Mandel zu, was selbst der Mandel etwas befremdlich fand. Der Kellner brachte die Rechnung mit, und der Tilmann zahlte bar. Hundertfünfzig Euro legte er in das Ledermäppchen, und der Mandel fragte sich, wie teuer der Wein gewesen sein musste bei so einer horrenden Gesamtsumme, weil die Antipasti für zwei Personen und zweimal Nudeln und zweimal die Nachspeise, das konnte ja so teuer nicht gewesen sein.

»Wo fährst du denn hin?«, fragte der Mandel.

»Ach, nur kurz an die Ostsee. Mal durchatmen«, sagte der Tilmann, und der Mandel fragte leider nicht: »Allein?«, weil das hätte mich jetzt interessiert wegen unserem Fall.

Am nächsten Morgen saß der Mandel schon wieder beim Urbaniak im Büro, weil der hatte ihn früh angerufen. Ohne vorher ans Nordufer zu kommen oder mich wenigstens am Telefon zu fragen, wie denn die Einführungsveranstaltung gewesen war, war der Mandel zum Urbaniak gefahren.

»Ich hab eine Bitte an dich, Max, aber was ich dir jetzt sag, ist strictly business. Das muss unbedingt unter uns bleiben.«

»Schieß los«, sagte der Mandel.

»Der Leo wird nach dieser Tour bei DEMO aussteigen und ein Soloalbum herausbringen.«

Der Urbaniak machte eine Kunstpause, die vermutlich der nachhaltigen Beeindruckung vom Mandel dienen sollte.

»Ah«, machte der Mandel.

»Das ist die absolute bombshell, wenn das vorzeitig rauskommt, Max. Und es zieht auch erheblichen rechtlichen Ärger mit dem Rest der Band nach sich. Kai Bartels ist ohnehin nicht so gut auf Leo zu sprechen.«

»Aha, warum?«

»Weil die beiden schon seit Jahren wegen dem Songwriting streiten. Dem Leo ist die Musik von Kai viel zu altbacken, und Kai findet die Texte vom Leo völlig überdreht. Aber das Soloalbum vom Leo wird das beste Album, das DEMO nie gemacht haben. Fucking good stuff, Max. Als Produzent haben wir uns O’Bailey gekauft, der wegen uns ein Aerosmith-Album nach hinten verschiebt. Musik kommt unter anderem von Fabian Meier, und eine Menge Gastauftritte verhandeln wir demnächst. Da sind ganz große Leute dabei, und ich hab Leo schon ein paar todsichere Hits auf den Leib schneidern lassen. Er muss nur noch die Texte dazu schreiben.«

»Die darf er noch selber schreiben«, entfuhr es dem Mandel, und der Sarkasmus tat ihm augenblicklich leid, weil unprofessionell.

Der Urbaniak sagte danach nichts mehr, wahrscheinlich aber, weil er dachte, seine bombshell müsste beim Mandel erstmal richtig einschlagen. Er schaute den Mandel prüfend an. Der Mandel sagte auch eine Weile nichts, wodurch ihm der Baulärm von draußen, wo jemand ein Hotel am Ufer baute, viel lauter als vorher vorkam. Für andere wäre so ein ratloses Geschweige vielleicht eine unangenehme Angelegenheit gewesen, der Mandel hingegen schien solche Momente zu genießen. Der Urbaniak zog in der Nase den Rotz hoch und sagte immer noch nichts.

»Was war denn jetzt deine Bitte an mich?«, fragte der Mandel, weil er nicht wollte, dass der Urbaniak noch mehr Dinge mit seinem Rotz anstellte.

»Das wird so fett, das Album, das können wir nicht in den Sand setzen. Der Leo ist im Moment leider Gottes ein bisschen on the edge. Ständig unterwegs, von einem Club zum anderen, von einer line zur nächsten. Ich weiß gar nicht, wie ich den bändigen soll.«

Du bist nur neidisch, dachte der Mandel, aber nach seinem Fauxpas von eben hatte er sich wieder vollkommen im Griff.

»Hier ist das Ding, Max. Leo hat sich von uns bereits einen dicken Vorschuss abgeholt, von dem er die Vorproduktion bezahlen muss. Er hat das verlangt, er will sich um alles selbst kümmern, weil Danny ja seit Wochen so krank ist mit dieser Nierenkolik. Jetzt kann Leo aber überhaupt nicht mit Geld umgehen, und von mir lässt er sich absolut nichts sagen. Niente. Du, Max, hörst du mich? Ich hab Schiss, dass der das ganze Geld für sein Privatvergnügen verpulvert. Dass wir das Album nicht machen. Dass wir am Ende mit O’Bailey vor einer leeren Festplatte sitzen. Nix Vorproduktion. Nix Homerecording. Nix Studioaufenthalt. Nix Hitplatte. Dass er uns am Ende ein paar schlechte selbst geschriebene Lieder hinwirft, statt die Songs aufzunehmen, die ich ihm gegeben habe.«

»Aber selbst wenn er das Geld verprasst, dann hat er doch sicher noch ein paar Mark auf der Bank«, sagte der Mandel.

»Ach woher. Nichts hat der. Nada. Der hat grade nichts außer diesem Vorschuss.« Der Urbaniak fuchtelte jetzt aufgeregt mit der rechten Hand, während er sich mit der linken durch die Schmalzlocken kämmte. Der Mandel notierte sich innerlich, dem Urbaniak gleich nicht die Hand zum Abschied zu geben.

»Was ist denn mit dem Geld von der Veronika?«, wollte der Mandel wissen.

»Nichts ist. Gar nichts. Niente. Die Malleck spuckt keinen Cent mehr aus, die hat seine Touren schon lange dicke. Wundert mich überhaupt, dass die das Spielchen immer noch mitmacht, so wie Leo sich aufführt. Du hast’s ja mitbekommen neulich im Sägewerk, nehme ich an.«

»Naah, war nicht so schlimm«, sagte der Mandel.

»Und die Tantiemen? Der Leo muss doch Tantiemen bekommen wie nix?«

»Aber auch da muss er erst mal die nächste Ausschüttung abwarten. So was geht ja nicht monatlich.«

»Aha«, sagte der Mandel.

»Hör mal, Max, ich zahl dir fünftausend cash, wenn du ein Auge auf Leo wirfst und mich auf dem Laufenden hältst, was die Aufnahmen betrifft. Das kannst du doch, oder?«

Spätestens jetzt war der Mandel hellhörig geworden. Wusste der Urbaniak von seiner neuen Tätigkeit als Ermittler, oder war das, weil er sich wegen der Reportage eh in der Nähe vom Tilmann aufhielt? Der Mandel entschloss sich, lieber nicht nachzufragen. Von wegen schlafende Hunde.

»Ich muss mir das überlegen, Karsten. Gibst du mir einen Tag Bedenkzeit?«

»Sure, hau rein, is Tango«, sagte der Urbaniak und schaute schicksalsschwanger aus dem Fenster, so als hätte er was von außerordentlicher Bedeutung gesehen. Dann klingelte das Telefon, und Urbaniak drückte einen Knopf für die Freisprechanlage.

»Ja, schick ihn hoch, Franziska. Ich bin gleich ready

Der Mandel war schon aufgestanden und sagte: »Ich ruf dich an«, während er dem Urbaniak die Hand hinhielt. Dann fiel ihm wieder seine innere Notiz ein, und er ärgerte sich, weil er konnte die Hand ja jetzt schlecht wieder zurückziehen.