Unbefugtes Betreten
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Nach der Trennung von Cath spielte er mit dem Gedanken, dem Wanderverein beizutreten, doch das kam ihm dann zu absehbar traurig vor. Er konnte sich die Gespräche vorstellen:
»Tag, Geoff. Tut mir leid wegen Cath und dir. Wie geht’s dir denn?«
»Oh, gut, danke. Ich bin jetzt im Wanderverein.«
»Gut gemacht.«
Er sah auch den Rest vor sich: Das Vereinsblatt erhalten, die »Einladung an alle« studieren – »Sa 12., 10:30 Uhr, Parkplatz SO Methodistenkirche« –, am Vorabend die Schuhe putzen, ein zusätzliches Sandwich machen – wer weiß –, vielleicht auch noch eine zusätzliche Mandarine einstecken und dann (all seinen Warnungen an sich selbst zum Trotz) mit hoffnungsvollem Herzen zum Parkplatz fahren. Einem hoffnungsvollen Herzen, das verletzt zu werden erwartete. Dann hieße es, die Wanderung überstehen, sich fröhlich verabschieden, nach Hause gehen und zu Abend das übrig gebliebene Sandwich und die Mandarine essen. Das wäre wirklich traurig.
Wandern ging er freilich weiterhin. An fast jedem Wochenende, bei fast jedem Wetter ging er hinaus mit seinen Wanderschuhen, dem Rucksack, der Wasserflasche und der Karte. Er mied auch nicht die Wanderungen, die er mit Cath gemacht hatte. Schließlich waren das nicht »ihre« Wanderungen; und wenn, konnte er sie sich nicht wieder zu eigen machen, indem er sie alleine unternahm? Sie gehörte nicht Cath, die Rundwanderung von Calver aus: den Derwent entlang, durch Froggatt Woods nach Grindleford, vielleicht mit einem Abstecher zum Mittagessen im Grouse Inn, dann vorbei am Steinkreis aus dem Bronzezeitalter, der in den Sommermonaten im Adlerfarn verschwand, zur grandiosen Überraschung des Curbar Edge. Die gehörte nicht ihr; die gehörte niemandem.
Danach trug er in sein Wanderbuch ein: »2 Std. 45 Min.«. Mit Cath hatte sie jeweils 3 Std. 30 Min. gedauert sowie zusätzliche 30 Min., wenn sie im Grouse noch ein Sandwich gegessen hatten. Das gehörte zum Singledasein: Man sparte Zeit. Man wanderte schneller, man kam schneller nach Hause, trank sein Bier schneller, aß schneller zu Abend. Der Sex, den man mit sich allein hatte, war auch schneller. Man sparte so viel Zeit, überlegte Geoff, Zeit zum Einsamsein. Aufhören, sagte sich Geoff: Du darfst kein Trauerkloß werden; du darfst nur traurig sein.
»Ich hatte geglaubt, wir würden heiraten.«
»Drum tun wir’s nicht«, hatte Cath geantwortet.
»Das versteh ich nicht.«
»Eben.«
»Erklär’s mir bitte.«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Eben darum. Wenn du das nicht siehst, wenn ich das erklären muss – das ist der Grund, warum wir nicht heiraten.«
»Das ist kein logischer Schluss.«
»Nein, es ist nur Schluss.«
Vergiss es, vergiss es, das ist vorbei. Einerseits überließ sie dir gern die Entscheidungen; andererseits warf sie dir Kontrollwahn vor. Einerseits lebte sie gern mit dir zusammen; andererseits wollte sie nicht mehr mit dir zusammenleben. Einerseits wusste sie, dass du ein guter Vater wärst; andererseits wollte sie keine Kinder von dir. Wo blieb da die Logik? Vergiss es.
»Hallo.« Er war über sich selbst erstaunt. Er begrüßte keine unbekannten Frauen beim Anstehen fürs Mittagessen. Unbekannte Frauen begrüßte er nur auf Wanderwegen, wo ihm mit einem Nicken, Lächeln oder Heben des Trekkingstocks geantwortet wurde. Doch sie war ihm bekannt.
»Sie sind aus der Bank.«
»Stimmt.«
»Lynn.«
»Sehr gut.«
Fast schon genial, dass ihm ihr Namensschild hinter dem Panzerglas eingefallen war. Außerdem hatte sie auch die vegetarische Lasagne. Durfte er …? Gern. Es war nur noch ein Tisch frei. Irgendwie war es einfach. Er wusste, dass sie in der Bank arbeitete; sie wusste, dass er an der Schule unterrichtete. Sie war vor ein paar Monaten in die Stadt gezogen, und, nein, sie war noch nie auf dem Hügel oben gewesen. Ob das mit Turnschuhen ginge?
Am folgenden Samstag trug sie Jeans und einen Pullover; sie wirkte teils amüsiert, teils erschrocken, als er seine Wanderschuhe und den Rucksack aus dem Kofferraum holte und seine scharlachrote Goretex-Jacke mit dem Mesh-Futter anzog.
»Sie brauchen Wasser.«
»Ach ja?«
»Es sei denn, Sie wollen aus meiner Flasche trinken.«
Sie nickte; sie gingen los. Während sie von der Stadt aus bergauf gingen, weitete sich der Ausblick, und sie sahen ihre Bank ebenso wie seine Schule. Er ließ sie das Tempo bestimmen. Sie ging leicht. Er wollte sie fragen, wie alt sie sei, ob sie trainiere. Er wollte ihr sagen, sie sehe größer aus, als wenn sie hinter der Scheibe sitze. Stattdessen wies er auf die Überreste eines ehemaligen Schieferbruchs hin und auf die seltene Rasse von Schafen – hießen die Jacobs? –, die Jim Henderson züchtete für Leute im Süden, die Lamm wollten, das nicht nach Lamm schmeckte, und bereit waren, den entsprechenden Preis zu zahlen.
Auf halber Höhe begann es zu nieseln, und er machte sich Sorgen wegen ihrer Turnschuhe auf dem nassen Schiefer in Gipfelnähe. Er hielt an, öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und gab ihr seine zweite Regenjacke. Sie reagierte, als fände sie es normal, dass er eine dabei hatte. Das gefiel ihm. Sie fragte nicht, wem sie gehöre, wer sie hinterlassen habe.
Er reichte ihr die Wasserflasche. Sie trank und wischte den Rand ab.
»Was haben Sie denn noch da drin?«
»Sandwiches und Mandarinen. Oder möchten Sie umkehren?«
»Immerhin keine dieser grauenvollen Plastikhosen.«
»Nein.«
Natürlich hatte er welche. Und nicht nur für sich, sondern er hatte für sie auch noch eine von Cath mitgebracht. Etwas in ihm, etwas Dreistes und Schüchternes zugleich, wollte sagen: »Ich trage North-Cape-Coolmax-Boxershorts mit Ein-Knopf-Schlitz.«
Sowie sie miteinander zu schlafen begonnen hatten, nahm er sie mit ins Great Outdoors.
Sie besorgten ihr Schuhe – ein Paar Brasher Supalites –, und als sie mit den Schuhen an den Füßen aufstand, versuchsweise bis zum Spiegel und zurück ging, dann einen kleinen Steptanz hinlegte, dachte er bei sich, wie unglaublich sexy kleine Frauenfüße in Wanderschuhen aussahen. Sie besorgten ihr drei Paar ergonomische Trekkingsocken, die dafür entwickelt worden waren, Druckspitzen zu absorbieren, und ihre Augen weiteten sich angesichts der Tatsache, dass es wie bei Schuhen linke und rechte Socken gab. Dann auch drei Paar Unterziehsocken. Sie wählten einen Tagesrucksack oder Tagessack, wie der scharfe Verkäufer sich auszudrücken beliebte, der es für Geoffs Gefühl eindeutig zu bunt trieb. Er hatte Lynn gezeigt, wo der Hüftgurt durchgehen, wie sie die Schulterriemen anziehen und die Brustriemen justieren sollte; jetzt tätschelte er den Sack und spielte auf viel zu intime Weise daran herum.
»Und eine Wasserflasche«, sagte Geoff entschlossen, um all dem ein Ende zu machen.
Sie besorgten ihr eine wasserdichte Jacke, deren Dunkelgrün ihr flammend rotes Haar hervorhob; dann wartete er ab, bis Herr Scharf eine wasserdichte Hose vorschlug und dafür verlacht wurde. An der Kasse zückte Geoff seine Kreditkarte.
»Das darfst du nicht.«
»Ich möchte aber. Ich möchte wirklich.«
»Wieso denn?«
»Ich möchte einfach. Du hast bestimmt bald Geburtstag. Jedenfalls irgendwann in den nächsten zwölf Monaten. Oder nicht?«
»Danke«, sagte Lynn, aber er spürte, dass es sie etwas irritierte. »Packst du sie zu meinem Geburtstag dann noch einmal ein?«
»Mehr als das: Ich putze dann auch noch deine Brashers besonders gründlich. Ach ja«, sagte er zur Kassiererin, »Schuhcreme brauchen wir auch noch. Classic Brown, bitte.«
Bevor sie das nächste Mal wandern gingen, massierte er ihre Schuhe mit Lederfett ein, damit sie weicher wurden und das Wasser besser abstießen. Als seine Hand in die neu riechenden Brashers glitt, stellte er wie schon im Laden fest, dass ihre Schuhgröße eine halbe Nummer kleiner war als die von Cath. Eine halbe Nummer? Ihm kam es wie eine ganze Nummer vor.
Sie machten Hathersage und Padley Chapel; Calke Abbey und Staunton Harold; Dove Dale, das, wo es sich verengt und steiler abfällt, zu Milldale wird; Lathkill Dale von Alport bis Ricklow Quarry; Cromford Canal und den High Peak Trail. Sie erklommen von Hope aus den Lose Hill, dann gingen sie über den Grat, von dem er ihr die schönste Aussicht im ganzen Peak District versprochen hatte, bis zum Mam Tor, wo sich die Gleitschirmflieger versammelten: Hünen, die mit riesigen Rucksäcken den Hügel heraufgeschwitzt kamen, dann auf dem Grashang ihre Baldachine wie Wäsche auslegten und darauf warteten, dass die Aufwärtsströmung sie vom Boden himmelwärts heben würde.
»Wie aufregend«, sagte sie: »Möchtest du das nicht auch mal machen?«
Geoff fielen Männer ein, die mit gebrochenen Rücken in Krankenhäusern lagen, Paraplegiker und Tetraplegiker. Ihm fielen Kollisionen mit Kleinflugzeugen ein. Ihm fiel ein, wie es wäre, den Wind nicht in den Griff zu bekommen, immer höher hinaufgetragen zu werden bis zu den Wolken, herunterzukommen in einer unbekannten Landschaft, sich zu verlaufen, Angst zu bekommen und in die Hose zu machen. Wie es wäre, nicht mit beiden Schuhen auf einem Weg zu stehen, eine Wanderkarte in der Hand.
»Geht so«, antwortete er.
Für ihn hatte Freiheit mit dem Boden zu tun. Er erzählte ihr vom unbefugten Betreten des Hochplateaus namens Kinder Scout in den 1930er-Jahren: Wie Spaziergänger und Wanderer aus Manchester zu Hunderten ins Moorhuhnjagdrevier des Duke of Devonshire geströmt waren, um dagegen zu protestieren, dass ein so kleiner Teil der Landschaften öffentlich zugänglich war; was für ein friedlicher Tag es gewesen war, abgesehen von dem betrunkenen Wildhüter, der sich mit dem eigenen Gewehr erschossen hatte; wie dieses unbefugte Betreten des Geheges dazu geführt hatte, dass Nationalparks geschaffen und Wegerechte festgeschrieben wurden; dass der Anführer des Ganzen vor Kurzem gestorben war, es aber immer noch ein paar Überlebende gab, deren einer mittlerweile 103 war und in einem methodistischen Altersheim in der Nähe wohnte. Geoff fand diese Geschichte viel aufregender als irgendwelches Gleitschirmgeflatter.
»Die sind dem einfach über sein Land gestampft?«
»Nicht gestampft. Gestapft wohl eher.« Geoff gefiel seine Berichtigung.
»Es war aber sein Land?«
»Technisch ja, historisch vielleicht nicht.«
»Bist du Sozialist?«
»Ich bin für das Recht, frei herumzuschweifen«, sagte er vorsichtig. Bloß keinen Fehltritt riskieren.
»Schon gut. Mir ist egal, was du bist.«
»Was bist du denn?«
»Ich gehe nicht wählen.«
Ermutigt sagte er: »Ich wähle Labour.«
»Das dacht’ ich mir.«
In seinem Wanderbuch trug er die Routen ein, die Daten, das Wetter, die Dauer und am Schluss ein rotes »L« für »Lynn«. Im Gegensatz zum blauen »C« für »Cath«. Die Zeiten blieben sich unabhängig von den Initialen ungefähr gleich.
Sollte er ihr einen Trekkingstock kaufen? Er wollte den Bogen nicht überspannen: Einen Wanderhut hatte sie kategorisch abgelehnt, obschon ihr alle Vorzüge und Nachteile dargelegt worden waren. Nicht dass es Nachteile gegeben hätte. Aber immer noch besser ein unbedeckter Kopf als eine Baseballkappe. Wanderer mit Baseballkappen konnte er einfach nicht ernst nehmen, weder Wanderer noch Wanderinnen.
Er könnte ihr einen Kompass kaufen. Allerdings hatte er selbst einen und benutzte ihn kaum. Sollte er sich je den Knöchel brechen und ihr von Schmerzen gebeutelt erklären müssen, wie sie über das Moor marschieren solle, indem sie jene baufällige Schafhürde als Bezugspunkt nähme und dann immer in Richtung NNO ginge – wobei er ihr zeigte, wie sie am Instrument drehen und die Richtung festlegen müsste –, dann könnte sie zu diesem Zweck ja seinen borgen. Ein Kompass für zwei – das war irgendwie richtig. Symbolisch, könnte man sagen.
Sie machten die Kinder-Downfall-Rundwanderung: Parkplatz Bowden Bridge, das Reservoir, dann auf dem Pennine Way zum Downfall, bei Red Brook rechts abbiegen und hinab am Tunstead House vorbei und den Kinder-Stones. Er erzählte ihr von der durchschnittlichen Niederschlagsmenge und dass bei Temperaturen unter null der Downfall zu einer Kaskade von Eiszapfen gefror. Da lachte dem Winterwanderer das Herz im Leib.
Sie antwortete nicht. Aber sie würden ihr ja sowieso zuerst eine Fleecejacke besorgen müssen, wenn sie im Winter auf 600 Meter gehen wollten. Zum Glück hatte er noch die Ausgabe von Country Walking mit dem Fleece-Test drin.
Auf dem Parkplatz blickte er auf die Uhr.
»Sind wir zu spät für etwas?«
»Nein, ich habe nur nachgerechnet. Vier ein Viertel.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Gut, weil ich mit dir zusammen bin.«
Gut auch, weil Cath und er jeweils auch vier ein Viertel gebraucht hatten, und egal, was man sonst über Cath sagen mochte: Sie war eine fitte Wanderin.
Lynn zündete sich eine Silk Cut an, wie sie das nach jeder Wanderung tat. Sie rauchte nicht viel, und es störte ihn nicht wirklich, auch wenn er es für eine blöde Angewohnheit hielt. Wo sie doch gerade ihr Herz-Kreislauf-System so richtig auf Trab gebracht hatte … Doch als Lehrer wusste er: Mal war es richtig, etwas frontal anzugehen, mal besser, einen Umweg zu nehmen.
»Wir könnten nach Weihnachten wieder da hoch. Im neuen Jahr.« Ja, dann könnte er ihr die Fleecejacke schenken.
Sie blickte ihn an und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
»Falls es kalt genug ist: für die Eiszapfen.«
»Geoff«, sagte sie, »du kommst mir ins Gehege.«
»Ich wollte nur –«
»Du kommst mir ins Gehege.«
»Ja, Miss Duke of Devonshire.«
Das fand sie jedoch nicht witzig, und auf der Rückfahrt schwiegen sie die meiste Zeit. Vielleicht hatte er ihr ein bisschen viel zugemutet. War ja schon anstrengend, so eine Höhendifferenz von 300 Metern oder mehr.
Er hatte die Pizzen in den Ofen geschoben, den Tisch gedeckt und riss gerade seine erste Bierdose auf, als sie sagte: »Hör mal, was haben wir jetzt? Juni. Wir haben uns kennengelernt im – Februar?«
»Januar, am neunundzwanzigsten«, korrigierte er automatisch, wie wenn einer seiner Schüler 1079 für das Datum der Schlacht von Hastings hielt.
»Januar, am neunundzwanzigsten«, wiederholte sie: »Hör mal, ich glaube nicht, dass ich Weihnachten packe.«
»Selbstverständlich. Familie und so.«
»Nein, es geht nicht um meine Familie. Obschon ich eine Familie habe. Es geht darum, dass ich Weihnachten nicht packe.«
Wenn Geoff sich mit diesem Phänomen konfrontiert sah, das er – auch wenn er prinzipiell vom Gegenteil überzeugt war – nur als krasses Beispiel für weibliche Unlogik empfinden konnte, tendierte er zum Verstummen. Eben warst du noch diesen Weg lang getrabt, hattest das Gewicht auf deinen Schultern kaum bemerkt, und plötzlich warst du mitten in Gestrüpp, ohne Pfad, ohne Wegmarken, Nebel breitete sich aus, und der Boden unter den Füßen wurde morastig.
Als sie nicht weitermachte, versuchte er ihr zu helfen. »Ich mag Weihnachten auch nicht so besonders. Dieses Gefresse und Gesaufe. Aber –«
»Wer weiß, wo ich an Weihnachten sein werde.«
»Wie? Glaubst du, die Bank könnte dich versetzen?« Das hatte er sich noch nie überlegt.
»Hör zu, Geoff. Wir haben uns im Januar kennengelernt, wie du deutlich gemacht hast. Wir haben es … gut. Ich fühle mich wohl, so weit wohl …«
»Alles klar. Genau.« Das war es wieder. Das, was er einfach nicht besser in den Griff bekam. »Das heißt, nein, natürlich nicht. Ich wollte damit nicht … Ich stell beim Ofen mal eben die Unterhitze höher. Damit der Boden knusprig …« Er nahm einen Schluck Bier.
»Das Einzige –«
»Sag’s nicht. Ich weiß. Ich versteh, was du meinst.« Er wollte noch ein »Miss Duke of Devonshire« dranhängen, ließ es bleiben, und als er später darüber nachdachte, sagte er sich, dass das es wohl auch nicht besser gemacht hätte.
Im September überredete er sie dazu, einen Tag frei zu nehmen, damit sie die Rundwanderung von Calver aus machen könnten. Die unternahm man besser nicht am Wochenende, wenn alle Wanderer und Felsenkletterer auf dem Curbar Edge herumkraxelten.
Sie parkten in der Sackgasse beim Bridge Inn, dann gingen sie los und kamen auf der anderen Seite des Derwent an der Calver Mill vorbei.
»Die soll Richard Arkwright gebaut haben«, sagte er, »1785, glaube ich.«
»Das ist jetzt keine Mühle mehr.«
»Wie man sieht, nein. Büros. Vielleicht Wohnungen. Oder beides.«
Sie gingen den Fluss entlang, vorbei am tosenden Wehr, durch Froggatt und dann durch Froggatt Wood nach Grindleford. Als sie aus dem Wald kamen, war Geoff, auch wenn die Herbstsonne schwach war, froh um seinen Hut. Lynn weigerte sich nach wie vor, einen zu kaufen, und Geoff würde das Thema wohl bis Frühling nicht mehr anschneiden. Sie war braun geworden während der Sommermonate, und ihre Sommersprossen waren jetzt deutlicher als damals, als er sie kennengelernt hatte.
Von Grindleford ging es steil den Berg hoch, was sie ohne Murren hinnahm; dann schritt er über ein Feld voran zum Grouse Inn. Sie setzten sich für ein Sandwich an die Bar. Danach fragte der Barmann: »Kaffee?« Sie sagte Ja, er sagte Nein. Er hielt nichts von Kaffee beim Wandern. Bloß Wasser gegen die Dehydrierung. Kaffee war ein Stimulans, und dabei lief doch die ganze Theorie darauf hinaus, dass das Wandern selbst so anregend war, dass es keiner Hilfsmittel bedurfte. Alkohol: Blödsinn. Ihm waren sogar schon Wanderer untergekommen, die Joints geraucht hatten.
Er sagte ihr dies und das dazu, was vielleicht ein Fehler war, denn sie sagte: »Ich trinke nur einen Kaffee, stimmt’s?« – und dann zündete sie sich eine Silk Cut an. Wartete diesmal nicht das Ende der Wanderung ab. Sie blickte ihn an.
»Ja?«
»Ich habe nichts gesagt.«
»Ist auch nicht nötig.«
Geoff seufzte. »Ich habe ganz vergessen, auf den Wegweiser hinzuweisen, als wir nach Grindleford kamen. Der ist eine Antiquität. Fast hundert Jahre alt. Davon gibt es nicht mehr viele im Peak District.«
Sie blies ihm Rauch entgegen, absichtlich, wie es schien.
»Übrigens, genau, habe ich irgendwo gelesen, dass Zigaretten mit wenig Teer genauso ungesund sind, weil man tiefer inhaliert, um genug Nikotin zu bekommen, sodass man letztlich mehr Giftstoffe in die Lunge aufnimmt.«
»Dann könnte ich ja wieder Marlboro Lights rauchen.«
Sie gingen ein Stück zurück bis zum Wanderweg, überquerten eine Straße und bogen beim Wegweiser zum Eastern Moors Estate links ab.
»Ist hier irgendwo der Steinkreis aus dem Bronzezeitalter?«
»Kann sein.«
»Was soll das heißen?«
Die Frage war berechtigt. Aber es hatte nun mal keinen Sinn, sich zu verleugnen, nicht wahr? Er war 31, er hatte eigene Ansichten, und er wusste so einiges.
»Der Steinkreis kommt jetzt dann auf der linken Seite. Aber ich finde, den sollten wir uns ein andermal anschauen.«
»Ein andermal?«
»Jetzt steht er mitten im Adlerfarn.«
»Du meinst, man sieht dann zu wenig.«
»Nein, nicht deswegen. Das heißt, man sieht ihn in anderen Jahreszeiten tatsächlich besser. Es geht mir um was anderes: Von August bis Oktober ist es nicht ratsam, durch Adlerfarn zu gehen. Oder auch nur in Windrichtung davon.«
»Du erklärst mir jetzt gleich, warum, nicht wahr?«
»Na ja, jetzt, wo du fragst. Also: Wenn du zehn Minuten lang durch Adlerfarn gehst, atmest du bis zu 50 000 Sporen ein. Die sind zu groß für die Lunge, also kommen sie in den Magen. Tests haben gezeigt, dass sie bei Tieren Krebs erregen.«
»Was ein Glück, dass Kühe nicht auch noch rauchen.«
»Außerdem gibt es Zecken, die Lymeborreliose übertragen, die –«
»Und deshalb?«
»Und deshalb musst du, wenn du durch Adlerfarn gehst, die Hosenbeine in die Socken stopfen, darfst die Ärmel ja nicht hochkrempeln und musst eine Gesichtsmaske tragen.«
»Eine Gesichtsmaske?«
»Es gibt eine von Respro.« Sie hatte gefragt, und wer fragte, bekam eine entsprechende Antwort verpasst. »Das sogenannte Banditentuch von Respro.«
Als sie sicher war, dass er fertig war, sagte sie: »Danke. Jetzt leih mir dein Taschentuch.«
Sie stopfte ihre Hosenbeine in die Socken, rollte ihre hochgekrempelten Ärmel hinunter, band sich sein Taschentuch wie ein Bandit vors Gesicht und stapfte in den Adlerfarn. Er wartete auf der windabgewandten Seite. Was man auch noch tun konnte: Bug Proof auf die Hose und die Socken sprühen. Das war ein Kontaktgift, das die Zecken tötete. Persönlich ausprobiert hatte er es nicht. Noch nicht.
Nachdem sie zurückgekommen war, gingen sie schweigend über den Sandsteingrat, der entweder Froggatt Edge oder Curbar Edge oder beides hieß, das war ihm im Moment egal. Der Grasboden hier oben war federnd und wuchs direkt bis zum Rand, von wo es wohl mehr als hundert Meter abwärts ging. Das war jedes Mal wieder eine Überraschung: Ohne das Gefühl zu haben, heftig geklettert zu sein, fand man sich plötzlich erstaunlich hoch oben wieder, Kilometer über dem sonnenbeschienenen Tal mit seinen winzigen Dörfern. Man brauchte nicht mit einem verdammten Gleitschirm herumzugondeln, um so eine Aussicht zu genießen. Hier in der Gegend hatte es Steinbrüche gegeben, aus denen viele Mühlsteine des Landes stammten. Doch das sagte er ihr nicht.
Er liebte diese Stelle. Als er das erste Mal hergekommen war, hatte er ins Tal hinuntergeschaut, meilenweit kein Mensch zu sehen, als plötzlich zu seinen Füßen ein Gesicht mit einem Helm aufgetaucht war und aus dem Nichts ein bärtiger Bergsteiger sich aufs Gras hochgehievt hatte. Das Leben steckte einfach voller Überraschungen, nicht wahr? Bergsteiger, Höhlenforscher, Gleitschirmflieger. Die Leute glaubten, in der Luft sei man frei wie ein Vogel. Von wegen. Auch dort gab es Regeln, wie überall. Lynn stand jetzt seiner Ansicht nach zu nah am Abgrund.
Geoff sagte nichts. Er spürte auch nichts. Verwundert war er schon, aber das würde sich legen. Er ging wieder los, ohne sich darum zu kümmern, ob sie ihm folgte oder nicht. Noch weitere 800 Meter auf dieser Höhe, dann ein recht steiler Abstieg zurück nach Calver. Er machte sich gerade Gedanken über die Arbeit der kommenden Woche, als er sie schreien hörte.
Er rannte zurück, sein Rucksack hüpfte, und in seiner Flasche gluckste das Wasser.
»Herrgott, bist du okay? Ist es der Fuß? Ich hätte dich warnen sollen vor den Kaninchenbauen.«
Doch sie sah ihn nur an, ausdruckslos. Schock, wahrscheinlich.
»Bist du verletzt?«
»Nein.«
»Hast du den Knöchel verstaucht?«
»Nein.«
Er sah auf ihre Brasher Supalites hinab: Adlerfarn hatte sich in den Ösen verfangen, und dass er sie am Morgen noch poliert hatte, war nicht mehr zu sehen. »Entschuldige – das versteh ich nicht.«
»Was?«
»Warum du geschrien hast.«
»Weil mir danach war.«
Ah, da fehlten mal wieder die Wegmarken. »Und … warum war dir danach?«
»Einfach so.«
Nein, das hatte er falsch gehört oder missverstanden oder was. »Hör zu, es tut mir leid, vielleicht habe ich dir eine zu harte Wanderung –«
»Mir geht’s gut, hab ich doch gesagt.«
»War es, weil –«
»Ich hab’s dir gesagt: Mir war einfach danach.«
Sie ließen den Gritgrat hinter sich und gingen schweigend hinunter zum Wagen. Als er seine Schnürsenkel löste, zündete sie sich eine Zigarette an. Pardon, aber dieser Sache musste er auf den Grund gehen.
»Hatte das etwas mit mir zu tun?«
»Nein, es hatte etwas mit mir zu tun. Schließlich bin ich diejenige, die geschrien hat.«
»Ist dir danach, es wieder zu tun? Jetzt zum Beispiel?«
»Wie meinst du das?«
»Ich meine, wenn dir jetzt wieder danach wäre zu schreien, was wäre das für ein Gefühl?«
»Es wäre ein Gefühl, Geoff, als sei mir wieder danach zu schreien.«
»Und wann, glaubst du, wirst du das wieder tun?«
Darauf antwortete sie nicht, was keinen von beiden erstaunte. Sie zermalmte die Silk Cut mit ihrem Supalite, begann die Schnürsenkel zu lösen und schnippte Adlerfarnfetzen auf den Asphalt.
»4 Std. inkl. Mittag Grouse«, trug er in seinem Wanderbuch ein. »Wetter gut.« In der hintersten Kolonne trug er ein rotes »L« am Schluss einer ununterbrochenen Vertikalen roter »L« ein. In dieser Nacht legte er sich quer ins Bett. Na dann viel Glück, Alter, dachte er. Während des Frühstücks blätterte er in einer Nummer von Country Walking und füllte dann das Anmeldeformular für den Wanderverein aus. Da stand, man könne entweder per Scheck zahlen oder per Lastschriftverfahren. Das überlegte er eine Weile, dann entschied er sich für das Lastschriftverfahren.