Bei Phil & Joanna 3: Hände weg!
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Endlich war es einmal warm genug, dass man draußen essen konnte. Auf dem Tisch, dessen Platte sich verzogen hatte, hatten von Anfang an Kerzen in Blechlaternen gebrannt, und mittlerweile erwiesen sie sich als nützlich. Wir hatten über Obamas erste hundert Tage gesprochen, seine Abschaffung der Folter von Staats wegen, über Britanniens Komplizenschaft bei der Auslieferung von Terrorverdächtigen über Landesgrenzen hinweg, die Boni von Bankern und den möglichen Termin der nächsten Parlamentswahlen. Wir versuchten, den drohenden Ausbruch der Schweinegrippe mit der Vogelgrippe zu vergleichen, die ja dann doch nicht gekommen war, doch von Epidemiologie hatte niemand einen blassen Schimmer. Und so entstand ein Augenblick des Schweigens.
»Eben habe ich gedacht … das letzte Mal, als wir alle hier versammelt waren –«
»An dieser Tafel, die geradezu ächzte unter der Fülle der Speisen –«
»Die uns aufgetragen wurden von – rasch, her mit ein paar Klischees!«
»Von einem Wirte wundermild.«
»Einem veritablen Trimalchio.«
»Von Frau Hurtig.«
»Nein, das bringt’s nicht. Sagen wir also: Von Phil und Joanna, diesen Inkarnationen der Gastfreundschaft.«
»Diese Zunge übrigens …«
»War das Zunge? Du hast gesagt, es sei Rindfleisch.«
»War es auch. Zunge ist Rindfleisch. Es gibt Rinderzunge, Kalbszunge.«
»Aber … aber Zunge mag ich nicht. Die hat im Maul einer toten Kuh gesteckt.«
»Das letzte Mal, als wir hier waren, habt ihr von Karten zum Valentinstag erzählt, ihr zwei … verheirateten Turteltauben. Und von dieser Freundin von euch, die ihren Bauch zusammentackern lassen wollte rechtzeitig zur Rückkehr ihres Mannes.«
»Genau genommen ging es ums Fettabsaugen.«
»Und jemand hat die Frage aufgeworfen, ob das nun ein Zeichen der Liebe oder der Eitelkeit sei.«
»Weibliche Unsicherheit, meine ich, war die Alternative.«
»Moooment. War das, bevor ihr Typ diese radikale Testektomie vornehmen ließ, oder wie man das nennt?«
»Ewigkeiten davor. Und sie hat es ja dann nicht machen lassen.«
»Nicht?«
»Ich habe gemeint, das hätte ich euch gesagt.«
»Die Rede war doch von, wie hat Dick das genannt, Penetration a tergo.«
»Sie hat es nicht machen lassen. Ich bin sicher, dass ich das gesagt habe.«
»Und dann hat, um beim Thema zu bleiben, jemand gefragt, ob jemals irgendwer von uns Lust auf Sex hat, wenn er von hier nach Hause kommt.«
»Eine Frage, auf die man dann im Wesentlichen die Antwort schuldig blieb.«
»Lieber David, ist das Ziel und Zweck deiner sokratischen Präambel?«
»Nein. Das heißt, vielleicht doch. Nein, nicht wirklich.«
»Weiter im Text.«
»Mir kommt das vor, wie wenn Typen zusammen an einem Tisch sitzen, und dann erwähnt jemand, die Größe des Gemächts stehe in einem direkten Verhältnis … Dick, warum versteckst du plötzlich deine Hände?«
»Weil ich weiß, wie dieser Satz weitergeht. Und weil ich niemanden in die peinliche Lage bringen will, auf die Pracht meines Gemächts zu schließen, wie du es nennst.«
»Sue, eine Frage. In der letzten Lektion wurde den Schülerinnen und Schülern der Unterschied zwischen einem Vergleich und einer Metapher beigebracht. Welcher rhetorische Begriff, würdest du sagen, wäre am zutreffendsten für diesen Schluss von der Größe der Hände eines Mannes auf die Größe von dessen Gemächt?«
»Ist ›großtun‹ ein rhetorischer Begriff?«
»Es gibt doch einen Begriff für das Verwenden von etwas Kleinem stellvertretend für etwas Großes, Pars pro Toto und so. War das Litotes? Hendiadyoin? Anakoluth?«
»Keine Ahnung. Für mich klingt das alles wie die Namen griechischer Ferienorte.«
»Was ich eigentlich sagen wollte: Wir sprechen nie über die Liebe.«
»…«
»…«
»…«
»…«
»…«
»…«
»Genau das meine ich.«
»Ein Freund von mir hat einmal gesagt, er glaubt nicht, dass man länger als zwei Wochen am Stück glücklich sein kann.«
»Wer war das arme Schwein?«
»Ein Freund von mir.«
»Sehr verdächtig.«
»Wieso?«
»Na ja, ›ein Freund von mir‹ – kann sich noch jemand an Matthew erinnern? Ja? Nein? Er war ein großer coureur de femmes.«
»Könntest du uns das bitte mal übersetzen?«
»Oh, er vögelte für England. Der hatte eine unglaubliche Energie. Und war immer … interessiert. Wie auch immer, es kam der Punkt, als – wie soll ich mich ausdrücken? – als Frauen beim Sex immer häufiger Hand an sich legten.«
»Und ab wann genau, würdest du sagen, war das so?«
»Zwischen der Aufhebung des Verbots von Lady Chatterley und der ersten LP der Beatles?«
»Schönen Dank für das Larkin-Zitat, aber ich glaube, das war später. Eher in den Siebzigern …«
»Jedenfalls hat Matthew diese … soziodigitale Veränderung früher als andere festgestellt, weil er nun mal mehr Feldforschung betrieben hat, und hat beschlossen, eine Frau darauf anzusprechen – keine Geliebte, keine Ehemalige, sondern eine Freundin, mit der er besonders gut reden konnte. Eine Vertraute. Also hat er eines Tages, als sie zusammen etwas getrunken haben, möglichst beiläufig gesagt: ›Ein Freund von mir hat mir neulich erzählt, er habe festgestellt, dass die Frauen beim Sex jetzt häufiger ihre Finger einsetzen.‹ Worauf diese Frau gesagt hat: ›Dann hat dein Freund wohl einen winzigen Schwanz. Oder er weiß nichts Gescheites damit anzustellen.‹«
»Worauf er die Flagge gestrichen haben dürfte.«
»Er ist gestorben. Ziemlich jung. Hirntumor.«
»Ist das jetzt ›ein Freund von mir‹ oder ›ein Freund von mir‹?«
»Will. Erinnert ihr euch an ihn? Der hatte Krebs. Ein großer Trinker, ein großer Raucher und ein großer Frauenverschleißer. Ich weiß noch, wo der Krebs schon überall war, als sie ihn entdeckten: in der Leber, der Lunge und der Harnröhre.«
»So viel zum Thema ›ausgleichende Gerechtigkeit‹.«
»Aber das ist doch komisch, findet ihr nicht?«
»Soll das heißen, Matthew ist an einem Hirntumor gestorben, weil er zu viel gevögelt hat? Wo ist da der Zusammenhang?«
»Vielleicht hatte er einfach zu viel Sex im Kopf.«
»Und das ist nun mal der schlechteste Ort, um Sex zu haben.«
»Die Liebe.«
»Gesundheit!«
»Ich habe mal gelesen, dass man in Frankreich, wenn man jemand diskret darauf aufmerksam machen wollte, dass sein Hosenstall offen stand, dass man dann also gesagt hat: ›Vive l’Empereur‹. Aber gehört habe ich das noch nie. Und auch nicht wirklich kapiert.«
»Vielleicht finden die, die Spitze eines Pimmels sehe aus wie der Kopf von Napoleon.«
»Deiner vielleicht.«
»Oder dieser Hut, den er auf Karikaturen immer trägt.«
»Ich hasse das Wort ›Pimmel‹. Noch schlimmer ist das Verb dazu. ›Er pimmelte sie.‹ Kotz.«
»Die Liebe .«
»…«
»…«
»…«
»Gut. Es freut mich, dass ihr mir jetzt zuhört. Darüber reden wir nicht. Über die Liebe.«
»Brr. Halt, alter Junge. Wir wollen hier nicht die Pferde scheu machen.«
»Als Ausländer vom Dienst wird Larry mir recht geben.«
»Als ich zum ersten Mal rüberkam, da fiel mir vor allem auf, dass ihr immerzu Witze macht und ständig ›cunt‹ sagt.«
»Meinst du jetzt ›cunt‹ im ursprünglichen Sinn von ›weibliches Geschlechtsteil‹ oder im Sinne von ›Arschloch‹ oder ›Sau‹? Und willst du mir damit sagen, ihr Amerikaner verwendet dieses Wort nicht?«
»Jedenfalls nicht in Anwesenheit von Frauen.«
»Wie merkwürdig. Und in Anbetracht seiner ursprünglichen Bedeutung nicht ohne Ironie.«
»Vielen Dank, Larry, genau das meine ich doch. Statt ernsthaft zu sein, machen wir Witze, und statt über die Liebe zu reden, reden wir über Sex.«
»Ich finde, Witze sind eine gute Möglichkeit, ernsthaft zu sein. Oft die beste.«
»So was kann nur ein Engländer denken oder sagen.«
»Soll ich mich jetzt dafür entschuldigen, Engländer zu sein, oder wie oder was?«
»Deswegen brauchst du doch nicht gleich auf die Barrikaden zu steigen.«
»Höre ich hier das Wort ›cunt‹ mitschwingen?«
»Männer reden über Sex, Frauen reden über Liebe.«
»Quatsch mit Soße.«
»Warum hat dann in den letzten Minuten keine Frau ein Wort gesagt?«
»Ich frage mich schon die ganze Zeit, ob die Größe der Hände einer Frau etwas darüber aussagt, wie heftig sie sie einsetzen muss, wenn sie mit ihrem Mann im Bett ist.«
»Dick, halt dein verficktes Maul.«
»Jungs. Pssst. Die Nachbarn. So spät in der Nacht hört man Stimmen sehr viel besser.«
»Joanna, was findest du denn?«
»Wieso ich?«
»Weil ich dich gefragt habe.«
»Also gut. Ich glaube nicht, dass es je eine Zeit gegeben hat – jedenfalls nicht, seit ich auf der Welt bin –, in der Männer und Frauen rumgesessen und über die Liebe geredet haben. Es stimmt, dass wir viel häufiger über Sex reden – genauer gesagt: Wir hören viel häufiger zu, wie ihr über Sex redet. Ich glaube auch – und das ist mittlerweile fast schon ein Klischee –: Wenn Frauen wüssten, wie Männer hinter ihrem Rücken über sie reden, fänden sie das wenig erbaulich. Und wenn Männer wüssten, wie Frauen hinter ihrem Rücken über sie –«
»Würden ihre Schwänze schrumpeln.«
»Frauen können ihn vortäuschen, Männer nicht. Das ist nun mal das Gesetz des Dschungels.«
»Beim Gesetz des Dschungels geht es um Vergewaltigung, nicht um vorgetäuschte Orgasmen.«
»Der Mensch ist das einzige Wesen, das über seine Existenz reflektieren, sich seinen Tod vorstellen und Orgasmen vortäuschen kann. Wir sind nicht umsonst Gottes auserwählte Geschöpfe.«
»Ein Mann kann einen Orgasmus vortäuschen.«
»Wirklich? Und wärst du gegebenenfalls bereit, uns in dieses Geheimnis einzuweihen?«
»Als Frau kannst du nicht unbedingt wissen, ob ein Mann gekommen ist. Von dem her, was du innerlich spürst, meine ich.«
»Da haben wir schon wieder eine Hände-unter-den-Tisch-Situation.«
»Jedenfalls kann kein Mann eine Erektion vortäuschen.«
»Ein Schwanz lügt nie.«
»Vor den Vätern sterben die Söhne.«
»Was hat das damit zu tun?«
»Ach, beides hört sich nach einem Buchtitel an. Aber nur eines ist einer.«
»In Tat und Wahrheit kann ein Schwanz sehr wohl lügen.«
»Wollen wir das so genau wissen?«
»Premierenfieber zum Beispiel. Du möchtest zwar, aber der Schwanz lässt dich im Stich. Er lügt.«
»Die Liebe.«
»Eine alte Freundin von uns, eine New Yorkerin, arbeitete jahrelang als Anwältin. Dann beschloss sie, etwas anderes zu tun und auf eine Filmschule zu gehen. Da war sie in den Fünfzigern. Sie fand sich also unter lauter Kids wieder, die dreißig Jahre jünger waren als sie. Denen hat sie jeweils zugehört, und manchmal haben sie sich ihr auch anvertraut, und wisst ihr, zu welchem Schluss sie gekommen ist? Dass die völlig unbekümmert miteinander ins Bett stiegen, aber furchtbar Angst davor hatten, jemandem nahezukommen oder dass ihnen jemand nahekäme.«
»Und damit willst du sagen …«
»Sie hatten Angst vor der Liebe. Davor, von jemandem abhängig zu werden. Oder dass jemand von ihnen abhängig werden könnte. Oder vor beidem.«
»Angst davor, verletzt zu werden.«
»Wohl eher Angst vor allem, was ihre Karriere behindern könnte. In New York …«
»Mag sein. Ich glaube jedoch, dass Sue recht hat. Es geht um die Angst davor, verletzt zu werden.«
»Das letzte Mal oder das vorletzte hat jemand die Frage aufgeworfen, ob es Herzkrebs gibt. Natürlich gibt es den. Man nennt es Liebe.«
»Höre ich da ferne Buschtrommeln und Affenrufe?«
»Na, dann kann man deinem Gespons nur kondolieren.«
»Hört bitte mal mit dem ständigen Gewitzel auf. Denkt nicht daran, mit wem ihr verheiratet seid oder neben wem ihr sitzt. Denkt lieber mal daran, wie es in eurem Leben mit der Liebe gelaufen ist und im Leben anderer Leute.«
»Und?«
»Lauter Verletzungen.«
»Na und? Nur wenn es wehtut, wirkt es. Was mich nicht umbringt, macht mich stärker. Ohne Fleiß kein Preis. Und was der Sprüche mehr sind.«
»Ich habe oft erlebt, dass etwas wehgetan hat, ohne dass dabei etwas Positives herausgekommen wäre. Das ist sogar die Regel. Dass mich das, was mich nicht umbringt, stärker macht, halte ich für Schwachsinn. Schmerz schwächt. Leid adelt nicht, sondern schadet der Persönlichkeit.«
»Auch ich leide, denn das letzte Mal habe ich euch auf ausgesprochen diskrete Weise von diesem Set zur Untersuchung von Arschkrebs zu erzählen versucht …«
»Die du am Valentinstag vorgenommen hast …«
»Und kein Schwein hier ist so freundlich gewesen, mich zu fragen, was dabei herausgekommen ist.«
»Dick, was ist dabei herausgekommen?«
»Ich habe einen Brief erhalten von jemandem mit einer unlesbaren Unterschrift, dessen Berufsbezeichnung, ob ihr’s glaubt oder nicht, Knotenpunkt-Direktor lautete.«
»Das wollen wir jetzt nicht genauer erforschen.«
»Und er schrieb mir, mein Ergebnis sei normal.«
»Aha!«
»Toll, Dick.«
»Doch, hieß es im nächsten Abschnitt, und ich zitiere aus dem Gedächtnis – wie sonst könnte ich zitieren? –, doch kein Untersuchungsergebnis sei absolut und zu hundert Prozent verbindlich, weshalb ein normales Untersuchungsergebnis keine Garantie dafür sei, dass man keinen Darmkrebs habe oder eines Tages bekommen könnte.«
»So was kann man ja auch nicht garantieren.«
»Denen geht es nur darum, nicht verklagt zu werden.«
»Heute geht es allen nur darum, nicht verklagt zu werden.«
»Deswegen auch diese Eheverträge – um zum Thema zurückzukehren. Was würdest du sagen, Larry: Ist ein Ehevertrag eher ein Zeichen der Liebe oder der Unsicherheit?«
»Das weiß ich nicht, ich habe noch nie einen unterschrieben. Doch ich vermute, in der Regel geht es darum, dass irgendwelche Anwälte das Vermögen einer Familie schützen wollen. Vielleicht hat es gar nichts mit Gefühlen zu tun, sondern nur mit dem, was sich gehört. So wie man ja auch tut, als glaube man den Inhalt des Ehegelübdes.«
»Das habe ich in der Tat geglaubt. Jedes einzelne Wort.«
»›Mit diesem Ring eheliche ich dich, mit meinem Körper vögeliche ich dich‹ – wenn ich mich daran erinnere. Aber oha, Joanna wirft mir eben wieder einen finsteren Blick zu.«
»Herzkrebs, nicht Arschkrebs ist eigentlich unser Thema.«
»Willst du damit sagen, Lieben sei Leiden, Joanna?«
»Nein. Ich muss nur an ein paar Leute denken – Männer, ja, es sind lauter Männer –, die noch nie gelitten haben wegen der Liebe. Die dazu schlicht nicht fähig sind. Die vielmehr ein System der Ausflüchte und der Kontrollen aufgebaut haben, das verhindert, dass ihnen je etwas passiert.«
»Ist das denn nicht vernünftig? Für mich klingt das nach dem emotionalen Pendant zu einem Ehevertrag.«
»Vernünftig, genau das meine ich ja. Manche Männer können das ganze Programm – Sex, Heirat, Vaterschaft, Partnerschaft – absolvieren, ohne je darunter zu leiden. Vielleicht dass sie mal ein bisschen frustriert sind, ihnen etwas peinlich ist, sie langweilt oder ärgert … doch das ist es dann auch schon. Wehtut ihnen allenfalls, wenn eine Frau, die sie zum Abendessen ausführen, sich dafür nicht mit Sex revanchiert.«
»Wer hat da behauptet, Männer seien zynischer als Frauen?«
»Das hat nichts mit Zynismus zu tun. Wir alle kennen ein paar Leute, die so funktionieren.«
»Soll das heißen, nur wer leidet, liebt auch wirklich?«
»Natürlich nicht. Ich will damit nur sagen, nun ja, es ist wie mit der Eifersucht. Es gibt keine Liebe ohne die Möglichkeit von Eifersucht. Wenn du Glück hast, wirst du nie eifersüchtig, aber wenn du dazu gar nicht fähig bist, dann bist du auch nicht verliebt. So ähnlich ist es auch mit den Schmerzen.«
»Dann ist Dick auf seine Art also durchaus beim Thema geblieben.«
»…?«
»Na ja, er hat keinen Arschkrebs, aber die Möglichkeit besteht, dass er Arschkrebs bekommt, jetzt oder in Zukunft.«
»Vielen Dank. Damit bin ich rehabilitiert. Ich wusste doch, dass ich schon weiß, wovon ich rede.«
»Du und der Knotenpunkt-Direktor.«
»Du hast Pete gemeint, nicht wahr?«
»Wer ist Pete? Der Knotenpunkt-Direktor?«
»Nein, Pete, der Mann ohne Schmerzen.«
»Pete ist einer dieser Typen, die zählen. Ihr wisst schon: Wie viele Frauen. Er weiß genau, an welchem Tag er in den zweistelligen Bereich vorgestoßen ist und an welchem er die fünfzigste gehabt hat.«
»Zählen tun wir ja alle.«
»Ach ja?«
»Ich weiß jedenfalls sehr genau, wann ich die Zweite hatte.«
»Bei mir gab es eine Menge Halbe, wenn ihr wisst, was ich meine.«
»Nur zu gut. Und wenn das nichts mit Leiden zu tun hat …«
»Nein, nur Pete würde das als Leiden bezeichnen. Das ist aber nichts als verletzte Eitelkeit. Verletzte Eitelkeit und Angstzustände, die hat er im Repertoire. Aber mehr Leiden ist bei ihm nicht drin.«
»Sehr vernünftig. Was soll an dem Mann nicht gut sein. War er je verheiratet?«
»Zweimal. Beide Male ohne Erfolg.«
»Und?«
»Es war ihm etwas peinlich, er verfiel in Selbstmitleid, einen gewissen Überdruss. Doch mehr war da nicht.«
»Deiner Meinung nach hat der Mann also nie geliebt?«
»Allerdings.«
»Er selbst würde das aber nicht sagen. Er würde sagen, er hat geliebt. Und zwar mehr als einmal.«
»X-mal, würde er wohl sagen.«
»›Ganz schön verlogen.‹«
»Dass ich das gesagt habe, wird man mir wohl mein Leben lang unter die Nase reiben.«
»Vielleicht reicht das ja auch.«
»Was?«
»Zu glauben, man habe geliebt oder man sei verliebt. Ist das nicht genauso gut?«
»Nicht, wenn es nicht stimmt.«
»Moooment, ich habe das ungute Gefühl, da wird jetzt die Sensibilitätskarte ausgespielt: ›Nur wir, die wir gelitten haben, haben wirklich und wahrhaftig geliebt.‹«
»Das habe ich nicht gesagt.«
»Nicht?«
»Glaubst du, Frauen lieben mehr als Männer?«
»›Mehr‹ im Sinne von ›häufiger‹ oder von ›heftiger‹?«
»So was kann nur ein Mann fragen.«
»Tut mir leid, das bin ich nun mal, ein armer Ficker von einem Mann.«
»Nicht nach einem Abendessen bei Phil und Joanna. Das haben wir ja bereits festgestellt.«
»Ach ja?«
»Oh, Gott, du willst jetzt hoffentlich nicht, dass wir alle heimgehen und versuchen, eine Nummer zu schieben, bloß ...«
»›Eine Nummer schieben‹ kann ich auch nicht ab.«
»Ich erinnere mich an so eine amerikanische Fernsehshow, ihr wisst schon, so eine von der Art: Wir lösen deine sexuellen und emotionellen Probleme, indem wir dich einem Studiopublikum präsentieren und zur Schnecke machen, damit das Publikum dann mit dem guten Gefühl nach Hause gehen kann, nicht so zu sein wie du.«
»Das ist ein extrem britischer Vorwurf, um nicht zu sagen: eine Denunziation.«
»Ich bin nun mal Brite. Jedenfalls, da war diese Frau in der Sendung und erzählte, wieso ihre Ehe oder ihre Beziehung nicht funktionierte, und natürlich kam man sehr schnell auf das Thema ›Sex‹, und einer dieser angeblichen Experten, irgend so ein aalglatter Fernsehtherapeut oder was, fragte sie tatsächlich: ›Haben Sie große Orgasmen?‹«
»Krawumm, direkt zum G-Punkt.«
»Worauf sie den Therapeuten anschaute und mit sympathischer Bescheidenheit sagte: ›Also mir kommen sie jedenfalls groß vor.‹«
»Bravo. Gut gegeben.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, wir sollten uns Pete gegenüber nicht so überlegen fühlen.«
»Tut das jemand? Ich jedenfalls nicht. Und wenn er die Fünfzigermarke erreicht hat, ziehe ich meinen Hut.«
»Meinst du, Pete legt so viele Frauen flach, weil er mit ihnen nicht klarkommt?«
»Nein, ich glaube, er langweilt sich einfach schnell.«
»Wer verliebt ist, langweilt sich nicht.«
»Ich glaube, man kann verliebt sein und sich dennoch langweilen.«
»Ich fürchte, da ist wieder so ein Hände-unter-den-Tisch-Moment im Anzug.«
»Hab dich nicht so.«
»Doch, schließlich komme ich hierher, um mich mit eurem köstlichen Essen vollzustopfen und eurem vorzüglichen Wein zu betrinken, und nicht, um mir Daumenschrauben ansetzen zu lassen.«
»Wenn wir dich schon verköstigen, dann musst du auch was einstecken können. Denk daran: ›Wes Brot ich ess, des Lied ich sing.‹«
»Und: ›Wer nie sein Brot im Bette aß, weiß nicht, wie Krümel pieksen.‹«
»Zur Verteidigung dieses Pete, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, möchte ich eines sagen: Vielleicht hat er so heftig geliebt oder war so verliebt, wie ihm das überhaupt möglich ist, und warum sollten wir uns ihm nur deshalb überlegen fühlen?«
»Es gibt Leute, die sich nicht verlieben würden, wenn sie nicht schon mal davon gelesen hätten.«
»Verschon uns wenigstens heute Abend mit deinen Franzosenweisheiten.«
»Können wir unsere Hände jetzt wieder gefahrlos unter dem Tisch hervorholen?«
»Gefahrlosigkeit gibt es nicht. Darum geht es ja.«
»Worum geht es eigentlich, wenn ich fragen darf.«
»Dann fasse ich das mal kurz zusammen, für die, die nicht mitgekommen sind. Also, die Versammelten sind sich einig, dass die Briten das Wort ›cunt‹ viel zu häufig benutzen, dass Männer über Sex reden, weil sie nicht über Liebe reden können, dass Frauen und Franzosen mehr von der Liebe verstehen als Engländer, dass Liebe mit Leiden zu tun hat, und dass jeder Mann, der mehr Frauen als ich gehabt hat, verdammtes Schwein gehabt hat und Frauen nicht wirklich versteht.«
»Glänzend, Dick. Wer jetzt immer noch nicht mitkommt, scheidet aus.«
»›Scheidet aus‹? Wer bist du? Der Knotenpunkt-Direktor?«
»Ach, hört doch auf, Jungs. Das war eine ausgesprochen männliche Zusammenfassung.«
»Möchtest du uns jetzt mit einer weiblichen beglücken?«
»Eher nicht.«
»Willst du damit andeuten, Dinge zusammenzufassen sei eine unangenehm männliche Angewohnheit?«
»Gar nicht mal. Doch könnte in meiner Zusammenfassung erwähnt werden, dass Männer zu passiv aggressivem Verhalten tendieren, wenn sie von Dingen reden, die sie unsicher machen.«
»›Passiv aggressiv‹. Ich hasse dieses Wort oder diesen Ausdruck oder was immer das sein soll. Ich schätze, der wird zu 90 bis 95 Prozent von Frauen verwendet. Ich weiß ehrlich nicht, was der heißt oder heißen soll.«
»Was haben wir denn gesagt, bevor wir ›passiv aggressiv‹ gesagt haben?«
»Wie wäre es mit ›wohlerzogen‹?«
»›Passiv aggressiv‹ bezeichnet einen psychischen Zustand.«
»›Wohlerzogen‹ auch. Und zwar einen durchaus erfreulichen.«
»Glaubt von den Anwesenden denn jemand allen Ernstes, dass – würde nun metaphorischer Portwein aufgetischt und zögen sich die Damen in einen anderen Raum zurück –, dass sie dann über Liebe reden würden und wir über Sex?«
»Als Junge, als ich von Mädchen noch keine Ahnung hatte, habe ich mich auf beides gleich gefreut.«
»Wie, auf Jungen und Mädchen?«
»Arschloch. Nein, auf Liebe und auf Sex.«
»Nicht so laut. Leiser bitte.«
»Gibt es im Bereich des menschlichen Strebens irgendetwas, was dem an Intensität gleichkäme? Der Sehnsucht nach Sex und Liebe, wenn du beides noch nie erlebt hast?«
»Ich erinnere mich nur zu gut daran. Das Leben kam mir völlig … unmöglich vor. Das war echtes Leiden.«
»Und dennoch ist das Ergebnis nicht so schlecht. Wir alle haben Liebe und Sex gehabt, manchmal sogar gleichzeitig.«
»Und jetzt ziehen wir unsere Mäntel an und gehen nach Hause in der Hoffnung auf eines von beidem, und das nächste Mal heißt es dann: Hand hoch, wer noch eine Nummer geschoben hat!«
»Und Kopf hoch für die andern.«
»Interessant, dass Männer auch in fortgeschrittenem Alter Kindsköpfe bleiben, nicht?«
»Gilt das jetzt als passiv aggressiv?«
»Ich kann auch aktiv aggressiv sein, wenn dir das lieber ist.«
»Lass das, Liebling.«
»Wisst ihr was: Das ist so ein Abend, an dem ich nicht als Erster gehen möchte.«
»Dann gehen wir jetzt alle zusammen, und dann können Phil und Joanna uns durchhecheln, während sie aufräumen.«
»Tun wir aber nicht.«
»Nicht?«
»Nein, wir haben ein Ritual. Phil räumt ab, ich räume den Geschirrspüler ein. Wir legen Musik auf. Ich spüle die Dinge, die nicht in den Geschirrspüler kommen, Phil trocknet ab. Durchgehechelt wird niemand.«
»Was für charmante Gastgeber. Ein veritabler Trimalchio und eine wahre Frau Hurtig.«
»Jo will damit sagen: Wir sind dann leergequatscht. Durchhecheln werden wir euch morgen beim Frühstück. Und beim Mittagessen. Und in diesem Fall wahrscheinlich auch beim Abendessen.«
»Du bist ein Schwein, Phil.«
»Ich hoffe, niemand fährt jetzt noch?«
»Das hoffe ich auch. Ich kann auf der Straße keine Konkurrenten brauchen.«
»Willst du wirklich noch fahren?«
»Ich bin doch nicht bescheuert. Wir gehen alle zu Fuß oder nehmen ein Taxi.«
»Mit anderen Worten: Wir werden noch ein Weilchen hier vor dem Haus stehen und euch beide durchhecheln.«
»Natürlich.«
»Aber Zunge mag ich doch gar nicht.«
Nachdem er die Haustür geschlossen hatte, legte Phil eine CD von Madeleine Peyroux auf, küsste seine Frau im Bereich des Schürzenbändels auf den Nacken, ging hoch ins dunkle Schlafzimmer, näherte sich vorsichtig dem Fenster, sah die anderen draußen auf dem Gehsteig stehen und schaute ihnen zu, bis sie sich zerstreuten.