Bei Phil & Joanna 2: Orangenmarmelade

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Es war einer dieser Februare, die die Briten daran erinnerten, weshalb so viele ihrer Landsleute auswanderten. Seit Oktober war immer mal wieder Schnee gefallen, der Himmel war wie mattes Aluminium, und das Fernsehen berichtete von plötzlichen Überschwemmungen, Kleinkindern, die von den Fluten fortgerissen wurden, und Senioren, die man mit Paddelbooten in Sicherheit brachte. Wir hatten über Winterdepressionen gesprochen, die Kreditkrise, die steigenden Arbeitslosenzahlen und die Wahrscheinlichkeit zunehmender sozialer Spannungen.

»Ich sag ja nur, es überrascht mich nicht, dass hier ansässige ausländische Firmen ausländische Arbeitskräfte einfliegen, wo bei ihnen zu Hause haufenweise Leute Arbeit suchen.«

»Und ich sage nur, es arbeiten mehr Briten in Europa als Europäer hier.«

»Hast du den italienischen Arbeiter gesehen, der den Fotografen den Stinkefinger gezeigt hat?«

»Allerdings, und ich bin sehr dafür, ausländische Arbeitskräfte herzubringen, wenn die aussehen wie der.«

»Schenk ihr nicht mehr nach, Phil.«

»Auf die Gefahr hin, wie der Premierminister zu klingen oder eine dieser Zeitungen, die wir nicht lesen, ich finde, britische Arbeiter haben Anspruch auf britische Jobs.«

»Und britische Frauen auf europäischen Wein.«

»Das ist keine logische Folgerung.«

»Nein, das ist eine geselligkeitsbedingte Folgerung, was auf das Gleiche hinausläuft.«

»Als der Ausländer an diesem Tisch …«

»Ruhe bitte für den Sprecher unserer ehemaligen Kolonie.«

»… erinnere ich mich, wie ihr über die Einheitswährung gestritten habt. Ich hab damals gedacht: Was haben die denn? Eben bin ich nach Italien gefahren und zurück und hab die ganze Zeit nur eine Währung gebraucht, und die heißt Mastercard.«

»Wenn wir beim Euro mitmachen würden, dann wäre das Pfund weniger wert.«

»Moment mal, wenn wir beim Euro –«

»War nur ein Witz.«

»Eure Pässe haben dieselbe Farbe. Warum macht ihr nicht Nägel mit Köpfen und sagt, ihr seid alle Europäer?«

»Weil wir dann keine Witze mehr über Ausländer machen könnten.«

»Was eine ehrwürdige britische Tradition ist.«

»Hör mal: Egal in welche europäische Stadt du gehst, die Läden sind überall praktisch die gleichen. Manchmal fragst du dich, wo du überhaupt bist. Binneneuropäische Grenzen gibt es kaum noch. Plastik ersetzt Bargeld, das Internet ersetzt alles andere. Und mehr und mehr Leute sprechen Englisch, was alles noch einfacher macht. Warum also nicht zugeben, was Sache ist?«

»Weil auch das etwas Britisches ist, an dem wir hängen: Nicht zugeben können, was Sache ist.«

»Verlogenheit, beispielsweise.«

»Fang bloß nicht wieder damit an. Dieses Steckenpferd hast du letztes Mal echt zu Tode geritten.«

»Echt?«

»Ein Steckenpferd zu Tode zu reiten, bedeutet, einer toten Metapher die Sporen zu geben.«

»Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Metapher und einem Vergleich?«

»Orangenmarmelade.«

»Wer von euch beiden fährt?«

»Hast du deine schon gemacht?«

»Ach, weißt du, ich sehe die Bitterorangen immer, wenn sie frisch auf dem Markt sind, und dann schaff ich es nie, rechtzeitig welche zu kaufen.«

»Eine der letzten Früchte, die immer noch saisonabhängig sind. Ich wünschte mir, die Welt würde wieder nach dem Saisonprinzip funktionieren.«

»Bloß nicht. Dann hättest du den ganzen Winter über nichts als Steck- und Kohlrüben.«

»Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir in der Küche so einen großen Geschirrschrank mit tiefen Schubladen unten drin, und einmal im Jahr waren die plötzlich voll Orangenmarmelade. Das war wie ein Wunder. Nie habe ich meine Mutter sie kochen sehen. Ich kam aus der Schule, und da war dieser Geruch, und dann ging ich zum Geschirrschrank, und dann war der voller Töpfe. Alle sauber etikettiert. Immer noch warm. Und die mussten dann ein Jahr lang reichen.«

»Mein lieber Phil, gleich rauschen die Geigen auf und muss ich eine Träne zerdrücken. Das war wohl in jenen Zeiten, als du dir Zeitungspapier in die löchrigen Schuhe stopfen musstest, bevor du den beschwerlichen Weg zur Fabrik unter die Füße nahmst.«

»Verpiss dich, Dick.«

»Claude sagt, Bitterorangen gibt es nur noch diese Woche.«

»Ich hab’s gewusst. Ich habe sie wieder verpasst.«

»Bitterorangen werden auch Pomeranzen genannt und kommen als solche bei Mörike vor. Wo genau, weiß ich allerdings nicht mehr.«

»Man kann sie auch einfrieren, weißt du.«

»Du solltest unsere Tiefkühltruhe sehen. Ich will nicht, dass die zu einem noch übleren Hort der Schuldgefühle wird.«

»›Hort der Schuldgefühle‹. Klingt wie der Titel einer Schmähschrift gegen die Ehe. Von Strindberg oder Wedekind.«

»Was für ein Kind?«

»Wer ist Claude?«

»Unser Gemüsehändler. Ein Franzose. Genauer gesagt, ein Franzose tunesischer Herkunft.«

»Das ist auch so was. Wie viele unserer traditionellen Läden werden noch von Engländern geführt? Hier in der Gegend, meine ich. Ein Viertel, ein Drittel?«

»Apropos, hab ich euch schon von dem Bastelsatz zur Do-it-yourself-Erforschung der Gedärme erzählt, den mir die Regierung freundlicherweise geschickt hat, weil ich jetzt offiziell ein alter Sack bin?«

»Dick, muss das sein?«

»Ich verspreche, anständig zu bleiben, auch wenn die Verlockung gewaltig ist.«

»Wenn du getrunken hast, wirst du immer so unappetitlich.«

»Ich gelobe, zurückhaltend, ja prüde zu sein. Alles der Fantasie zu überlassen. Also: Die schicken einem so ein Set samt einem beschichteten Umschlag, in dem man das – wie soll ich das sagen – notwendige Beweismaterial einschicken soll. Je zwei Proben, die man an drei Tagen entnehmen soll. Und jede Probe muss datiert werden.«

»Wie kommst du zu der Probe? Musst du die … herausfischen?«

»Auf keinen Fall. Sie darf nicht durch Wasser verfälscht werden.«

»Also …«

»Ich habe versprochen, mich der Sprache von Miss Austen zu befleißigen. Bestimmt gab es auch damals schon Papierhandtücher und kleine Pappkartonstäbchen und wahrscheinlich auch schon ein lustiges Kinderspiel namens Fang-den-Kot.«

»Dick

»Da fällt mir ein, ich musste mal zu einem Proktologen, und der sagte mir, eine Testmethode – auf was, hab ich so rasch wie möglich vergessen –, also eine Testmethode sei, mich über einen auf dem Boden liegenden Spiegel zu kauern. Irgendwie wollte ich es dann doch lieber drauf ankommen lassen, zu erwischen, was immer es sein mochte.«

»Ihr fragt euch bestimmt, warum ich dieses Thema aufgebracht habe.«

»Weil du immer so unappetitlich wirst, wenn du getrunken hast.«

»Eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung. Nein, es ist so: Letzten Donnerstag habe ich meinen ersten Test gemacht und wollte am folgenden Tag den nächsten machen, da fiel mir ein: Freitag der Dreizehnte. Kein gutes Omen. Deshalb habe ich den Samstag abgewartet.«

»Aber das war doch –«

»Genau. Valentinstag. Liebesgrüße aus Darmstadt.«

»Wie oft kommt das wohl vor, dass der Valentinstag gleich nach Freitag, dem Dreizehnten kommt?«

»Da muss ich passen.«

»Da muss ich passen.«

»Als Junge – als Jüngling – als junger Mann habe ich nie eine einzige Karte zum Valentinstag verschickt und auch nie eine erhalten. In meinen … Kreisen tat man das einfach nicht. Ich bekomme erst welche, seit ich verheiratet bin.«

»Joanna, findest du das nicht bedrohlich?«

»Nein. Er meint damit, dass ich sie ihm schicke.«

»Wie süß. Um nicht zu sagen: sühüß.«

»Ich hatte von der berühmten Zurückhaltung der Engländer in emotionalen Dingen ja schon gehört. Aber da wird die Latte wirklich sehr hoch gelegt: keine Karten zum Valentinstag bis zur Hochzeit.«

»Ich habe gelesen, es gibt vielleicht einen Zusammenhang zwischen Bitterorangen und Darmkrebs.«

»Wirklich?«

»Nein, aber solche Dinge sagt man doch gern zu fortgeschrittener Stunde.«

»Du bist lustiger, wenn du nicht so angestrengt bist.«

»Ich erinnere mich an eines der ersten Male, als ich auf ein öffentliches Klo ging und dort die Graffiti las, da war eines, das hieß: ›Auch bei angestrengtem Scheißen niemals in den Riegel beißen.‹ Ich habe ungefähr fünf Jahre gebraucht, um rauszufinden, was das heißt.«

»›Riegel‹ im Sinne von ›Penis‹ oder ›was zu essen‹?«

»Nein, ›Riegel‹ im Sinne von ›Türriegel‹.«

»Um radikal das Thema zu wechseln: Ich saß mal gemütlich auf einem Klo, da bemerkte ich, dass unten an der Seitenwand etwas schräg hingeschrieben war. Ich hab mich also gebückt, um es zu lesen, und da stand: ›Jetzt scheißen Sie in einem 45-Grad-Winkel.‹«

»Was ich noch sagen wollte: Die Orangenmarmelade hab ich ins Spiel gebracht, weil …«

»… abgesehen von ihrem Zusammenhang mit Darmkrebs …«

»… sie so ein britisches Phänomen ist. Denn Larry hatte gesagt, wir seien mittlerweile alle gleich, und da habe ich, statt das Königshaus oder so zu erwähnen, eben ›Orangenmarmelade‹ gesagt.«

»Die gibt’s aber auch bei uns in den Staaten.«

»Die gibt’s in kleinen Töpfchen in Hotels zum Frühstück. Aber ihr kocht sie nicht selbst zu Hause ein, ihr begreift sie nicht.«

»Es gibt sie auch bei den Franzosen. Confiture d’orange

»Aber wie der Name schon sagt, handelt es sich um Konfitüre. Orangenkonfitüre.«

»Nein, die stammt ursprünglich aus Frankreich, das Wort kommt von ›Marie malade‹. Gemeint ist diese schottische Königin mit der guten French Connection

»French Connection UK, gab’s diese Klamotten damals schon?«

»Und Maria Stuart, Königin der Schotten, Bloody Mary oder wie sie auch immer hieß, war krank. Da haben die welche für sie gekocht: Marie malade – Marmelade. Kapiert?«

»Daher der Name Bratkartoffel.«

»Wie auch immer, ich sag euch jetzt, warum wir immer Briten bleiben werden.«

»Könnt ihr das auch nicht ab, wie heute alle sagen ›the UK‹ oder gar nur ›UK‹? Nicht zu reden von ›UK plc‹, als wären wir eine Aktiengesellschaft.«

»Ich glaube, Tony Blair hat damit angefangen.«

»Ist für dich also nicht mehr die Thatcher an allem schuld?«

»Nein, ich hab mich umentschieden. Jetzt ist Blair an allem schuld.«

»›UK plc‹ ist doch einfach nur ehrlich. Wir sind eine Handelsnation, immer schon gewesen. Maggie hat einfach nur das ursprüngliche England wieder ausgegraben, das immer England sein wird: geldversessen, eigennützig, fremdenfeindlich und kulturfeindlich. Das ist unsere Grundeinstellung.«

»Um zum Thema zurückzukehren: Wisst ihr, was wir ebenfalls am 14. Februar feiern, außer dem Valentinstag?«

»Den nationalen Darminspektionstag?«

»Halt’s Maul, Dick!«

»Nein. Den nationalen Impotenztag.«

»Dieses britisches Humor. Einfach kostlich, ist es nicht?«

»Ja, es ist, ebenso kostlich wie deinen Akzent.«

»Stimmt aber. Und wenn es um nationale Eigenheiten geht oder um Ironie, dann bringe ich dieses Beispiel, den 14. Februar.«

»Blutorangen.«

»Lass mich raten: Benannt nach der Bloody Mary.«

»Ist euch auch schon aufgefallen, dass sie in den Supermärkten seit ein paar Jahren Blutorangen Rubinorangen nennen? Weil sonst ja jemand meinen könnte, da sei Blut drin.«

»Im Gegensatz zu Rubinen.«

»Genau.«

»Die kommen ungefähr jetzt in die Läden, überlappen sich also mit den Bitterorangen, und ich habe mich gefragt, ob das ebenso oft vorkommt wie Freitag der Dreizehnte vor dem Valentinstag.«

»Joanna, auch das ist ein Grund, warum ich dich liebe: Weil du es fertig bringst, uns zu dieser späten Stunde narrative Kohärenz unterzujubeln. Ich meine, kann eine Gastgeberin etwas Schmeichelhafteres tun als ihren Gästen das Gefühl zu vermitteln, sie blieben beim Thema?«

»Schreib das nächstes Jahr auf die Karte zum Valentinstag, Phil.«

»Und sind wir uns einig, dass dieser Blutorangen- oder Rubinorangensalat einer Königin würdig wäre?«

»Und der Schmortopf vom Lammnacken eines Königs würdig.«

»Der letzte Wunsch von Charles dem Ersten.«

»Zwei Hemden zu tragen.«

»Charles der Erste?«

»Am Tag, als er geköpft wurde. Es war extrem kalt, und er wollte nicht zittern vor Kälte, damit das liebe Volk nicht glaubte, er habe Angst.«

»Sehr britisch, würde ich sagen.«

»Und all diese Leute, die historische Kostüme anziehen und die ganzen Bürgerkriegsschlachten noch einmal ausfechten, das kommt mir ebenfalls sehr britisch vor.«

»Bei uns in den Staaten tut man das auch. Und wahrscheinlich in vielen anderen Ländern.«

»Von mir aus. Aber wir haben es zuerst getan. Wir haben es erfunden.«

»Wie euer Cricket und euren Fußball und eure Devonshire Cream Teas.«

»Könnten wir vielleicht bei der Orangenmarmelade bleiben?«

»Sehr gut zum Glacieren einer Ente.«

»Ich wette, jeder von euch, der welche macht, macht sie auf andere Art, und sie hat jedes Mal eine andere Konsistenz.«

»Flüssig.«

»Klebrig.«

»Sue kocht sie dermaßen stark ein, dass sie vom Toast fällt, wenn du nicht aufpasst. Die klebt kein bisschen.«

»Wenn sie zu flüssig ist, rinnt sie dir einfach runter.«

»Du musst die Kerne in einem Musselinsäckchen mit kochen, damit sie mehr … Dings bekommt.«

»Pektin.«

»Genau.«

»Fein geschnitten.«

»Grob geschnitten.«

»Ich schmeiße meine in die Küchenmaschine.«

»Das ist gemogelt.«

»Meine Freundin Hazel macht sie im Dampfkochtopf.«

»Meine Rede: Das ist genau wie mit den harten Eiern. Oder ging’s um Spiegeleier? Es gab eine Umfrage, und dabei hat man festgestellt, dass jeder es ein bisschen anders macht und dabei glaubt, seine Art sei die einzig richtige.«

»Und womit soll das etwas zu tun haben, o Hüterin der kommunalen narrativen Kohärenz?«

»Mit dem, was Larry gesagt hat: Dass wir alle gleich seien. Das sind wir eben nicht. Nicht einmal in so simplen Dingen.«

»Theorie und Praxis des Britentums exemplifiziert anhand der Orangenmarmelade.«

»Und deswegen braucht ihr alle auch keine Angst davor zu haben, Europäer zu werden.«

»Ich weiß nicht, ob Larry im Lande war, als unser geschätzter Finanzminister und baldiger Expremierminister eine ganze Latte von Bedingungen nannte, bevor wir bereit wären, das gute alte britische Pfund zum fiesen fremden Euro konvertieren zu lassen.«

»Konvergieren, nicht konvertieren. Es ging um Konvergenzkriterien.«

»Stimmt. Und kann sich jemand noch an die erinnern? Auch nur an ein einziges dieser Kriterien?«

»Natürlich nicht. Das war auch nicht der Zweck der Übung. Der Zweck war, möglichst unverständlich zu sein, weshalb man sie sich auch nicht merken konnte.«

»Und wieso das?«

»Weil die Entscheidung, beim Euro mitzumachen, immer eine politische, nie eine ökonomische war.«

»Das hört sich sehr einleuchtend an und stimmt vielleicht sogar.«

»Aber hat denn irgendjemand das Gefühl, die Franzosen seien weniger französisch und die Italiener weniger italienisch geworden, weil sie beim Euro mitgemacht haben?«

»Die Franzosen werden immer französisch bleiben.«

»Genau das sagt man auch über euch.«

»Dass wir immer französisch bleiben?«

»Außerdem müssen es nicht unbedingt Bitterorangen sein, um Marmelade zu machen.«

»Schön, dass wir wieder zum Thema zurückgefunden haben.«

»Dick hat schon aus allen möglichen Zitrusfrüchten Marmelade gemacht.«

»Womit mein Ruf endgültig im Eimer ist …«

»Einmal hat er eine Mischung genommen von – was war das noch mal? – Bitterorangen, süßen Orangen, rosa Grapefruit, weißen Grapefruit, Zitronen, Limetten. ›Sechsfrucht-Marmelade‹ habe ich auf die Etiketten geschrieben.«

»Damit kämst du bei den EU – Vorschriften nicht durch.«

»Wie war das noch mal: Pfefferminztee, Pfefferminztee, nichts, koffeinfrei, Pfefferminztee?«

»Ich möchte lieber gar nichts mehr.«

»Oha, dabei wollte ich noch …«

»David, Schätzchen …«

»Ja, Sue, Schätzchen?«

»Also gut, weil du das Thema angeschnitten hast, möchte ich eine unbritische Frage in die Runde werfen. Ist in jüngerer Zeit nach einem Abend bei Phil und Joanna irgendjemand von uns nach Hause gekommen und hat dann noch …«

»… ›eine klassische Nummer geschoben‹, möchte sie sagen.«

»Was meinst du mit ›klassisch‹?«

»Dass es zur Penetration kommt.«

»Was für ein widerliches Wort!«

»Es gibt da eine Geschichte über Lady Diana Cooper. Oder war es Nancy Mitford? Eine von beiden jedenfalls, eine feine Dame. Die waren respektive die war auf einem Ozeandampfer, und egal welche es jetzt war, die hat jedenfalls eines Abends mit einem Steward gevögelt. Am nächsten Morgen begegnet er ihr auf dem Vorderdeck oder wo immer und begrüßt sie freundlich –«

»Wie sich das gehört.«

»Wie sich das gehört. Worauf sie sagt: ›Penetration ist nicht gleich Präsentation.‹«

»Ach, ist sie nicht zum Schießen, unsere Oberschicht? England, mein England, nie wirst du untergehen.«

»Bei Geschichten wie dieser möchte ich mich auf den Tisch stellen und ›Die rote Fahne‹ singen.«

»›Die rubinrote Fahne‹.«

»Meiner Frage seid ihr alle elegant ausgewichen.«

»Wie das denn? Wir haben sie doch längst vergessen.«

»Dann schämt euch.«

»Es liegt nicht am Alkohol oder dem Mangel an Koffein, ja nicht einmal an der Müdigkeit. Es ist vielmehr so: Wenn wir nach Hause kommen, sind wir ZVZV, wie wir das nennen.«

»Was die Abkürzung ist für …«

»Zu voll zum Vögeln.«

»So viel zum Thema ›Geheimnisse des Schlafgemachs‹.«

»Erinnert ihr euch an Jerry?«

»Den mit den Plastikhoden?«

»Dacht’ ich mir schon, dass euch das in Erinnerung bleibt. Also, Jerry war ein paar Monate im Ausland, und da machte Kate, seine Frau, sich Sorgen, ihr Bauch sei ein bisschen zu dick. Sie wollte in Topform sein, wenn Jerry zurückkam, also ging sie zu einem Schönheitschirurgen und erkundigte sich, wie das mit dem Fettabsaugen wäre. Worauf der meinte, er könne ihr gern einen Flachi machen …«

»Einen Flachi?«

»Ich verschone euch mit dem Fachchinesischen. Eines müsse er ihr allerdings sagen: Ihr Bauch dürfe danach mehrere Wochen lang nicht belastet werden, wie er es taktvoll formulierte.«

»Oha, nur noch Penetration a tergo

»Das ist doch eine Geschichte über wahre Liebe, findet ihr nicht auch?«

»Wie man’s nimmt, oder eine über weibliche Unsicherheit.«

»Hand hoch, wer die Herleitung des Wortes ›Marmelade‹ wissen möchte.«

»Dacht’ ich’s doch, dass du verdammt lang gebraucht hast, um zu pinkeln.«

»Es hat nichts mit Marie malade zu tun. Es kommt von einem griechischen Wort, das irgendwie bedeutet, dass man einen Apfel mit einer Quitte kreuzt.«

»Alle schönen Etymologien stimmen nicht.«

»Mit anderen Worten, du weißt noch ein anderes Beispiel?«

»Ja, das englische posh im Sinne von ›fein, vornehm, schick‹ und somit auf die eben erwähnte Lady Diana Cooper oder Nancy Mitford zutreffend.«

»Posh ist die Abkürzung von ›port out starboard home‹, also ›Backbord hin, Steuerbord zurück‹. Gemeint war die beste Lage für Kabinen auf der Schiffsreise nach Indien und zurück, nämlich auf der Seite, die von der Sonne abgewandt war.«

»Leider nein. ›Ursprung unbekannt‹.«

»Das ist keine Herleitung, ›Ursprung unbekannt‹.«

»Im Wörterbuch steht, ›möglicherweise verwandt mit einem Roma-Wort für ‘Geld’‹.«

»Sehr unbefriedigend.«

»Tut mir leid, ich bin ungern der Spielverderber.«

»Meint ihr, das sei auch eine nationale Eigenschaft?«

»Spielverderber sein?«

»Nein, sich fantasievolle Herleitungen und Abkürzungen auszudenken.«

»Vielleicht heißt UK etwas anderes.«

»Uro-Konvergenz.«

»Ist es schon so spät?«

»Vielleicht heißt es gar nichts.«

»Ist es eine Allegorie.«

»Oder eine Metapher.«

»Könnte mir bitte mal jemand den Unterschied zwischen einem Vergleich und einer Metapher erklären?«

»Ein Vergleich ist … gleicher. Eine Metapher … metaphorischer.«

»Herzlichen Dank auch.«

»Es ist eine Frage der Konvergenz, wie der Premierminister so richtig gesagt hat. Zurzeit liegen das Pfund und der Euro meilenweit auseinander, ihre Beziehung ist also eine metaphorische. Um nicht zu sagen: metaphysische. Dann nähern sie sich einander an, werden vergleichbar, und es kommt zur Konvergenz.«

»Und wir werden endlich Europäer.«

»Und wenn wir nicht gestorben sind, dann leben wir noch heute.«

»Und zeigen allen, was es mit der Orangenmarmelade wirklich auf sich hat.«

»Warum habt ihr eigentlich beim Euro nicht mitgemacht?«

»Nach der Präsentation haben wir auf die Penetration dankend verzichtet.«

»Wir waren schon zu voll zum Vögeln.«

»Zu voll, um uns vögeln zu lassen. Von einem hageren, hungrigen Eurokraten.«

»Ich finde, wir sollten mitmachen – am Valentinstag.«

»Wieso nicht am Freitag, dem Dreizehnten?«

»Nein, es muss am 14. sein. Wenn Liebe und Impotenz gleichzeitig gefeiert werden. Das ist der Tag, an dem wir vollwertige Mitglieder Europas werden sollten.«

»Möchtest du wissen, Larry, wie dieses Land sich zu meinen Lebzeiten verändert hat? In meinen Jugendjahren empfanden wir uns nicht als Nation. Natürlich gab es gewisse Grundannahmen, aber es war typisch, ja ein Beweis dafür, dass wir so waren, wie wir waren, dass wir nicht viel darüber nachdachten, wer oder was wir waren. Was wir waren, war eben normal – oder müsste es ›Wie wir waren, war eben normal‹ heißen? Das mag eine Nachwirkung der Macht des Empires gewesen sein oder mit dem zu tun haben, was du unsere emotionale Zurückhaltung genannt hast. Wir haben uns nicht mit uns selbst befasst. Jetzt tun wir es. Nein, es ist schlimmer, als sich mit sich selbst zu beschäftigen, schlimmer, als Nabelschau zu betreiben. Wer hat vorhin von dem Proktologen erzählt, der empfahl, sich über einen Spiegel zu kauern? Das nämlich tun wir mittlerweile: Wir betreiben Arschlochschau.«

»Pfefferminztee, noch ein Pfefferminztee, und das ist der Koffeinfreie. Ich habe zwei Kleintaxis bestellt. Wieso schweigt ihr alle? Hab ich was verpasst?«

»Bloß einen Vergleich.«

Danach sprachen wir über Urlaubsreisen, wer wohin fahren werde, dass die Tage länger würden, dem Vernehmen nach täglich eine Minute, was niemand in Zweifel zog, dann beschrieb jemand, wie es sei, das Innere eines Schneeglöckchens zu betrachten, dass man die Blüte anhebe in der Erwartung, sie werde auch innen ganz weiß sein, und dann entdecke man ein filigranes Muster aus reinstem Grün. Dass verschiedene Sorten Schneeglöckchen innen auch verschieden aussähen, manche eher geometrisch, andere geradezu extravagant, obschon es immer das gleiche Grün sei, und zwar ein so lebhaftes, dass man das Gefühl habe, der Frühling brenne geradezu darauf zu kommen. Doch bevor jemand etwas dazu oder dagegen sagen konnte, ertönte von der Straße konzertiertes und ungeduldiges Hupen.