Carcassonne
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Im Sommer 1839 hebt ein Mann ein Teleskop an das Auge und betrachtet die brasilianische Küstenstadt Laguna. Er ist ein ausländischer Guerillaführer, dessen jüngster Erfolg die Kapitulation der kaiserlichen Flotte herbeigeführt hat. Der Freiheitskämpfer steht an Bord des gekaperten Flaggschiffs, eines Schoners namens Itaparica mit Toppsegel und sieben Kanonen, der nun in der Lagune vor Anker liegt, die der Stadt ihren Namen gab. Das Teleskop gewährt den Blick auf einen hügeligen Stadtteil, der allgemein die Barra heißt und einige schlichte, aber malerische Gebäude umfasst. Vor einem dieser Gebäude sitzt eine Frau. Bei ihrem Anblick gibt der Mann, wie er später schreiben wird, »umgehend Befehl, das Boot auslaufen zu lassen, da ich an Land zu gehen wünschte.«
Anita Riberas war achtzehn Jahre alt, ein Mischling portugiesischer und indianischer Abstammung mit dunklem Haar, großen Brüsten, einer »männlichen Haltung und entschlossenen Miene«. Sie muss den Namen des Guerilleros gekannt haben, da er zur Befreiung ihrer Heimatstadt beigetragen hatte. Doch seine Suche nach der jungen Frau und ihrem Haus blieb vergeblich, bis er durch Zufall einen ihm bekannten Ladenbesitzer traf, der ihn auf einen Kaffee hereinbat. Und dort, als habe sie auf ihn gewartet, war sie. »Wir standen beide verzückt und stumm, starrten einander an wie zwei Menschen, die sich nicht zum ersten Mal begegnen und im Gesicht des anderen nach etwas suchen, was die Erinnerung an die vergessene Vergangenheit erleichtern kann.« So drückt er es, viele Jahre später, in seiner Autobiografie aus, in der er auch einen weiteren Grund für das verzückte Schweigen nennt: Er sprach sehr wenig Portugiesisch und sie kein Italienisch. Darum begrüßte er sie schließlich in seiner eigenen Sprache: »Tu devi esser mia« – Du musst die Meine sein. Seine Worte gingen über das Problem unmittelbarer Verständigung hinaus: »Ich hatte ein Band geknüpft, ein Urteil verkündet, das allein der Tod aufheben kann.«
Gibt es eine romantischere Begegnung als diese? Und da Garibaldi einer der letzten romantischen Helden der europäischen Geschichte war, wollen wir uns nicht bei nebensächlichen Details aufhalten. Zum Beispiel muss er leidlich portugiesisch gesprochen haben, schließlich hatte er jahrelang in Brasilien gekämpft; zum Beispiel war Anita trotz ihres jugendlichen Alters keine scheue Jungfer, sondern eine bereits seit mehreren Jahren mit einem einheimischen Schuster verheiratete Frau. Wir wollen auch über das Herz eines Ehemanns und die Ehre einer Familie hinwegsehen und uns nicht weiter fragen, ob Gewalt angewendet wurde oder Geld die Hände wechselte, als Garibaldi einige Abende später an Land kam und Anita mit sich nahm. Stattdessen wollen wir uns einfach darauf einigen, dass dies dem innigen und unmittelbaren Verlangen beider Parteien entsprach, und dass, wo eine eher annähernde Gerichtsbarkeit waltet, Besitz gewöhnlich Recht schafft.
Sie heirateten drei Jahre später in Montevideo, nachdem sie gehört hatten, der Schuster sei vermutlich tot. Dem Historiker G. M. Trevelyan zufolge verbrachten sie »ihre Flitterwochen mit amphibischer Kriegsführung an der Küste und in der Lagune, wo sie aus nächster Nähe gegen einen übermächtigen Feind kämpften«. Zehn Jahre lang war sie, die ebenso gut zu Pferde und ebenso tapfer war wie er, ihm Kampf- und Ehegefährtin; für seine Truppen fungierte sie als Glücksbringerin, Anspornerin und Krankenschwester. Die Geburt von vier Kindern tat ihrer Hingabe an die Sache der Republikaner, erst in Brasilien, dann in Uruguay und schließlich in Europa, keinen Abbruch. An Garibaldis Seite kämpfte sie für die Römische Republik und schlug sich, als diese besiegt war, mit ihm über den Kirchenstaat an die Adriaküste durch. Während der Flucht erkrankte sie auf Leben und Tod. Garibaldi blieb, trotz dringender Bitten, seine Flucht allein fortzusetzen, bei seiner Frau; gemeinsam entgingen sie den österreichischen Weißröcken in den Sümpfen um Ravenna. An ihren letzten Tagen hielt Anita unbeirrt an »der undogmatischen Religion ihres Mannes« fest, was Trevelyan zu einem gewaltigen romantischen Tusch bewegt: »Sie starb an Garibaldis Brust und brauchte darum keinen Priester.«
Vor einigen Jahren kam ich auf einer Buchhändlerkonferenz in Glasgow mit zwei Australierinnen ins Gespräch, einer Schriftstellerin und einer Köchin. Genauer gesagt, ich hörte ihrem Gespräch zu, denn sie erörterten die Wirkung verschiedener Nahrungsmittel auf den Geschmack des männlichen Spermas. »Zimt«, sagte die Schriftstellerin sachkundig. »Nein, nicht nur«, erwiderte die Köchin. »Man braucht Erdbeeren, Brombeeren und Zimt, das ist das Beste.« Dann sagte sie noch, einen Fleischesser könne sie immer erkennen. »Glaub mir, ich kenne mich da aus. Ich habe einmal eine Blindverkostung gemacht.« Unschlüssig, ob ich etwas dazu beitragen sollte, erwähnte ich Spargel. »Ja«, sagte die Köchin. »Der zeigt sich im Urin, aber er zeigt sich auch im Ejakulat.« Wenn ich diesen Meinungsaustausch nicht gleich danach aufgeschrieben hätte, hätte ich ihn womöglich für eine Erinnerung aus einem feuchten Traum gehalten.
Ein Freund von mir ist Psychiater und behauptet, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen dem Interesse am Essen und dem Interesse an Sex. Der wollüstige Schlemmer ist fast schon ein Klischee, während eine Aversion gegen Essen oft mit erotischem Desinteresse einhergeht. Was den normalen mittleren Teil des Spektrums betrifft: Ich kenne Leute, die aufgrund der Kreise, in denen sie sich bewegen, ihr Interesse am Essen übertrieben darstellen; oft geben solche Leute (wiederum aufgrund des Gruppenzwangs) womöglich auch mehr Interesse an Sex vor, als sie tatsächlich haben. Mir fallen auch Gegenbeispiele ein: Paare, bei denen der Appetit auf Essen, Kochen und Mahlzeiten im Restaurant den Appetit auf Sex verdrängt hat und bei denen das Bett nach dem Essen ein Ort der Ruhe statt der Aktivität ist. Doch im Großen und Ganzen würde ich sagen, an der Theorie ist etwas dran.
Die Erwartung eines Erlebnisses beherrscht und verzerrt das eigentliche Erlebnis. In der Spermaverkostung kenne ich mich vielleicht nicht aus, in der Weinverkostung aber sehr wohl. Wenn man ein Glas Wein vorgesetzt bekommt, kann man das nicht unvoreingenommen beurteilen. Zunächst mal mag man das Zeug im Grunde vielleicht gar nicht. Doch selbst wenn man es mag, kommen noch vor dem ersten Schluck viele unterschwellige Komponenten ins Spiel. Welche Farbe der Wein hat, wie er riecht, in was für einem Glas er serviert wird, was er kostet, wer ihn bezahlt, wo man sich befindet, wie man aufgelegt ist, ob man diesen Wein schon einmal getrunken hat oder nicht. Dieses Vorwissen lässt sich einfach nicht ausschließen. Es lässt sich nur durch radikale Maßnahmen umgehen. Wenn man die Augen verbunden und eine Wäscheklammer auf der Nase hat und dann ein Glas Wein gereicht bekommt, kann selbst der größte Weinkenner der Welt nicht die elementarsten Eigenschaften des Weins erkennen. Nicht einmal, ob es ein roter oder ein weißer ist.
Von allen unseren Sinnen hat dieser den breitesten Anwendungsbereich, von einem kurzen Eindruck auf der Zunge bis zur akademisch-ästhetischen Betrachtung eines Gemäldes. Außerdem ist es der Sinn, der uns am genauesten kennzeichnet. Wir mögen ein besserer oder schlechterer Mensch sein, glücklich oder traurig, erfolgreich oder ein Versager, doch was wir – innerhalb dieser breiteren Kategorien – sind, wie wir uns im Unterschied zu unserer genetischen Bestimmung selbst bestimmen, das bezeichnen wir als »Geschmack«. Aber das Wort führt – vielleicht wegen seiner Spannbreite – leicht in die Irre. »Geschmack« kann ruhige Überlegung bedeuten, während uns seine Ableitungen – geschmackvoll, Geschmacksfrage, geschmacklos, Geschmacklosigkeit – in eine Welt feinster Differenzierungen, von Snobismus, gesellschaftlichen Werten und Heimtextilien führen. Wahrer Geschmack, eigentlicher Geschmack ist viel instinktiver und unreflektierter. Er sagt ich, hier, jetzt, dies, du. Er sagt, lasst das Boot herab und rudert mich an Land. Dowell, der Erzähler in Ford Madox Fords Die allertraurigste Geschichte, sagt über Nancy Rufford: »Ich wollte sie einfach heiraten, wie manche Leute nach Carcassonne fahren wollen.« Sich zu verlieben ist der heftigste Ausdruck von Geschmack, den wir kennen.
Und doch stellt die englische Sprache diesen Moment anscheinend nicht sehr gut dar. Wir haben keine Entsprechung für den coup de foudre, den Blitzschlag und Donnerhall der Liebe. Wir reden davon, dass es zwischen einem Paar »gefunkt« hat – aber das ist ein häuslicher und kein kosmischer Vergleich, als sollte das Paar praktisch denken und Schuhe mit Gummisohlen tragen. Wir sprechen von »Liebe auf den ersten Blick«, und die gibt es tatsächlich, sogar in England, aber der Ausdruck klingt nach einer recht höflichen Angelegenheit. Wir sagen, ihre Blicke hätten sich über die wimmelnde Menge in einem Raum hinweg getroffen. Ach, wie gesellig das wieder klingt. Über die wimmelnde Menge in einem Raum hinweg. Über die wimmelnde Menge in einem Hafen hinweg.
Anita Riberas starb in Wirklichkeit nicht »an Garibaldis Brust«, sondern prosaischer und nicht ganz so wie auf einer Lithografie. Sie starb, während der Freiheitskämpfer und drei seiner Anhänger sie, jeder eine Ecke ihrer Matratze haltend, von einem Karren in ein Bauernhaus trugen. Und dennoch sollten wir den Moment mit dem Teleskop und alles, was er zur Folge hatte, feiern. Denn das ist der Moment – der Moment des leidenschaftlich bewegten Geschmacks –, den wir suchen. Nur wenigen von uns steht ein Teleskop und ein Hafen zur Verfügung, und beim Zurückspulen der Erinnerungen entdecken wir vielleicht, dass auch die innigsten und längsten Liebesbeziehungen nur selten mit einer vollständigen Erkenntnis, mit einem in einer fremden Sprache verkündeten »Du musst die Meine sein« beginnen. Der Moment selbst mag sich als etwas anderes tarnen: Bewunderung, Mitleid, Bürokameradschaft, eine gemeinsame Gefahr, ein geteilter Gerechtigkeitssinn. Vielleicht ist der Moment zu erschreckend, um ihm auf der Stelle ins Gesicht zu sehen; daher tut die englische Sprache vielleicht recht daran, gallischen Pomp zu meiden. Ich habe einmal einen lange und glücklich verheirateten Mann gefragt, wo er seine Frau kennengelernt habe. »Auf einer Bürofeier«, antwortete er. Und was war sein erster Eindruck von ihr? »Ich fand sie sehr nett«, antwortete er.
Woher wissen wir dann, dass wir dem Moment leidenschaftlich bewegten Geschmacks trauen können, wie auch immer er sich tarnt? Wir wissen es nicht, auch wenn wir meinen, wir müssten es wissen, denn das ist unser einziger Anhaltspunkt. Eine Freundin von mir sagte einmal: »Du kannst mich in einen Raum voller Menschen führen, und wenn da ein Mann ist, dem das Wort ›Spinner‹ auf die Stirn geschrieben steht, würde ich direkt auf ihn zulaufen.« Ein anderer, zweimal verheirateter Mann gestand: »Ich habe schon daran gedacht, aus meiner Ehe auszubrechen, aber ich treffe immer eine so schlechte Wahl, dass ich nicht sicher sein kann, ob ich es beim nächsten Mal besser hinkriege, und das wäre doch eine sehr deprimierende Erfahrung.« Wer oder was kann uns in dem Moment eine Hilfe sein, wenn sich der stürmische Widerhall erhebt? Auf was vertrauen wir: den Anblick weiblicher Füße in Wanderstiefeln, den ungewohnten Reiz eines ausländischen Akzents, die mangelnde Durchblutung von Fingerspitzen gefolgt von wütender Selbstkritik? Einmal war ich bei einem jungverheirateten Paar zu Besuch, in dessen neuem Haus erstaunlich wenig Möbel standen. »Das Problem ist«, erläuterte die Frau, »dass er überhaupt keinen Geschmack hat und ich nur einen schlechten.« Wer sich eines schlechten Geschmacks bezichtigt, geht vermutlich von der latenten Existenz irgendeines guten Geschmacks aus. Doch bei der Liebeswahl wissen nur wenige von uns, ob sie am Ende in einem Haus ohne Möbel sitzen.
Als ich Teil eines Paares wurde, schaute ich mir die Entwicklung und das Schicksal anderer Paare mit gesteigertem Eigeninteresse an. Ich war damals schon Anfang dreißig, und einige meiner Altersgenossen, die sich zehn Jahre früher zusammengefunden hatten, begannen sich bereits zu trennen. Mir fiel auf, dass die zwei Paare, deren Beziehung anscheinend der Zeit standhielt, deren Partner weiterhin ein fröhliches Interesse aneinander zeigten, jeweils – alle vier – schwule Männer über sechzig waren. Vielleicht war das nur ein statistisches Kuriosum; aber ich fragte mich doch, ob es einen Grund dafür gebe. Lag es daran, dass sie sich die lange Mühsal der Elternschaft erspart hatten, die heterosexuelle Beziehungen häufig zermürbt? Mag sein. War es etwas, was in ihrem Schwulsein begründet lag? Wahrscheinlich nicht, wenn ich mir schwule Paare meiner eigenen Generation ansehe. Ein Merkmal, das diese beiden Paare von den anderen unterschied, war, dass ihre Beziehung über eine lange Zeit und in vielen Ländern verboten gewesen wäre. Es kann gut sein, dass eine unter solchen Bedingungen eingegangene Bindung tiefer ist: Ich lege meine Sicherheit in deine Hände, und das an jedem Tag unseres gemeinsamen Lebens. Vielleicht gibt es einen Vergleich mit der Literatur: Bücher, die unter einem repressiven Regime geschrieben wurden, werden oft höher geschätzt als Bücher, die in einer Gesellschaft geschrieben werden, in der alles erlaubt ist. Nicht, dass Schriftsteller sich deshalb nach Unterdrückung sehnen sollten oder Liebespaare nach einem gesetzlichen Verbot.
»Ich wollte sie einfach heiraten, wie manche Leute nach Carcassonne gehen wollen«. Das erste Paar, T und H, lernte sich in den 1930er-Jahren kennen. T kam aus der englischen oberen Mittelschicht, sah gut aus, war begabt und bescheiden. H stammte aus einer jüdischen Familie in Wien, der es wirtschaftlich so schlecht ging, dass seine Mutter ihn als Kind (während sein Vater im Ersten Weltkrieg war) für mehrere Jahre ins Armenhaus gab. Als junger Mann lernte er später die Tochter eines englischen Textilmagnaten kennen, die ihm vor dem Zweiten Weltkrieg zur Ausreise aus Österreich verhalf. In England arbeitete er im Familienunternehmen und verlobte sich mit der Tochter. Dann lernte er T kennen; die näheren Umstände wollte T, etwas verschämt, nicht näher erläutern, doch die Begegnung veränderte schlagartig sein ganzes Leben. »Das alles war«, erzählte T mir nach Hs Tod, »natürlich vollkommen neu für mich – ich war überhaupt noch nie mit jemandem ins Bett gegangen.«
Und was ist, könnte man fragen, mit der verlassenen Verlobten von H? Aber dies ist eine glückliche Geschichte: T erzählte mir, sie habe »einen sehr feinen Instinkt« dafür gehabt, was hier vor sich ging; sie habe sich zur rechten Zeit in einen anderen verliebt; und alle vier seien gute und lebenslange Freunde geworden. H machte als Modedesigner bei einer großen Bekleidungskette Karriere, und dieser Arbeitgeber erwies sich als so liberal, dass T, der jahrzehntelang mit seinem »österreichischen Freund« immer wieder gegen das Gesetz verstoßen hatte, bei Hs Tod in den Genuss einer Hinterbliebenenrente kam. Als er mir, nicht lange vor seinem eigenen Tod, das alles erzählte, fiel mir zweierlei auf. Erstens, wie leidenschaftslos er seine eigene Geschichte erzählte; starke Gefühle weckten bei ihm allein die Schicksalsschläge und Ungerechtigkeiten in Hs Leben, bevor sie sich kennengelernt hatten. Und zweitens eine Formulierung, die er bei der Schilderung des Eintritts von H in sein Leben gebrauchte. T sagte, er sei sehr verwirrt gewesen – »Aber eins wusste ich genau: Ich wollte H unbedingt heiraten«.
Das andere Paar, D und D, kam aus Südafrika. D1 war konventionell, schüchtern, hochgebildet; D2 pompöser, offensichtlicher schwul und liebte Neckereien und Anzüglichkeiten. Sie wohnten in Kapstadt, besaßen ein Haus auf Santorin und reisten viel. Sie hatten ihr Zusammenleben bis ins kleinste Detail durchgeplant: Ich erinnere mich, wie sie mir in Paris erzählten, in Europa würden sie als Erstes immer einen großen Panettone für ihr Frühstück im Hotelzimmer kaufen. (Ich dachte schon immer, die erste Aufgabe für ein Paar sei die Lösung des Frühstücksproblems; wenn das einvernehmlich geklärt werden könne, ließen sich auch die meisten anderen Schwierigkeiten einvernehmlich klären.) Einmal kam D2 allein nach London. Spätabends, als wir nach einigen Gläsern über die französische Provinz sprachen, gestand er mir plötzlich: »Das beste Ficki-Ficki meines Lebens hatte ich in Carcassonne.« So einen Spruch vergisst man nicht leicht, zumal er mir schilderte, dass ein Gewitter aufgezogen war und in dem Augenblick, den die Franzosen le moment suprême nennen, ein gewaltiger Donnerschlag ertönte – ein wahrer coup de foudre. Er sagte nicht, dass er damals mit D1 zusammen gewesen war, und weil er das nicht tat, nahm ich an, dass er es nicht gewesen war. Nach seinem Tod verwendete ich seinen Spruch in einem Roman, wenn auch mit einem gewissen Zögern hinsichtlich der meteorologischen Begleitumstände, was das geläufige literarische Problem des vrai gegenüber dem vraisemblable aufwarf. Was uns im Leben erstaunt, ist in der Literatur oft ein Klischee. Einige Jahre später telefonierte ich mit D1, und er kam auf diesen Satz zu sprechen und wollte wissen, woher ich den habe. Voller Sorge um einen möglichen Verrat gestand ich, dass meine Quelle D2 gewesen war. »Ach«, sagte D1 mit plötzlicher Wärme, »das war eine wunderbare Zeit in Carcassonne«. Ich war erleichtert; außerdem verspürte ich so etwas wie stellvertretende Nostalgie, weil sie zusammen gewesen waren.
Für manche fängt das Teleskop dort draußen in der Lagune das Sonnenlicht ein, für andere nicht. Wir wählen, wir werden gewählt, wir bleiben ungewählt. Ich sagte zu meiner Freundin, die sich immer die Spinner aussucht, vielleicht sollte sie nach einem netten Spinner Ausschau halten. Sie antwortete: »Aber wie erkenne ich den?« Wie die meisten Menschen glaubte sie, was ihr Partner ihr erzählte, bis sie einen berechtigten Grund hatte, ihm nicht zu glauben. Sie war jahrelang mit einem Spinner zusammen, der immer pünktlich ins Büro ging; erst gegen Ende der Beziehung fand sie heraus, dass er jeden Tag als Erstes einen Termin bei seinem Psychiater hatte. Ich sagte: »Du hast einfach Pech gehabt.« Sie sagte: »Ich will nicht, dass das Pech war. Wenn es Pech ist, kann ich nichts dagegen tun.« Man sagt ja, letzten Endes bekomme man immer, was man verdient habe, aber dieser Spruch gilt auch anders herum. Man sagt, in den modernen Städten gebe es zu viele umwerfende Frauen und zu viele entsetzliche Männer. Die Stadt Carcassonne macht einen soliden und beständigen Eindruck, aber was wir dort bewundern, sind meist Rekonstruktionen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Vergessen wir die Spekulation, ob etwas »von Dauer sein wird« und ob Dauerhaftigkeit überhaupt eine Tugend, Belohnung, Anpassung oder wieder nur Glück ist. In welchem Maß handeln wir selbst, und in welchem Maß sind wir ein passives Objekt in jenem Moment leidenschaftlich bewegten Geschmacks?
Wir sollten auch nicht vergessen, dass Garibaldi noch eine zweite Frau hatte (und eine dritte – aber die können wir vernachlässigen). Auf seine zehnjährige Ehe mit Anita Riberas folgte eine zehnjährige Witwerschaft. Im Sommer 1859 kämpfte er dann während seines Alpenfeldzugs bei Varese, als ihn durch die österreichischen Linien eine Botschaft erreichte; die Überbringerin war ein siebzehnjähriges Mädchen, das allein in einem offenen Einspänner fuhr. Das war Giuseppina Raimondi, die uneheliche Tochter des Grafen Raimondi. Garibaldi verliebte sich auf der Stelle in sie, schrieb ihr einen leidenschaftlichen Brief, erklärte ihr auf Knien seine Liebe. Er gestand die Schwierigkeiten, die sich jeder Verbindung zwischen ihnen in den Weg stellten: Er war fast dreimal so alt wie sie, hatte schon ein weiteres Kind von einer Bäuerin und fürchtete, Giuseppinas aristokratische Abstammung könne seinem politischen Image abträglich sein. Doch er konnte sich selbst (und sie) so weit überzeugen, dass sie am dritten Dezember 1859 nach den Worten eines anderen und jüngeren Historikers als Trevelyan »ihre Bedenken beiseiteschob und in sein Zimmer trat. Die Tat war vollbracht!« Wie Anita war sie ersichtlich kühn und tapfer; am 24. Januar 1860 wurden sie getraut – diesmal nach allen Regeln der katholischen Kirche.
Tennyson traf vier Jahre später auf der Isle of Wight mit Garibaldi zusammen. Der Dichter brachte dem Freiheitskämpfer große Bewunderung entgegen, bemerkte aber auch, dass er »die göttliche Dummheit eines Helden« besaß. Diese zweite Ehe – besser gesagt, Garibaldis Illusionen darüber – hatte (je nachdem, welcher Quelle man Glauben schenkt) entweder ein paar Stunden oder ein paar Tage Bestand, bis zu dem Moment, als der frischgebackene Ehemann einen Brief mit ausführlichen Details aus dem früheren Leben seiner neuen Ehefrau erhielt. Wie sich herausstellte, hatte sich Giuseppina seit ihrem elften Lebensjahr Liebhaber genommen; sie hatte Garibaldi nur auf Drängen ihres Vaters geheiratet; sie hatte die Nacht vor der Hochzeit mit ihrem letzten Liebhaber verbracht, von dem sie schwanger war; und sie hatte das sexuelle Geschehen mit ihrem künftigen Ehemann vorangetrieben, damit sie ihm am ersten Januar schreiben und behaupten konnte, sie trage sein Kind unter dem Herzen.
Garibaldi verlangte nicht nur die sofortige Trennung, sondern eine Annullierung. Der romantische Held begründete das mit dem zutiefst unromantischen Argument, da er nur vor der Hochzeit und nicht danach mit Giuseppina geschlafen habe, sei die Ehe formal nicht vollzogen worden. Diese Sophisterei konnte das Gericht nicht überzeugen, und auch Garibaldis Appell an höhere Stellen bis hin zum König zeigte keinen Erfolg. Der Freiheitskämpfer blieb für die nächsten zwanzig Jahre an Giuseppina gekettet.
Letzten Endes kann überhaupt nur ein Jurist Recht und Gesetz überlisten; statt des romantischen Teleskops regiert das juristische Mikroskop. Als das befreiende Argument schließlich gefunden wurde, lautete es so: Da Garibaldis Trauung auf einem formal unter österreichischer Herrschaft stehendem Gebiet vollzogen wurde, könne man die Auffassung vertreten, dass dies nach österreichischem bürgerlichen Recht geschehen sei, und nach diesem Recht sei eine Annullierung möglich (und vielleicht immer möglich gewesen). So wurde der Held und Liebhaber von eben der Nation gerettet, gegen deren Herrschaft er seinerzeit gekämpft hatte. Der bedeutende Jurist, der auf diese geniale Lösung kam, hatte im Jahre 1860 die rechtlichen Grundlagen der Einigung Italiens ausgearbeitet; jetzt hatte er erwirkt, dass der eheliche Bund des Einigers der Nation zerschlagen wurde. Ein Hoch auf Pasquale Stanislao Mancini.