Pulse
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Vor etwa drei Jahren wanderten meine Eltern in Italien einen Feldweg entlang. Ich stelle mir oft vor, dass ich ihnen zuschaue, immer von hinten. Meine Mutter hat das grau werdende Haar stramm zurückgebunden und trägt vermutlich eine weit geschnittene, gemusterte Bluse zu einer bequemen Hose und vorne offenen Sandalen; mein Vater hat ein kurzärmeliges Hemd, Kakihosen und blank geputzte braune Schuhe an. Sein Hemd ist ordentlich gebügelt und hat zwei Taschen mit Knöpfen sowie Aufschläge, wenn man das so nennt, an den Ärmeln. Er besitzt ein halbes Dutzend solcher Hemden; sie weisen ihn als einen Mann im Urlaub aus. Sie wirken aber überhaupt nicht sportlich; bestenfalls würden sie auf einen Bowlingrasen passen.
Möglicherweise halten die beiden Händchen; das taten sie immer unbefangen, ob ich nun hinter ihnen ging und sie beobachtete oder nicht. Sie wandern diesen Weg irgendwo in Umbrien entlang, weil sie einem ungelenk mit Kreide geschriebenen Schild folgen, das vino novello verheißt. Und sie gehen zu Fuß, weil sie sich die tiefen harten Lehmfurchen angeschaut haben und die ihrem Leihwagen nicht zumuten wollen. Ich hätte eingewandt, genau dazu sei ein Leihwagen doch da; aber meine Eltern waren in vielerlei Hinsicht ein vorsichtiges Paar.
Der Weg verläuft zwischen Weingärten. Als er eine Biegung nach links macht, kommt eine rostige hangarähnliche Scheune in Sicht. Davor steht ein Betongebilde, das wie ein überdimensionaler Kompostbehälter aussieht: fast zwei Meter hoch und drei Meter breit, ohne Dach oder Vorderfront. Als sie auf etwa dreißig Meter herangekommen sind, guckt meine Mutter meinen Vater an und zieht eine Grimasse. Vielleicht sagt sie sogar »Igitt« oder etwas in der Art. Mein Vater runzelt die Stirn und antwortet nicht. Da passierte es zum ersten Mal, oder, um genau zu sein, bemerkte er es zum ersten Mal.
Wir wohnen in einer ehemaligen Marktstadt rund dreißig Meilen nordwestlich von London. Mum arbeitet in der Krankenhausverwaltung; Dad ist seit jeher als Anwalt in einer hiesigen Kanzlei tätig. Er sagt, er habe bis an sein Lebensende genug zu tun, aber in Zukunft werde es Anwälte wie ihn – die nicht nur Fachleute sind und sich mit Urkunden auskennen, sondern ganz allgemein Rat erteilen – nicht mehr geben. Der Arzt, der Pfarrer, der Anwalt, vielleicht noch der Lehrer – das waren in den alten Zeiten die Persönlichkeiten, an die man sich nicht nur ihrer beruflichen Kompetenz wegen wandte. Heutzutage, sagt mein Vater, fertigen die Leute ihre Kaufverträge selbst aus, setzen ihr Testament selbst auf, einigen sich im Voraus über die Regelung ihrer Scheidung und beraten sich selbst. Wenn sie eine zweite Meinung hören wollen, holen sie die eher bei einer Briefkastentante als bei einem Anwalt ein und am liebsten im Internet. Mein Vater nimmt das mit philosophischer Gelassenheit hin, selbst wenn sich die Leute einbilden, sie könnten sich vor Gericht selbst verteidigen. Er lächelt dann nur und zitiert den alten Juristenspruch: Wer sich vor Gericht selbst vertritt, dessen Mandant ist ein Idiot.
Dad hat mir davon abgeraten, in seine juristischen Fußstapfen zu treten, darum habe ich Pädagogik studiert und unterrichte jetzt an einem fünfzehn Meilen entfernten Oberstufenzentrum. Aber ich habe keinen Grund gesehen, aus der Stadt wegzuziehen, in der ich aufgewachsen bin. Ich gehe zum Training in die hiesige Sporthalle, und freitags jogge ich mit einer Gruppe, die mein Freund Jake leitet; da habe ich auch Janice kennengelernt. Sie wäre in einer Stadt wie dieser immer aufgefallen, weil sie so ein Londoner Flair verbreitet. Ich glaube, sie hat gehofft, ich würde in die Großstadt ziehen wollen, und war dann enttäuscht, als ich das nicht wollte. Nein, das glaube ich nicht; ich weiß es.
Mum ... wer kann schon seine Mutter beschreiben? Das ist so, wie wenn ein Interviewer ein Mitglied des Königshauses fragt, wie es ist, ein Mitglied des Königshauses zu sein; dann lacht der Gefragte und sagt, er weiß nicht, wie es ist, kein Mitglied des Königshauses zu sein. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn meine Mum nicht meine Mum wäre. Denn wenn sie das nicht wäre, dann wäre ich ja nicht ich, könnte ich gar nicht ich sein, oder?
Anscheinend war ich eine schwere Geburt. Vielleicht gibt es deshalb nur mich; ich habe aber nie gefragt. In unserer Familie spricht man nicht über Gynäkologie. Auch nicht über Religion, weil wir nämlich keine haben. Manchmal reden wir über Politik, aber wir streiten selten, weil wir meinen, eine Partei sei so schlecht wie die andere. Dad tendiert vielleicht ein bisschen mehr nach rechts als Mum, aber im Grunde heißt unser Prinzip: Vertraue dir selbst, hilf anderen und erwarte nicht, dass der Staat von der Wiege bis zur Bahre für dich sorgt. Wir zahlen unsere Steuern und unsere Rentenbeiträge und haben eine Lebensversicherung; wir nutzen den staatlichen Gesundheitsdienst und spenden nach unseren Möglichkeiten für Wohlfahrtsverbände. Wir sind ganz normale, vernünftige Mittelständler.
Und ohne Mum wären wir das alles nicht. Als ich klein war, hatte Dad ein leichtes Alkoholproblem, aber das hat Mum ihm ausgetrieben und dafür gesorgt, dass er jetzt ausschließlich in Gesellschaft trinkt. Ich galt in der Schule als »Störer«, aber das hat Mum mir mit Geduld und Liebe ausgetrieben und dabei genau klargestellt, welche Grenzen ich nicht überschreiten durfte. Vermutlich hat sie bei Dad dasselbe gemacht. Sie organisiert uns. Sie hat ihren Lancashire-Akzent nie ganz verloren, aber dieses alberne Nord-Süd-Getue machen wir in unserer Familie nicht mit, nicht mal im Scherz. Ich glaube, es macht auch etwas aus, dass nur ein Kind da ist, weil sich dann Kinder und Erwachsene nicht von Natur aus wie zwei Mannschaften gegenüberstehen. Man ist nur zu dritt, und ich wurde vielleicht mehr verhätschelt, aber ich habe von klein auf gelernt, mich in einer Erwachsenenwelt zu bewegen, weil etwas anderes nicht auf dem Programm stand. Vielleicht täusche ich mich da. Wenn du Janice fragen würdest, ob sie mich für richtig erwachsen halte, kann ich mir ihre Antwort lebhaft vorstellen.
Meine Mutter zieht also eine Grimasse, und mein Vater runzelt die Stirn. Sie gehen weiter, bis der Inhalt des Betonsilos deutlicher wird: eine gewölbte Halde von einer purpurroten Pampe. Jetzt sagt meine Mutter – und hier kann ich nur raten, obwohl mir ihr Wortschatz vertraut ist – etwas wie:
»Das riecht ja ziemlich streng.«
Mein Vater sieht, worauf sich die Bemerkung meiner Mutter bezieht: einen Haufen Trester. Das ist offenbar die Bezeichnung für das, was nach dem Auspressen von Trauben übrig bleibt – die Rückstände an Schalen, Stängeln, Kernen und so weiter. Meine Eltern kennen sich da aus; sie sind auf ihre nichtfanatische Art sehr daran interessiert, was sie essen und trinken. So waren sie ja überhaupt auf diesen Feldweg gekommen – sie wollten ein paar Flaschen neuen Wein mit nach Hause nehmen. Mir ist Essen und Trinken nicht gleichgültig, ich habe nur eine eher pragmatische Einstellung dazu. Ich weiß, welche Nahrungsmittel am gesündesten sind und zugleich die meiste Energie liefern. Und ich weiß genau, mit wie viel Alkohol ich mich entspannen und fröhlich sein kann und wie viel zu viel ist. Jake, der fitter und gleichzeitig hedonistischer ist als ich, hat mir einmal erzählt, was man über Martinis sagt: »Einer ist perfekt. Zwei sind zu viel. Und drei sind nicht genug.« Bei mir ist das allerdings anders: Ich habe mir einmal einen Martini bestellt – und ein halber war gerade richtig.
Mein Vater geht also auf diesen großen Abfallhaufen zu, bleibt etwa drei Meter davor stehen und schnüffelt bewusst. Nichts. Anderthalb Meter – immer noch nichts. Erst als er die Nase fast in den Trester steckt, nimmt er etwas wahr. Und selbst dann ist es nur eine schwache Form des durchdringenden Gestanks, der da sein muss, wie seine Augen – und seine Frau – ihm sagen. Mein Vater nimmt das eher neugierig als beunruhigt auf. Den restlichen Urlaub lang überprüft er, wie sehr ihn seine Nase im Stich lässt. Benzindämpfe beim Tanken – nichts. Ein doppelter Espresso in einem Dorflokal – nichts. Blumenbüschel, die über einer bröckeligen Mauer hängen – nichts. Der Fingerbreit Wein, den ein herumscharwenzelnder Kellner ihm einschenkt – nichts. Seife, Shampoo – nichts. Deodorant – nichts. Das war überhaupt das Merkwürdigste, wie Dad mir sagte: Man benutzt ein Deodorant und kann etwas nicht riechen, was man benutzt, um etwas anderes zu verhindern, was man ebenso wenig riechen kann.
Sie waren sich einig, dass es nicht viel Sinn hätte, etwas zu unternehmen, bis sie wieder zu Hause waren. Mum war darauf gefasst, dass sie Dad ständig ermahnen müsste, damit er im Gesundheitszentrum anruft. Beiden widerstrebte es, einen Arzt zu bemühen, wenn es nichts Ernstes war. Aber wenn es den anderen betraf, hielt jeder es für ernster, als wenn es ihn selbst betraf. Daher die Notwendigkeit ständigen Ermahnens. Am Ende rief einfach einer an und machte einen Termin für den anderen aus.
Diesmal rief mein Vater selbst an. Ich fragte ihn, was ihn dazu gebracht habe. Er zögerte. »Nun ja, wenn du es wissen willst, mein Sohn, es war, als ich merkte, dass ich deine Mum nicht riechen konnte.«
»Du meinst, ihr Parfüm?«
»Nein, nicht ihr Parfüm. Ihre Haut. Ihre ... Person.«
Sein Blick war zärtlich und abwesend, als er das sagte. Ich fand das überhaupt nicht peinlich. Er genierte sich einfach nicht für seine Gefühle zu seiner Frau. Manche Eltern stellen ihre ehelichen Gefühle vor ihren Kindern zur Schau: Guck uns an, sieh nur, wie jung und fesch wir noch sind, sind wir nicht ein Paar wie aus dem Bilderbuch? Meine Eltern waren da ganz anders. Und ich beneidete sie umso mehr, weil sie es nicht nötig hatten, sich so aufzuspielen.
Wenn wir in der Gruppe joggen, gibt der Leiter, Jake, das Tempo vor und sorgt auch dafür, dass niemand zu weit zurückbleibt. Ganz vorne läuft die harte Truppe; die haben immer den Kopf unten, checken ihre Uhren und Pulsmesser, und wenn sie überhaupt reden, dann über Flüssigkeitsverlust und wie viele Kalorien sie schon verbrannt haben. Hinten kommen die, die nicht fit genug sind, um gleichzeitig zu laufen und zu reden. Und dazwischen ist der Rest, für den das Geplauder ebenso wichtig ist wie die sportliche Betätigung. Es gibt aber eine Regel: Niemand darf einen anderen monopolisieren, nicht mal, wenn die beiden ein Paar sind. Darum richtete ich es an einem Freitagabend so ein, dass ich mit Janice Schritt hielt, unserem jüngsten Neuzugang. Ihr Jogginganzug stammte erkennbar nicht aus dem Laden hier, in dem wir anderen einkaufen; er war weiter geschnitten und seidiger und mit unnötigen Paspeln besetzt.
»Was führt dich denn in unsere Stadt?«
»Eigentlich bin ich schon zwei Jahre hier.«
»Was hat dich denn in unsere Stadt geführt?«
Sie lief ein paar Meter. »Mein Freund.« Ah, so. Dann noch ein paar Meter. »Exfreund.« Ah, schon besser – vielleicht joggt sie, um ihn zu vergessen. Aber ich wollte dem nicht auf den Grund gehen. Außerdem gibt es noch eine Regel in der Gruppe: nur leichte Unterhaltung beim Laufen. Keine britische Außenpolitik und auch nichts, was große Gefühle auslöst. Daher hören wir uns manchmal an wie ein Friseurverein, aber es ist eine nützliche Regel.
»Nur noch ein paar Kilometer.«
»Soll mir recht sein.«
»Gehen wir hinterher was trinken?«
Sie schaute mich von schräg unten an. »Soll mir recht sein«, wiederholte sie mit einem Lächeln.
Wir kamen leicht ins Gespräch, vor allem, weil ich den Zuhörer spielte. Und meistens auch den Zuschauer. Sie war schlank, gepflegt, schwarzhaarig, hatte manikürte Hände und eine etwas schief stehende Nase, die ich sofort sexy fand. Sie bewegte sich viel, gestikulierte, zupfte an ihren Haaren, schaute weg, schaute wieder her; ich fand das erfrischend. Sie erzählte mir, sie arbeite in London als persönliche Assistentin der Ressortleiterin einer Frauenzeitschrift, von der ich gerade mal gehört hatte.
»Kriegst du da viele Gratisproben?«
Sie verstummte und sah mich an; ich kannte sie nicht gut genug, um zu entscheiden, ob sie wirklich entgeistert war oder nur so tat. »Nicht zu fassen, dass das die erste Frage ist, die du mir über meine Arbeit stellst.«
Mir war die Frage ganz vernünftig vorgekommen. »Okay«, antwortete ich. »Tun wir so, als hätte ich dir schon vierzehn annehmbare Fragen über deine Arbeit gestellt. Frage Nummer 15: Kriegst du da viele Gratisproben?«
Sie lachte. »Machst du immer alles in der falschen Reihenfolge?«
»Nur, wenn ich damit jemanden zum Lachen bringen kann«, antwortete ich.
Meine Eltern waren pummelig und eine gute Werbung für Pummeligkeit. Sie trieben wenig Sport, und wenn sie mittags viel gegessen hatten, legten sie sich hin und hielten einen Verdauungsschlaf. Mein Fitnessprogramm war für sie eine Marotte der Jugend: Es war das einzige Mal, dass sie sich benahmen, als wäre ich fünfzehn und nicht dreißig. In ihren Augen war ernsthaftes Training nur etwas für Leute wie Soldaten, Feuerwehrmänner und Polizisten. Einmal waren sie in London vor eines der Fitnessstudios geraten, die einen Blick darauf gewähren, was drinnen vor sich geht. Das soll verführerisch wirken, aber meine Eltern waren entsetzt.
»Die sahen alle so ernsthaft aus«, sagte meine Mutter.
»Und die meisten hatten Kopfhörer auf und hörten sich Musik an. Oder sie haben auf Fernsehmonitore geguckt. Als könnte man sich nur auf seine Fitness konzentrieren, wenn man sich nicht darauf konzentriert.«
»Sie wurden von diesen Maschinen beherrscht, regelrecht beherrscht.«
Ich versuchte gar nicht erst, meinen Eltern die Freuden und Belohnungen sportlicher Betätigung nahezubringen, von erhöhter geistiger Klarheit bis zu gesteigertem sexuellen Leistungsvermögen. Das ist jetzt keine Prahlerei, glaub mir. Es stimmt, es ist vielfältig belegt. Jake, der mit einer Freundin nach der anderen auf Wanderurlaub geht, hat mir von einer paradoxen Entdeckung erzählt. Wenn man drei bis vier Stunden wandert, sagt er, hat man ordentlich Appetit, lässt sich ein gutes Abendessen schmecken und schläft in aller Regel ein, sobald man im Bett liegt. Wenn man jedoch sieben oder acht Stunden lang wandert, hat man weniger Hunger, aber wenn man ins Bett geht, bringt man erstaunlicherweise mehr – und zwar beide. Vielleicht gibt es eine wissenschaftliche Erklärung dafür. Oder das Herunterschrauben der Erwartungen auf nahezu null setzt die Libido frei.
Ich will hier keine Spekulationen über das Liebesleben meiner Eltern anstellen. Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass es irgendwie anders war, als sie wollten – was eine etwas verdrehte Aussage ist, das ist mir klar. Ich weiß auch nicht, ob sie es noch fröhlich trieben, ob das Begehren zu beider Zufriedenheit abnahm, oder ob Sex für sie eine Erinnerung war, der sie nicht nachtrauerten. Wie gesagt, meine Eltern hielten Händchen, wann immer ihnen danach war. Sie tanzten miteinander mit einer Art konzentrierter Anmut, bewusst altmodisch. Und im Grunde brauchte ich keine Antwort auf eine Frage, die ich sowieso nicht stellen wollte. Weil ich den Blick meines Vaters gesehen hatte, als er davon sprach, dass er seine Frau nicht mehr riechen könne. Es war völlig egal, ob sie tatsächlich noch Sex hatten. Weil ihre Vertrautheit noch lebendig war.
Als Janice und ich erst kurz zusammen waren, gingen wir immer schnurstracks zu ihr, wenn wir mit dem Joggen fertig waren. Sie wollte, dass ich meine Schuhe und Socken auszog und mich aufs Bett legte, während sie schnell unter die Dusche ging. Da ich schon wusste, was dann kam, hatte ich meist eine Beule in meinen Shorts, wenn Janice in ein Handtuch gewickelt wieder auftauchte. Kennst du das, wie die meisten Frauen das Handtuch knapp über dem Busen mit einer Art Falte feststecken, die alles zusammenhält? Janice hatte einen anderen Trick: Sie steckte das Handtuch knapp unter dem Busen fest.
»Schau mal an, was da auf meinem Bett liegt«, sagte sie, und um ihre Lippen zuckte ein Lächeln. »Was ist das für ein großes wildes Tier auf meinem Bett?«
So hatte mich noch nie jemand genannt, und ich bin genauso empfänglich für Schmeichelei wie jeder andere auch.
Dann kniete sie sich aufs Bett und tat, als würde sie mich untersuchen. »Was für ein großes verschwitztes Tier wir hier haben.« Sie griff durch die Shorts nach meinem Schwanz und schnüffelte an mir herum, an der Stirn, dann am Hals, dann an den Achselhöhlen, dann zog sie mein Unterhemd hoch und leckte meine Brust ab und atmete mich ein, während sie ständig weiter an meinem Schwanz zog. Beim ersten Mal kam ich sofort. Später habe ich gelernt, mich zurückzuhalten.
Und der Punkt war, dass sie nicht nur nach der Dusche roch. Sie tupfte sich Parfüm auf die Brüste und hielt sie mir übers Gesicht.
»Da sind deine Gratisproben«, sagte sie dabei.
Dann schob sie mir einen Busen entgegen, bis die Brustwarze meine Nasenspitze kitzelte, und neckte mich, indem sie mich den Namen des Parfüms raten ließ. Ich wusste die Antwort nie, aber da ich sowieso im siebten Himmel war, dachte ich mir meist eine alberne Marke aus. Du weißt schon, Chanel No. 69 oder so.
Wo wir gerade beim Thema sind. Nachdem sie meine Nase gereizt hatte, drehte sie sich manchmal über mir um, und dann fiel das Handtuch runter, und sie ließ sich auf mein Gesicht herunter und zog meine Shorts weg. »Was haben wir denn da?«, flüsterte sie dann vernehmlich. »Da haben wir ein großes, verschwitztes, stinkendes Biest, oh ja.« Und dann nahm sie meinen Schwanz in den Mund.
Der Arzt guckte meinem Vater in die Nasenlöcher und sagte, so was gebe sich mit der Zeit oft von allein wieder. Vielleicht seien es nur die Nachwirkungen eines Virus, den Dad sich eingefangen habe, ohne es überhaupt zu merken. Warten wir noch etwa sechs Wochen ab. Dad wartete noch sechs Wochen ab, ging wieder hin und bekam ein Rezept für ein Nasenspray. Morgens und abends je zwei Spritzer in jedes Nasenloch. Am Ende der Behandlung war alles unverändert. Der Arzt wollte ihn an einen Spezialisten überweisen; Dad wollte natürlich keinen bemühen.
»Eigentlich ist das ganz interessant.«
»Ach ja?« Ich war bei meinen Eltern zu Besuch und roch den Vormittags-Nescafé. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es »interessant« sein sollte, wenn mit dem Körper etwas nicht stimmt. Schmerzhaft, ärgerlich, beängstigend, zeitraubend, aber nicht »interessant«. Darum achtete ich so gut auf meinen eigenen Körper.
»Man denkt immer an das Naheliegende – Rosen, Bratensoße, Bier. Ich hab mir aber nie viel daraus gemacht, an Rosen zu riechen.«
»Aber wenn man nichts riecht, kann man doch auch nichts schmecken?«
»So heißt es – dass der Geschmack in Wirklichkeit nur Geruch ist. Aber in meinem Fall trifft das offenbar nicht zu. Ich kann Essen und Wein genauso schmecken wie vorher.« Er dachte kurz nach. »Nein, das stimmt nicht ganz. Manche Weißweine kommen mir säurehaltiger vor als früher. Keine Ahnung, warum.«
»Ist es das, was so interessant ist?«
»Nein. Es ist genau umgekehrt. Es geht nicht darum, was man vermisst, sondern was man nicht vermisst. Zum Beispiel ist es wohltuend, den Verkehr nicht zu riechen. Man geht am Marktplatz an einem Bus vorbei, der da mit laufendem Motor rumsteht und Öldämpfe ausspuckt. Früher hätte man die Luft angehalten.«
»Das würde ich auch weiterhin tun, Dad.« Giftige Dämpfe einatmen, ohne es auch nur zu merken? Es hatte schließlich einen Sinn, dass man eine Nase hatte.
»Man nimmt keinen Zigarettengeruch wahr, das ist wieder ein Vorteil. Oder den Geruch davon an jemandem – das war mir immer zuwider. Körpergeruch, Imbisswagen, die Kotze auf dem Bürgersteig von Samstagnacht ...«
»Hundescheiße«, warf ich ein.
»Komisch, dass du davon sprichst. Das hat mir immer den Magen umgedreht. Aber neulich bin ich in einen Haufen getreten, und ich hatte überhaupt kein Problem damit, das abzuputzen. Früher hätte ich den Schuh vor die Hintertür gestellt und ein paar Tage draußen gelassen. Ach ja, und ich schneide jetzt die Zwiebeln für Mum. Macht mir gar nichts aus. Keine Tränen, nichts. Das ist ein Vorteil.«
»Das ist wirklich interessant«, sagte ich halb im Ernst. Eigentlich fand ich es typisch, dass mein Vater fast allem etwas Positives abgewinnen konnte. Er hätte gesagt, als Jurist sei er es gewöhnt, jede Angelegenheit von allen Seiten zu betrachten. Für mich war er ein unverbesserlicher Optimist.
»Aber andererseits ... Zum Beispiel morgens vor die Tür zu treten und die Luft zu schnuppern. Jetzt merke ich nur, ob es warm oder kühl ist. Und Möbelpolitur, die vermisse ich. Schuhcreme auch. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Schuhe putzen, ohne etwas riechen zu können – stell dir das mal vor.«
Das brauchte ich nicht und wollte es auch nicht. Da wird jemand total elegisch wegen einer Dose Schuhcreme – hoffentlich würde ich nicht mal so enden.
»Und dann natürlich deine Mum.«
Ja, meine Mum.
Meine Eltern trugen beide eine Brille, und manchmal stellte ich mir vor, wie sie im Bett saßen und lasen, und dann legten sie ihr Buch oder ihre Zeitschrift weg und knipsten die Nachttischlampe aus. Wann sagten sie sich gute Nacht? Bevor sie die Brille abnahmen oder danach? Bevor sie das Licht ausknipsten oder danach? Aber jetzt dachte ich plötzlich: Soll Geruch nicht ein wesentlicher Faktor bei der sexuellen Erregung sein? Pheromone, diese Primitivlinge, die uns genau dann herumkommandieren, wenn wir glauben, jetzt wären wir der Herr und Meister. Mein Vater beklagte sich, er könne meine Mutter nicht riechen. Vielleicht meinte er – von Anfang an – mehr damit.
Jake sagte immer, ich hätte eine Nase dafür, mir Ärger einzuhandeln. Mit Frauen, meinte er. Darum sei ich mit dreißig noch unverheiratet. Du doch auch, erwiderte ich. Ja, aber mir gefällt das so, sagte er. Jake ist ein großer Kerl mit langen Beinen und lockigem Haar, der bei Frauen als sanft und ungefährlich ankommt. Als würde er sagen, Guck mal, hier bin ich, mit mir kannst du Spaß haben, ich bin nichts für die Dauer, aber wahrscheinlich hast du dein Vergnügen an mir, und hinterher können wir immer noch Freunde sein. Ich hab keine Ahnung, wie genau er das schafft, so eine komplizierte Botschaft mit nicht viel mehr als einem Grinsen und einer hochgezogenen Augenbraue rüberzubringen. Vielleicht liegt es an diesen Pheromonen.
Jakes Eltern haben sich getrennt, als er zehn war. Darum hat er keine großen Erwartungen, sagt er. Genieße den Tag, sagt er, immer schön locker bleiben. Als würde er die Regeln seiner Jogginggruppe auch auf sein übriges Leben anwenden. Ein bisschen imponiert mir diese Einstellung, aber im Grunde will ich sie nicht und bin nicht neidisch darauf.
Als Janice und ich uns das erste Mal getrennt hatten, nahm Jake mich in eine Weinbar mit, und während ich an meiner täglichen Höchstmenge von einem einzigen Glas nippte, erklärte er mir, ganz teilnahmsvoll und umständlich, er halte Janice für unaufrichtig, manipulierend und womöglich psychopathisch. Ich erwiderte, sie sei quirlig, sexy, aber ein kompliziertes Mädchen, bei dem ich manchmal nicht durchblicke, vor allem jetzt. Jake fragte, auf noch umständlichere Art, ob ich wisse, dass sie sich in der Küche an ihn rangemacht habe, als er drei Wochen zuvor bei uns zum Essen war. Ich erklärte ihm, er habe einfach ihre freundliche Art missverstanden. Eben darum sei sie eine Psychopathin, antwortete er.
Aber Jake bezeichnete Leute oft als Psychopathen, wenn sie einfach nur zielgerichteter waren als er, darum nahm ich ihm das nicht weiter übel, und ein paar Wochen später waren Janice und ich wieder zusammen. In der ersten Begeisterung des Neubeginns mit Sex und Erregung und Aufrichtigkeit hätte ich ihr fast erzählt, was Jake gesagt hatte, aber dann ließ ich es lieber bleiben. Dafür fragte ich sie, ob sie je daran gedacht habe, mit einem anderen abzuziehen, und sie sagte ja, etwa dreißig Sekunden lang, darum rechnete ich ihr das als Ehrlichkeit an und fragte mit wem, und sie sagte, den würde ich nicht kennen, und damit gab ich mich zufrieden, und bald darauf waren wir verlobt.
Ich sagte zu meiner Mutter: »Du magst Janice doch, oder?«
»Natürlich. Solange sie dich glücklich macht.«
»Das klingt ... wie ein Vorbehalt.«
»Nun ja, das ist es auch. Das muss so sein. Mutterliebe ist vorbehaltlos. Die Liebe einer Schwiegermutter steht unter Vorbehalt. Das war schon immer so.«
»Und wenn sie mich unglücklich macht?«
Meine Mutter antwortete nicht.
»Und wenn ich sie unglücklich mache?«
Sie lächelte. »Dann leg ich dich übers Knie.«
Wie es sich ergab, wäre es fast nicht zur Hochzeit gekommen. Wir haben beide einmal um Aufschub gebeten und mussten sogar eine offizielle Rüge von Jake einstecken, weil wir beim Joggen schwerwiegende Probleme wälzten. Als ich die Hochzeit aufschob, sagte Janice, der eigentliche Grund sei, dass ich Angst hätte, mich zu binden. Als sie die Hochzeit aufschob, lag es daran, dass sie nicht wusste, ob sie wirklich jemanden heiraten wollte, der Angst hatte, sich zu binden. Demnach war es beide Male irgendwie meine Schuld.
Einer der Bridgepartner meines Vaters empfahl Akupunktur. Die hatte bei seinem Ischias anscheinend Wunder gewirkt.
»Aber du glaubst doch gar nicht an so was, Dad.«
»Wenn es mich heilt, glaube ich daran«, erwiderte er.
»Aber du bist ein rationaler Mensch, genau wie ich.«
»Wir im Westen haben kein Wissensmonopol. Andere Länder wissen auch etwas.«
»Natürlich«, stimmte ich zu. Aber irgendwie erschreckte mich das, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Unsere Eltern dürfen sich doch nicht ändern, oder? Und schon gar nicht, wenn wir selbst erwachsen sind.
»Erinnerst du dich – nein, du warst wohl noch zu klein – an diese Fotos, wo chinesische Patienten am offenen Herzen operiert wurden? Zur Betäubung gab es nur Akupunktur und eine Ausgabe der Mao-Bibel.«
»Kann es sein, dass diese Fotos ausgemachter Schwindel waren?«
»Warum sollten sie?«
»Mao-Kult. Beweis für die Überlegenheit der chinesischen Denkungsart. Und wenn es funktionierte, auch noch Kosteneinsparungen im Gesundheitsbereich.«
»Siehst du, jetzt hast du gesagt, wenn es funktionierte.«
»Ich hab’s nicht so gemeint.«
»Du bist zu zynisch, mein Sohn.«
»Du bist nicht zynisch genug, Dad.«
Er ging in diese ... wie immer Akupunkteure ihre Praxis oder Ambulanz nennen, in einem Haus am anderen Ende der Stadt. Mrs Rose trug einen weißen Kittel, wie eine Krankenschwester oder Zahnärztin; sie war um die Vierzig und sah ganz vernünftig aus, wie Dad sagte. Sie hörte sich seine Geschichte an, nahm die Anamnese auf, fragte, ob er an Verstopfung leide, und erläuterte ihm die Grundlagen der chinesischen Akupunktur. Dann ging sie hinaus, während er sich bis auf die Unterhose auszog und sich unter ein Papiertuch mit einer Wolldecke darüber legte.
»Alles sehr professionell«, berichtete er. »Zuerst fühlt sie deine Pulse. In der chinesischen Medizin gibt es sechs Pulse, auf jeder Seite drei. Aber die am linken Handgelenk sind wichtiger, weil sie den wesentlichen Organen zugeordnet sind – Herz, Leber und Nieren.«
Ich sagte nichts – ich merkte nur, wie meine Besorgnis wuchs. Und mein Vater spürte wahrscheinlich, was in mir vorging.
»Ich habe zu Mrs Rose gesagt: ›Ich sollte Sie warnen, ich bin etwas skeptisch‹, und sie hat gesagt, das macht nichts, weil Akupunktur hilft, egal, ob man dran glaubt oder nicht.«
Nur dauert es bei Skeptikern vermutlich länger und kostet daher mehr Geld. Das behielt ich auch für mich. Stattdessen ließ ich Dad erzählen, wie Mrs Rose seinen Rücken ausmaß und mit einem Filzstift markierte, dann kleine Häufchen von irgendeinem Zeug auf die Haut setzte und die anzündete, und er sollte Bescheid sagen, wenn er die Hitze spürte, dann würde sie die Häufchen wegnehmen. Dann wurde weiter ausgemessen und mit Filzstift markiert, und sie steckte Nadeln in ihn rein. Alles ging sehr hygienisch zu, und sie legte die gebrauchten Nadeln in einen besonderen Behälter.
Am Ende der Stunde ging sie hinaus, er zog sich wieder an und bezahlte fünfundfünfzig Pfund. Dann ging er in den Supermarkt und kaufte fürs Abendessen ein. Er schilderte uns, wie er da leicht benommen stand und nicht wusste, was er wollte – oder vielmehr alles wollte, was er vor sich sah. Er wanderte herum, kaufte alles Mögliche, kam erschöpft nach Hause und musste sich hinlegen.
»Du siehst also, es wirkt offenbar.«
»Du meinst, du hast dein Abendessen gerochen?«
»Nein, dazu ist es noch zu früh – das war erst meine erste Behandlung. Ich meine, es hat eindeutig eine Wirkung. Körperlich und geistig.«
Ich dachte bei mir: Sich müde fühlen und Essen kaufen, das man gar nicht braucht, das soll ein Heilungserfolg sein?
»Was meinst du, Mum?«
»Ich bin ganz dafür, dass er mal etwas anderes ausprobiert, wenn er will.« Sie tätschelte über den Tisch hinweg seinen Arm, ungefähr an der Stelle, wo seine geheimnisvollen neuen Pulse verborgen lagen. Ich hätte nicht zu fragen brauchen – sie hatten bestimmt alles vorher erörtert und waren zu einem gemeinsamen Schluss gekommen. Und wie ich inzwischen sehr gut wusste, hatte die Methode ›teile und herrsche‹ bei meinen Eltern nie Erfolg.
»Wenn es wirkt, probiere ich das vielleicht auch an meinem Knie aus«, fügte sie hinzu.
»Was ist denn mit deinem Knie, Mum?«
»Ach, das ist irgendwie verdreht. Ich bin gestolpert und habe es mir an der Treppe angeschlagen. Ich werde auf meine alten Tage etwas wackelig auf den Beinen.«
Meine Mutter war achtundfünfzig. Sie hatte breite Hüften und einen guten niedrigen Schwerpunkt, und sie trug nie unvernünftige Schuhe.
»Du meinst, das ist schon öfter passiert?«
»Es ist nichts. Nur das Alter. Irgendwann trifft es uns alle.«
Janice hat einmal gesagt, bei Eltern könne man nie wissen. Ich hab sie gefragt, was sie damit meine. Sie hat geantwortet, wenn man so weit sei, dass man sie verstehen könne, sei es sowieso zu spät. Man könne nie herausfinden, wie sie gewesen seien, bevor sie sich kennenlernten, als sie sich kennenlernten, bevor man gezeugt wurde, danach, als man ein kleines Kind war ...
»Kinder verstehen oft eine Menge«, sagte ich. »Instinktiv.«
»Sie verstehen das, was die Eltern sie verstehen lassen.«
»Da bin ich anderer Meinung.«
»Soll mir recht sein. Es ändert nichts an der Sache. Wenn du dich endlich imstande fühlst, deine Eltern zu verstehen, ist fast alles Wichtige in ihrem Leben schon passiert. Sie sind, wie sie sind. Besser gesagt, sie sind, wie sie sein wollen – für dich, wenn du dabei bist.«
»Da bin ich anderer Meinung.« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass meine Eltern, wenn sie die Tür hinter sich zugemacht hatten, andere Menschen wurden.
»Wie oft siehst du deinen Vater als einen bekehrten Alkoholiker an?«
»Nie. So sehe ich ihn nicht. Ich bin sein Sohn, kein Sozialarbeiter.«
»Genau. Du willst ihn also einfach nur als einen Vater sehen. Niemand ist einfach nur ein Vater, nur eine Mutter. So funktioniert das nicht. Womöglich gibt es im Leben deiner Mutter ein Geheimnis, von dem du überhaupt nichts ahnst.«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte ich.
Sie sah mich an. »Ich glaube, die meisten Paare entwickeln mit der Zeit eine Art des Zusammenlebens, die im Grunde unehrlich ist. Die Beziehung basiert sozusagen auf einer beiderseitigen Übereinkunft zum Selbstbetrug. Das ist ihre Standardeinstellung.«
»Tja, ich bin immer noch anderer Meinung.« In Wirklichkeit dachte ich: So ein Quatsch. Beiderseitige Übereinkunft zum Selbstbetrug – das ist überhaupt nicht dein Ton. Das ist eine Phrase, die du in der Zeitschrift aufgeschnappt hast, bei der du arbeitest. Oder von einem Kerl, den du ganz gern gefickt hättest. Aber ich sagte nur:
»Willst du meine Eltern als Heuchler hinstellen?«
»Ich rede ganz allgemein. Warum musst du immer alles persönlich nehmen?«
»Dann verstehe ich nicht, was du sagen willst. Und wenn doch, dann begreife ich nicht, warum du mit mir oder sonst wem verheiratet sein möchtest.«
»Soll mir recht sein.«
Das war auch so was. Ich entwickelte allmählich eine Abneigung gegen ihren Gebrauch dieser Redensart.
Dad gab zu, dass die Akupunktur schmerzhafter war als erwartet.
»Sagst du das Mrs Rose?«
»Aber sicher. Ich rufe ›aua‹.«
Wenn Mrs Rose eine Nadel einstach und die erhoffte Reaktion ausblieb, stach sie gleich daneben noch einmal zu, bis sie bekam, was sie wollte.
»Und was ist das?«
»So was wie eine magnetische Anziehung, ein Energieschub. Und das merkt man immer, weil es dann am meisten wehtut.«
»Und dann?«
»Und dann macht sie das an anderen Stellen. Auf dem Handrücken, am Fußknöchel. Das tut noch mehr weh – weil da nicht viel Fleisch ist.«
»Klar.«
»Aber zwischendurch muss sie wissen, wie es mit deinem Energiefluss aussieht, darum fühlt sie immer wieder die Pulse.«
Da bin ich dann ausgerastet. »Ach, Herrgott noch mal, Dad. Es gibt nur einen Puls, das weißt du ganz gut. Definitionsgemäß. Es ist der Puls des Herzens, der Puls des Blutes.«
Mein Vater sagte nichts, er räusperte sich nur leicht und sah meine Mutter an. In unserer Familie wird nicht gestritten. Wir wollen das nicht, und wir wissen auch gar nicht, wie es geht. Darum herrschte Schweigen, und dann sprach Mum über ein anderes Thema.
Zwanzig Minuten nach seiner vierten Behandlung ging mein Vater in einen Starbucks und roch zum ersten Mal seit Monaten Kaffee. Dann wollte er im Body Shop ein Shampoo für Mum besorgen und sagte, es sei ihm vorgekommen, als wäre ihm ein Rhododendronstrauch auf den Kopf gefallen. Ihm sei fast übel geworden. Die Gerüche seien so intensiv gewesen, sagte er, dass er das Gefühl gehabt habe, sie gingen mit leuchtenden Farben einher.
»Was sagst du dazu?«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Dad, ich kann dir nur gratulieren.« Ich dachte, vielleicht war das Zufall oder Autosuggestion.
»Du willst mir doch nicht einreden, das sei nur Zufall gewesen?«
»Nein, Dad, will ich nicht.«
Zu seinem Erstaunen nahm Mrs Rose seinen Bericht gleichmütig entgegen, nickte leicht und kritzelte etwas in ein Notizbuch. Dann erläuterte sie ihm, wie sie weiter vorzugehen gedenke. Sie werde ihm, wenn er einverstanden sei, alle vierzehn Tage einen Termin geben und die Behandlung zum Sommer hin intensivieren – wobei sie nicht den britischen Sommer meinte, sondern den chinesischen, denn aufgrund seines Geburtsdatums werde mein Vater in der Zeit am besten auf die Therapie ansprechen. Dann sagte sie noch, sie stelle jedes Mal, wenn sie ihm die Pulse messe, eine Zunahme des Energieflusses fest.
»Fühlst du dich energiegeladener, Dad?«
»Darum geht es nicht.«
»Und hast du seit deiner letzten Behandlung irgendwas gerochen?«
»Nein.«
Okay, der »Energiefluss« hatte also nichts mit dem »Maß an Energie« zu tun, und eine Zunahme hieß nicht, dass Dad besser riechen konnte. Wunderbar.
Manchmal fragte ich mich, warum ich meinem Vater so hart zusetzte. In den nächsten drei Monaten erstattete er sachlich Bericht über seine Feststellungen. Ab und zu roch er etwas, aber es musste schon ein starker Geruch sein: Seife, Kaffee, verbrannter Toast, Toilettenreiniger; zweimal ein Glas Rotwein; einmal zu seiner Freude der Geruch von Regen. Der chinesische Sommer ging vorbei; Mrs Rose sagte, die Akupunktur könne nun nichts mehr ausrichten. Mein Vater machte, typischerweise, seine Skepsis dafür verantwortlich, aber Mrs Rose wiederholte, auf seine Geisteshaltung komme es nicht an. Da der Vorschlag zur Beendigung der Behandlung von Mrs Rose kam, hielt ich sie nicht mehr für einen Scharlatan. Aber vielleicht wollte ich auch Dad nicht als einen Menschen ansehen, der auf einen Scharlatan hereinfiele.
»In Wirklichkeit mache ich mir eher Sorgen um deine Mutter.«
»Warum denn?«
»Sie scheint mir, ich weiß auch nicht, ein bisschen aus dem Tritt geraten zu sein. Vielleicht ist es nur Müdigkeit. Sie ist irgendwie langsamer geworden.«
»Ach, sie sagt, ihr fehle nichts. Und wenn doch, liege es nur an den Hormonen.«
»Wie meint sie das?«
»Ich hatte gehofft, das könntest du mir sagen.«
Das war noch ein netter Zug an meinen Eltern. Sie klammerten sich nie an Wissen und Macht, wie manche Eltern das gern tun. Wir waren alle miteinander erwachsene Menschen und auf gleicher Ebene.
»Wahrscheinlich kenne ich mich da nicht besser aus als du, Dad. Aber meiner Erfahrung nach greifen Frauen zu dem Allerweltswort ›Hormone‹, wenn sie dir etwas nicht sagen wollen. Ich denke dann immer: Moment mal, haben Männer nicht auch Hormone? Warum gebrauchen wir die nicht als Entschuldigung?«
Mein Vater lachte leise, aber ich merkte, dass seine Ängste nicht zerstreut waren. Darum schaute ich an seinem nächsten Bridgeabend bei Mum vorbei. Als wir in der Küche saßen, war mir sofort klar, dass sie mir meinen Vorwand, ich sei »gerade in der Gegend« gewesen, nicht abgekauft hatte.
»Tee oder Kaffee?«
»Koffeinfreien oder Kräutertee, ich schließ mich dir an.«
»Also, ich brauche einen ordentlichen Koffeinstoß.«
Irgendwie reichte das schon, um auf mein Anliegen zu kommen.
»Dad macht sich Sorgen um dich. Und ich auch.«
»Dad macht sich immer Sorgen.«
»Dad liebt dich. Darum achtet er auf alles, was mit dir ist. Wäre es anders, würde er das nicht.«
»Ja, da hast du vermutlich recht.« Ich sah sie an, aber ihr Blick war anderswohin gerichtet. Für mich war klar, dass sie darüber nachdachte, dass sie geliebt wurde. Das hätte mich neidisch machen können, tat es aber nicht.
»Dann sag mir, was los ist, und erzähl mir nichts von Hormonen.«
Sie lächelte. »Ein bisschen müde. Ein bisschen tollpatschig. Weiter nichts.«
Wir waren etwa achtzehn Monate verheiratet, als Janice mir mangelnde Offenheit vorwarf. Wie es ihre Art war, sprach sie das natürlich nicht offen aus. Sie fragte mich, warum ich immer über unwichtige Probleme reden müsse statt über die wichtigen. Ich sagte, meiner Meinung nach stimme das so nicht, aber davon abgesehen seien große Dinge manchmal so groß, dass man nicht viel darüber sagen könne, während man kleine Dinge leichter diskutieren könne. Und manchmal hielten wir dies für das Problem, während es in Wirklichkeit das sei, und dagegen erscheine dies banal. Sie sah mich an wie einer meiner aufmüpfigen Schüler und sagte, das sei wieder mal typisch – eine typische Rechtfertigung meiner üblichen Art, immer auszuweichen, meiner Weigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen und Probleme anzugehen. Sie sagte, sie habe einen feinen Riecher dafür, wenn ich sie anlüge. So hat sie sich tatsächlich ausgedrückt.
»Also schön«, antwortete ich. »Seien wir offen. Gehen wir die Probleme an. Du hast eine Affäre und ich habe eine Affäre. Sehen wir jetzt den Tatsachen ins Auge oder nicht?«
»Das denkst du vielleicht. Du stellst es so hin, als wären wir damit quitt.« Und dann erläuterte sie mir die Unaufrichtigkeit meiner angeblichen Offenheit und den Unterschied zwischen unseren Seitensprüngen – ihrer von Verzweiflung getrieben, meiner von Rachsucht – und wie bezeichnend es sei, dass ich diese Affären für das Entscheidende hielte und nicht die Umstände, die zu ihnen geführt hätten. Womit wir wieder bei den ursprünglichen Vorwürfen waren.
Was suchen wir in einer Partnerschaft? Suchen wir einen Menschen, der so ist wie wir, einen Menschen, der anders ist? Einen Menschen, der so ist wie wir, nur anders; anders, aber so wie wir? Einen Menschen, der uns ergänzt? Ja, ich weiß, man soll nicht verallgemeinern, aber trotzdem. Der springende Punkt ist: Wenn wir einen Menschen suchen, der zu uns passt, denken wir immer nur an die positiven Übereinstimmungen. Was ist mit den negativen Übereinstimmungen? Glaubst du, wir werden manchmal von Menschen angezogen, die dieselben Fehler haben wie wir?
Meine Mutter. Wenn ich heute an sie denke, kommt mir ein Satz in den Sinn – ein Satz, den ich gesagt hatte, als Dad mir etwas von seinen sechs chinesischen Pulsen vorschwafelte. Dad, hatte ich gesagt, es gibt nur einen Puls – den Puls des Herzens, den Puls des Blutes. Die Fotos von meinen Eltern, an denen ich am meisten hänge, wurden alle vor meiner Geburt aufgenommen. Und – vielen Dank auch, Janice – ich glaube wirklich, ich weiß, wie sie damals waren.
Meine Eltern sitzen irgendwo an einem kiesigen Strand, Dad hat Mum den Arm um die Schultern gelegt; er trägt ein Sportsakko mit Lederflecken am Ellbogen, sie hat ein gepunktetes Kleid an und schaut voll inbrünstiger Hoffnung in die Kamera. Meine Eltern in ihren Flitterwochen in Spanien, hinter ihnen sind Berge, beide haben eine Sonnenbrille auf, sodass man ihre Gefühle aus ihrer Körperhaltung erschließen muss, daraus, wie offenkundig entspannt sie miteinander sind, und aus der verstohlenen Tatsache, dass meine Mutter die Hand in die Hosentasche meines Vaters geschoben hat. Und dann ein Bild, das ihnen trotz seiner Mängel bestimmt viel bedeutet hat: beide zusammen auf einer Party, erkennbar mehr als ein bisschen betrunken, und vom Blitzlicht der Kamera haben sie rosa Augen wie weiße Mäuse. Mein Vater hat einen grotesken Backenbart, Mum hat krause Haare, große Ohrringe und trägt einen Kaftan. Beide sehen nicht so aus, als könnten sie je erwachsen genug werden, um Eltern zu sein. Ich nehme an, dies ist das allererste gemeinsame Bild von ihnen, der erste offizielle Beleg, dass sie sich im selben Raum bewegen, dieselbe Luft atmen.
Auf der Anrichte steht auch ein Foto von mir mit meinen Eltern. Ich bin vier oder fünf Jahre alt und stehe zwischen ihnen mit der Miene eines Kindes, dem man gesagt hat, es solle auf das Vögelchen achten, oder wie immer sie sich ausgedrückt haben: konzentriert, aber zugleich nicht ganz sicher, was da vor sich geht. Ich halte eine Kindergießkanne in der Hand, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass ich je Spielzeug-Gartengeräte bekommen oder überhaupt Interesse, echtes oder eingeredetes, an Gartenarbeit gezeigt hätte.
Wenn ich heute dieses Foto betrachte – meine Mutter, die fürsorglich auf mich herabschaut, meinen Vater, der in die Kamera lächelt, in der einen Hand einen Drink und in der anderen eine Zigarette –, muss ich unwillkürlich daran denken, was Janice zu mir gesagt hat. Dass Eltern entscheiden, wer sie sein wollen, ehe das Kind sich dessen bewusst ist, dass sie sich eine Fassade zulegen, die das Kind nie durchschauen kann. Ihre Bemerkungen hatten, ob beabsichtigt oder nicht, etwas Gehässiges an sich. »Du willst ihn einfach nur als einen Vater sehen. Niemand ist einfach nur ein Vater, nur eine Mutter.« Und dann: »Womöglich gibt es im Leben deiner Mutter ein Geheimnis, von dem du überhaupt nichts ahnst.« Was soll ich mit diesem Gedanken anfangen? Selbst wenn ich ihn weiter verfolge und feststelle, dass er nirgendwohin führt?
Meine Mum ist kein bisschen überdreht oder flippig und macht niemals – bitte beachten, Janice –, niemals ein neurotisches Drama um ihre Person. Sie ist eine gediegene Gestalt in einem Raum, ob sie nun etwas sagt oder nicht. Und sie ist der Mensch, an den man sich wenden würde, wenn irgendwas ist. Als ich noch klein war, hatte sie sich einmal so verletzt, dass sie eine klaffende Wunde am Oberschenkel hatte. Außer ihr war niemand zu Hause. Die meisten Leute hätten einen Krankenwagen gerufen oder zumindest Dad bei der Arbeit gestört. Mum aber nahm einfach eine Nadel und chirurgischen Faden, zog die Wunde zusammen und nähte sie zu. Und sie würde, ohne mit der Wimper zu zucken, für jeden anderen dasselbe tun. So ist sie eben. Falls es tatsächlich ein Geheimnis in ihrem Leben gibt, dann hat sie vermutlich jemandem geholfen und nie ein Wort darüber verloren. Also kann Janice mir den Buckel runterrutschen, mehr sag ich dazu nicht.
Meine Eltern lernten sich kennen, als Dad gerade seine Zulassung als Anwalt bekommen hatte. Er behauptete immer, er habe jede Menge Rivalen aus dem Feld schlagen müssen. Mum meinte, da sei nichts aus dem Feld zu schlagen gewesen, denn für sie sei die Sache vom ersten Tag an klar gewesen. Ja, erwiderte Dad, aber die anderen haben das nicht so gesehen. Dann schaute meine Mutter ihn liebevoll an, und ich wusste nie, wem von beiden ich glauben sollte. Vielleicht ist das die Definition einer glücklichen Ehe: Beide Seiten sagen die Wahrheit, auch wenn diese Darstellungen unvereinbar sind.
Natürlich ist meine Bewunderung für ihre Ehe auch durch das Scheitern meiner eigenen bedingt. Vielleicht hat ihr Beispiel mich dazu verleitet, meine Ehe für unkomplizierter zu halten, als sie in Wirklichkeit war. Glaubst du, manche Leute haben ein Talent zur Ehe, oder ist das einfach nur Glück? Aber vermutlich könnte man sagen, es sei Glück, so ein Talent zu haben. Als ich Mum gegenüber erwähnte, dass Janice und ich momentan Probleme haben und an unserer Ehe arbeiten wollen, sagte sie:
»Ich habe nie recht verstanden, was das heißen soll. Wenn man seine Arbeit liebt, kommt sie einem nicht wie Arbeit vor. Wenn man seine Ehe liebt, kommt sie einem nicht wie Arbeit vor. Vielleicht arbeitet man ja daran, innerlich. Es kommt einem nur nicht so vor«, wiederholte sie. Und dann, nach kurzem Schweigen: »Nicht, dass ich irgendwas gegen Janice sagen will.«
»Reden wir nicht über Janice«, sagte ich. Ich hatte mit Janice selbst schon genug über Janice geredet. Egal, was wir in diese Ehe eingebracht hatten, wir nahmen todsicher nichts daraus mit außer unserem gesetzlichen Vermögensanteil.
Man würde doch meinen, das Kind einer glücklichen Ehe sollte selbst eine überdurchschnittlich gute Ehe führen – ob aufgrund des genetischen Erbes oder weil es am guten Beispiel lernen konnte. Doch offenbar funktioniert das nicht so. Also braucht man vielleicht das gegenteilige Beispiel – man muss Fehler sehen, damit man sie nicht selbst macht. Das würde allerdings heißen, dass Eltern dann am besten für eine glückliche Ehe ihrer Kinder sorgen, wenn sie selbst eine unglückliche führen. Wie lässt sich das lösen? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht meinen Eltern die Schuld gebe; und eigentlich gebe ich auch Janice nicht die Schuld.
Meine Mutter versprach, zu ihrem gemeinsamen Hausarzt zu gehen, wenn Dad wegen seiner Anosmie einen Spezialisten aufsuchte. Typischerweise sträubte sich mein Vater. Anderen gehe es viel schlechter als ihm, meinte er. Er könne immer noch schmecken, was er esse, während ein Abendessen für andere Anosmiker so sei, als kauten sie auf Pappe und Plastik herum. Er sei ins Internet gegangen und habe von noch extremeren Fällen gelesen – zum Beispiel von olfaktorischen Halluzinationen. Man stelle sich vor, frische Milch rieche und schmecke auf einmal sauer, Schokolade erzeuge Brechreiz, Fleisch sei nichts weiter als ein Schwamm voller Blut.
»Wenn du dir den Finger ausrenkst«, erwiderte meine Mutter, »weigerst du dich doch nicht, den untersuchen zu lassen, bloß weil sich andere ein Bein gebrochen haben.«
Und so wurde es abgemacht. Die Warterei und der Papierkrieg begann, und am Ende gingen beide in derselben Woche zur MRT – Untersuchung. Seltsamer Zufall, finde ich.
Ich weiß nicht, ob wir je genau sagen können, wann unsere Ehe am Ende ist. Wir erinnern uns an bestimmte Phasen, Übergänge, Streitereien; Unvereinbarkeiten, die wachsen, bis man sie nicht mehr auflösen oder damit leben kann. Ich glaube, ich habe in der Zeit, als Janice über mich herfiel – oder, wie sie sagen würde, als ich sie nicht mehr beachtete und einfach nicht mehr da war – lange nicht gedacht, das sei das Ende unserer Ehe oder werde es herbeiführen. Erst als Janice, aus keinem mir ersichtlichen Grund, meine Eltern attackierte, dachte ich zum ersten Mal: Also wirklich, das geht jetzt zu weit. Ja, wir hatten getrunken. Und ja, ich hatte das mir selbst auferlegte Limit überschritten – weit überschritten.
»Eins deiner Probleme ist, dass du glaubst, deine Eltern führten die perfekte Ehe.«
»Wieso ist das eins meiner Probleme?«
»Weil du deine eigene Ehe deshalb für schlechter hältst, als sie wirklich ist.«
»Aha, dann ist das also ihre Schuld, ja?«
»Nein, die sind schon in Ordnung, deine Eltern.«
»Aber?«
»Ich sag doch, die sind schon in Ordnung. Ich sag bloß nicht, dass ich ihnen in den Arsch kriechen muss.«
»Du glaubst nicht, dass du irgendwem in den Arsch kriechen musst, oder?«
»Na, muss ich auch nicht. Aber deinen Vater mag ich, der war immer nett zu mir.«
»Soll heißen?«
»Soll heißen, Mütter und ihr einziger Sohn. Muss ich noch deutlicher werden?«
»Ich glaube, das war deutlich genug.«
Ein paar Wochen später rief Mum an einem Samstagnachmittag ziemlich aufgeregt hier an. Sie war zu einem Antiquitätenmarkt in einer nahe gelegenen Stadt gefahren, um ein Geburtstagsgeschenk für Dad zu besorgen, hatte auf dem Rückweg eine Reifenpanne gehabt, konnte den Wagen noch bis zur nächsten Tankstelle fahren und musste dort die – nicht allzu überraschende – Feststellung machen, dass die Kassierer nicht von ihrer Kasse weg wollten. Wahrscheinlich wussten sie sowieso nicht, wie man einen Reifen wechselt. Dad habe gesagt, er wolle sich ein bisschen hinlegen und ...
»Mach dir keine Sorgen, Mum, ich bin gleich da. Zehn, fünfzehn Minuten.« Ich hatte sowieso nichts anderes zu tun. Doch noch ehe ich auflegen konnte, schrie Janice, die meinen Teil des Gesprächs mit angehört hatte, zu mir rüber:
»Wieso kann sie nicht den AA oder RAC anrufen, verdammt noch mal?«
Das hatte Mum ganz sicher gehört, und Janice hatte das ganz sicher beabsichtigt.
Ich legte den Hörer auf. »Du kannst mitkommen«, sagte ich zu ihr. »Und dich unters Auto legen, während ich es hochkurbele.« Als ich die Autoschlüssel holte, dachte ich bei mir: Okay, das war’s.
Die meisten Leute fallen ihrem Arzt nicht gern zur Last. Aber die meisten Leute sind auch nicht gern krank. Und die meisten Leute wollen sich nicht dem, wenn auch nur stillschweigenden, Vorwurf aussetzen, sie hätten dem Arzt die Zeit gestohlen. Theoretisch kann man bei einem Arztbesuch also nur gewinnen: Entweder hat man am Ende die Bestätigung, dass man gesund ist, oder man hat dem Arzt tatsächlich nicht die Zeit gestohlen. Mein Vater hatte, wie seine Tomografie ergab, eine chronische Sinusitis, gegen die ihm Antibiotika und dann weiteres Nasenspray verschrieben wurden; darüber hinaus bestand die Möglichkeit einer Operation. Bei meiner Mutter wurde nach Blutuntersuchungen, Elektromyografie, Kernspintomografie und anschließender Eliminierung verschiedener anderer Möglichkeiten eine amyotrophe Lateralsklerose festgestellt.
»Du wirst dich um deinen Vater kümmern, ja?«
»Aber natürlich, Mum«, antwortete ich, ohne zu wissen, ob sie das auf kurze oder auf lange Sicht meinte. Und vermutlich hatte sie zu Dad etwas Ähnliches über mich gesagt.
Mein Vater sagte: »Schau dir Stephen Hawking an. Der hat das seit vierzig Jahren.« Wahrscheinlich war er auf derselben Website gewesen wie ich; da hätte er dann auch erfahren, dass fünfzig Prozent der ALS – Kranken innerhalb von vierzehn Monaten sterben.
Dad regte sich darüber auf, wie man im Krankenhaus mit ihnen umgegangen war. Kaum hatte der Spezialist ihnen den Befund erläutert, wurden Mum und Dad nach unten in einen Lagerraum geführt, wo man ihnen die Rollstühle zeigte und was sonst noch bei der zwangsläufigen Verschlechterung von Mums Zustand nötig werden würde. Dad sagte, das sei wie eine Führung durch eine Folterkammer gewesen. Er war furchtbar aufgebracht, vor allem Mums wegen, glaube ich. Sie habe das alles ruhig hingenommen, sagte er. Allerdings arbeitete sie auch schon fünfzehn Jahre in diesem Krankenhaus und wusste, was da alles stand.
Es fiel mir schwer, mit Dad darüber zu reden, was hier vor sich ging – und ihm umgekehrt auch. Ich dachte ständig: Mum stirbt, aber Dad verliert sie. Ich hatte das Gefühl, wenn ich diesen Satz oft genug wiederhole, bekommt er einen Sinn. Oder er sorgt dafür, dass es nicht passiert. Oder sonst was. Außerdem dachte ich: Wir wenden uns immer an Mum, wenn etwas ist; an wen sollen wir uns dann wenden, wenn etwas mit ihr ist? In der Zwischenzeit – während wir auf die Antworten warteten – sprach ich mit Dad über ihre täglichen Bedürfnisse: Wer sich um sie kümmerte, wie sie aufgelegt war, was sie gesagt hatte, und die Frage der medikamentösen Behandlung (oder vielmehr das Fehlen derselben, und ob wir auf Riluzol bestehen sollten). Über dergleichen konnten wir endlos reden und taten das auch. Doch die Katastrophe selbst – ihre Plötzlichkeit, ob wir sie hätten kommen sehen können, wie viel Mum uns verheimlicht hatte, die Prognose, das unvermeidliche Ergebnis –, darüber konnten wir nur ab und zu in Andeutungen sprechen. Vielleicht waren wir einfach zu erschöpft. Wir mussten über normale englische Angelegenheiten reden, zum Beispiel die mutmaßlichen Auswirkungen der geplanten Umgehungsstraße auf die Geschäfte in der Stadt. Oder ich fragte Dad nach seiner Anosmie, und wir taten beide, als wäre das noch ein interessantes Thema. Zuerst hatten die Antibiotika gewirkt, und die Gerüche brachen nur so über ihn herein; doch bald – nach etwa drei Tagen – hatte die Wirkung wieder nachgelassen. Wie es seine Art war, hatte Dad mir damals nichts davon erzählt; er behauptete, im Vergleich zu dem, was mit Mum passierte, sei es ihm wie ein unbedeutender Scherz erschienen.
Irgendwo habe ich gelesen, dass Freunde und Angehörige eines Schwerkranken oft anfangen, Kreuzworträtsel zu lösen oder Puzzles zu legen, wenn sie nicht gerade im Krankenhaus sind. Zum einen bringen sie keine Konzentration für etwas Ernsthafteres auf; aber es gibt noch einen anderen Grund. Sie müssen sich, ob bewusst oder unbewusst, mit etwas beschäftigen, bei dem es Regeln, Gesetze, Antworten und eine Gesamtlösung gibt, etwas, was sich in Ordnung bringen lässt. Natürlich hat eine Krankheit auch ihre Gesetze und Regeln und manchmal ihre Antworten, aber so erlebt man das am Krankenbett nicht. Und dann ist da noch die Unbarmherzigkeit der Hoffnung. Selbst wenn es keine Hoffnung auf Heilung mehr gibt, bleibt noch Hoffnung auf anderes – manches davon greifbar, anderes nicht. Hoffnung bedeutet Unsicherheit, und die bleibt bestehen, auch wenn man gesagt bekommt, dass es nur eine Antwort, eine Gewissheit gibt – die eine, unannehmbare.
Ich löste keine Kreuzworträtsel und legte auch keine Puzzles – ich habe nicht den Kopf oder nicht die Geduld dazu. Aber ich betrieb mein Trainingsprogramm mit größerer Besessenheit. Ich stemmte mehr Gewichte und blieb länger auf dem Stepper. Freitags beim Joggen war ich plötzlich vorneweg, bei der harten Truppe, wo nicht geplaudert wird. Das war mir nur recht. Ich trug meinen Pulsmesser, achtete auf die Werte, schaute auf die Uhr, und manchmal redete ich davon, wie viele Kalorien ich verbrannt hatte. Am Ende war ich besser in Form als je zuvor. Und manchmal kam es mir vor – auch wenn sich das verrückt anhört –, als würde ich damit etwas lösen.
Ich fand einen Untermieter für meine Wohnung und zog wieder bei meinen Eltern ein. Ich wusste, Mum würde Widerspruch einlegen – um meinetwillen, nicht um ihretwillen –, darum stellte ich sie vor vollendete Tatsachen. Dad nahm sich in der Kanzlei Urlaub; ich sagte alles ab, was nicht unmittelbar zum Unterricht gehörte; wir zogen Freunde und später Krankenschwestern hinzu. Im Haus wurden Handläufe und später Rollstuhlrampen angebracht. Mum zog ins Erdgeschoss; Dad ließ sie keine Nacht allein, bis sie dann ins Hospiz kam. Ich habe das als eine Zeit absoluter Panik in Erinnerung, aber auch als eine Zeit mit einer rigorosen alltäglichen Logik. Man folgte der Logik, und das sorgte anscheinend dafür, dass die Panik nicht überhandnahm.
Mum hielt sich erstaunlich gut. Ich weiß, dass ALS – Kranke statistisch weniger zu Depressionen über ihren Zustand neigen als Patienten mit anderen degenerativen Erkrankungen, aber trotzdem. Sie tat nicht tapferer, als sie war; sie scheute sich nicht, vor uns zu weinen; sie machte keine Scherze, um uns aufzuheitern. Sie nahm das, was mit ihr geschah, nüchtern hin, ohne die Augen davor zu verschließen oder sich davon überwältigen zu lassen – von diesem Geschehen, das nacheinander alle ihre Sinne zerstören würde. Sie sorgte dafür, dass sie – und wir – weiterleben konnten. Von Janice sprach sie nie und sagte auch nicht, sie hoffe, eines Tages würde ich ihr Enkel schenken. Sie bürdete uns nichts auf und nahm uns keine Versprechungen für die Zeit danach ab. Es gab eine Phase, in der sie zusehends schwächer wurde und jeder Atemzug wie ein Marsch auf den Mount Everest klang; da fragte ich mich, ob sie an diesen Ort in der Schweiz dachte, wo man dem Ganzen ein würdiges Ende setzen kann. Aber ich wies den Gedanken bald wieder von mir: Diese Scherereien würde sie uns nicht zumuten wollen. Das war wieder ein Zeichen, dass sie – soweit es ihr möglich war – ihr Sterben selbst in der Hand hatte. Sie hatte sich um ein Hospiz gekümmert und uns erklärt, je eher sie dort einziehe, desto besser, weil nie abzusehen sei, wann ein Platz frei werde.
Je größer etwas ist, desto weniger gibt es dazu zu sagen. Nicht zu fühlen, aber zu sagen. Weil es nur die Tatsache selbst gibt und die eigenen Gefühle zu dieser Tatsache. Sonst nichts. Als mein Vater sich mit seiner Anosmie auseinandersetzen musste, konnte er Gründe finden, warum dieser Nachteil, vom richtigen Standpunkt aus betrachtet, auch ein Vorteil sein konnte. Mums Krankheit aber fiel in eine ganz andere Kategorie, die weit über rationale Betrachtungsweisen hinausging; sie war etwas Ungeheuerliches, das keine Sprache hatte und vor dem jede Sprache versagte. Es gab kein Argument dagegen. Es ging auch nicht darum, dass man nicht die rechten Worte fand. Die Worte sind immer da – und es sind immer dieselben Worte, einfache Worte. Mum stirbt, aber Dad verliert sie. Ich habe das immer mit einem »aber« in der Mitte gesagt, nie mit einem »und«.
Zu meiner Überraschung bekam ich einen Anruf von Janice.
»Es tut mir sehr leid, was ich über deine Mutter gehört habe.«
»Ja.«
»Kann ich irgendwas tun?«
»Von wem hast du es gehört?«
»Jake.«
»Du bist doch nicht etwa mit Jake zusammen?«
»Ich bin nicht in dem Sinne mit Jake zusammen, falls du danach fragst.« Aber sie sagte das in einem so munteren Ton, als finde sie es selbst jetzt noch erregend, wenn sie eine Anwandlung von Eifersucht auslösen könne.
»Nein, ich frage dich nicht danach.«
»Hast du aber gerade.«
Immer noch die Alte, dachte ich. »Danke für dein Mitgefühl«, sagte ich so förmlich ich konnte. »Nein, du kannst gar nichts tun, und nein, sie würde sich nicht über einen Besuch freuen.«
»Soll mir recht sein.«
Es war ein heißer Sommer, als Mum starb, und Dad trug wieder seine kurzärmeligen Hemden. Er wusch sie immer mit der Hand und mühte sich dann mit dem Dampfbügeleisen ab. Als ich eines Abends sah, dass er erschöpft war und vergeblich versuchte, eine Hemdpasse über das spitze Ende des Bügelbretts zu ziehen, sagte ich:
»Du könntest sie doch in die Wäscherei geben.«
Er sah mich nicht an, zerrte nur weiter an dem feuchten Hemd herum.
»Ich bin mir durchaus bewusst«, antwortete er schließlich, »dass es solche Einrichtungen gibt.« Bei meinem Vater hatte sanfter Sarkasmus dieselbe Wirkung wie bei anderen ein Wutanfall.
»Entschuldige, Dad.«
Dann hielt er doch inne und schaute mich an. »Es ist sehr wichtig«, sagte er, »dass sie sieht, ich bin immer noch sauber und ordentlich. Wenn ich jetzt schmuddelig herumliefe, würde sie das merken, und dann würde sie denken, ich käme nicht zurecht. Sie darf aber nicht denken, ich käme nicht zurecht. Weil sie das aufregen würde.«
»Ja, Dad.« Ich fühlte mich zurechtgewiesen; ich fühlte mich, ausnahmsweise, wie ein Kind.
Später setzte er sich zu mir. Ich trank ein Bier, er einen vorsichtigen Whisky. Mum war seit drei Tagen im Hospiz. An dem Abend hatte sie einen ruhigen Eindruck gemacht und uns mit einer bloßen seitwärts gerichteten Augenbewegung fortgeschickt.
»Übrigens«, sagte er und stellte sein Glas auf einem Untersatz ab, »es tut mir leid, dass Mutter Janice nicht leiden konnte.« Wir hörten beide das Tempus des Verbs. »Leiden kann«, verbesserte er, viel zu spät, das Ende seines Satzes.
»Das wusste ich gar nicht.«
»Aha.« Mein Vater verstummte. »Tut mir leid. Heutzutage ...« Er brauchte nicht weiterzusprechen.
»Warum nicht?«
Sein Mund verspannte sich, wie er sich – so stelle ich mir vor – verspannte, wenn ein Mandant ihm etwas Dummes erzählte, etwas wie: In Wirklichkeit war ich doch am Tatort.
»Na komm, Dad. War es wegen dieser Geschichte mit der Autowerkstatt? Diese Reifenpanne.«
»Welche Reifenpanne?«
Also hatte sie ihm davon nichts erzählt.
»Ich konnte Janice immer ganz gut leiden. Sie hatte ... Esprit.«
»Deine Mutter hat gesagt, für sie sei Janice eins dieser Mädchen, die wissen, wie man anderen Schuldgefühle macht.«
»Ja, das war ihre besondere Spezialität.«
»Sie hat sich immer bei deiner Mutter beklagt, wie schwierig mit dir auszukommen sei – und hat damit irgendwie zu verstehen gegeben, dass deine Mutter daran schuld sei.«
»Sie hätte ihr dankbar sein sollen. Mit mir wäre noch sehr viel schlechter auszukommen gewesen, wenn Mum mich nicht so geliebt hätte.« Wieder ein Fehler, vor lauter Müdigkeit. »Ihr beide, meine ich.«
Mein Vater nahm mir die Korrektur nicht übel. Er nippte an seinem Drink.
»Und was noch, Dad?«
»Ist das nicht genug?«
»Ich hab einfach das Gefühl, du verschweigst mir etwas.«
Mein Vater lächelte. »Ja, aus dir hätte ein Jurist werden können. Also, das war schon am Ende von – von eurer ... als Janice so ganz anders geworden war.«
»Raus damit, dann können wir gemeinsam darüber lachen.«
»Sie hat zu deiner Mutter gesagt, sie finde dich ziemlich psychopathisch.«
Womöglich habe ich gelächelt, aber gelacht habe ich nicht.
Im Krankenhaus und im Hospiz kamen wir mit so vielen verschiedenen Leuten zusammen, dass ich nicht mehr weiß, wer uns erzählt hat, beim Sterben, wenn das gesamte System dichtmacht, seien die letzten noch funktionierenden Sinne im Allgemeinen Gehör und Geruch. Meine Mutter war inzwischen praktisch bewegungsunfähig und musste alle vier Stunden umgedreht werden. Sie hatte seit einer Woche nicht gesprochen, und ihre Augen waren immer geschlossen. Sie hatte deutlich gemacht, dass sie, wenn ihr Schluckreflex schwächer wurde, nicht künstlich ernährt werden wollte. Der sterbende Körper kann lange genug ohne diesen Nährstoffbrei durchhalten, den sie so gern in ihn hineinpumpen.
Mein Vater hat mir erzählt, er sei in den Supermarkt gegangen und habe verschiedene Päckchen von frischen Kräutern gekauft. Im Hospiz habe er die Vorhänge um das Bett zugezogen. Er wollte nicht, dass andere diesen intimen Moment sahen. Er schämte sich nicht – mein Vater schämte sich nie für seine Liebe zu seiner Frau –, er wollte einfach allein sein. Allein mit ihr.
Ich stelle mir vor, wie sie dort zusammen sind, mein Vater sitzt auf dem Bett, gibt meiner Mutter einen Kuss, ohne zu wissen, ob sie den spürt, er spricht zu ihr, ohne zu wissen, ob sie ihn hört, und ob sie, selbst wenn sie ihn hört, seine Worte verstehen kann. Er hatte keine Möglichkeit, das zu erkennen, sie keine Möglichkeit, es ihm zu sagen.
Ich stelle mir vor, dass er sich Sorgen machte wegen des Geräuschs beim Aufreißen der Plastiksäckchen und was sie dabei denken könnte. Ich stelle mir vor, dass er das Problem so löste, dass er eine Schere mitgebracht hatte, um die Päckchen aufzuschneiden. Ich stelle mir vor, wie er ihr erklärt, er habe ihr ein paar Kräuter zum Riechen mitgebracht. Ich stelle mir vor, wie er Basilikum unter ihren Nasenlöchern zu Röllchen verreibt. Ich stelle mir vor, wie er Thymian zwischen Daumen und Zeigefinger zerbröselt, dann Rosmarin. Ich stelle mir vor, wie er die Namen aufsagt und glaubt, dass sie die Kräuter riechen kann, und hofft, dass sie ihr Freude bereiten, sie an die Welt und ihr Entzücken daran erinnern – vielleicht sogar an einen Tag an einem ausländischen Berghang oder buschbestandenen Hügel, wo ihre Schuhe den Duft von wildem Thymian aufsteigen ließen. Ich stelle mir vor, wie er hofft, dass ihr die Gerüche nicht wie ein furchtbarer Hohn erscheinen und sie nicht an die Sonne erinnern, die sie nicht mehr sehen, an Gärten, in denen sie nicht mehr umherlaufen, an würziges Essen, das sie nicht mehr genießen kann.
Ich hoffe, er hat sich diese letzten Möglichkeiten nicht vorgestellt; ich hoffe, er war überzeugt, dass ihr in ihren letzten Tagen nur die besten, glücklichsten Gedanken vergönnt waren.
Einen Monat nach dem Tod meiner Mutter hatte mein Vater seinen letzten Termin bei dem HNO – Spezialisten.
»Er hat gesagt, er könne mich operieren, aber er könne keine größeren Erfolgsaussichten versprechen als 60/40. Ich habe ihm erklärt, dass ich keine Operation will. Er hat gesagt, es widerstrebe ihm, in meinem Fall aufzugeben, zumal meine Anosmie nur partiell sei. Er denke, mein Geruchssinn warte nur darauf, wieder geweckt zu werden.«
»Wie?«
»Weiter wie bisher. Antibiotika, Nasenspray. Leicht veränderte Rezeptur. Ich hab gesagt danke, aber nein danke.«
»Klar.« Mehr sagte ich nicht. Es war seine eigene Entscheidung.
»Weißt du, wenn deine Mutter ...«
»Ist schon in Ordnung, Dad.«
»Nein, es ist nicht in Ordnung. Wenn sie ...«
Ich schaute ihn an, schaute die Tränen an, die sich hinter seinen Brillengläsern angestaut hatten und dann freigelassen wurden und ihm über die Wangen liefen bis zum Kinn. Er ließ sie laufen; er war daran gewöhnt; sie machten ihm nichts aus. Mir auch nicht.
Er fing noch einmal an. »Wenn sie ... Dann will ich nicht ...«
»Natürlich, Dad.«
»Ich glaube, es hilft, irgendwie.«
»Natürlich, Dad.«
Er hob die Brille aus den Hautfalten, in denen sie steckte, und die letzten Tränen rannen ihm an der Nase herunter. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen.
»Weißt du, was dieser beschissene Spezialist zu mir gesagt hat, als ich ihm erklärt habe, dass ich keine Operation will?«
»Nein, Dad.«
»Er hat eine Weile dagesessen und nachgedacht, und dann hat er gesagt: ›Haben Sie einen Rauchmelder?‹ Ich sagte Nein. Er sagte: ›Vielleicht können Sie sich einen vom Amt bezahlen lassen. Aus dem Behindertenetat.‹ Ich sagte, ich wisse nicht recht. Dann sagte er weiter: ›Aber ich würde wohl zu einem erstklassigen Modell raten, und dafür wollen sie womöglich nicht aufkommen.‹«
»Klingt alles ziemlich surreal.«
»War es auch. Dann sagte er, die Vorstellung gefalle ihm nicht, dass ich daliege und schlafe und erst merke, dass das Haus brennt, wenn ich von der Hitze aufwache.«
»Hast du ihm eine reingehauen, Dad?«
»Nein, mein Sohn. Ich bin aufgestanden, hab ihm die Hand gegeben und gesagt: ›Das wäre wohl auch eine Lösung.‹«
Ich stelle mir vor, wie mein Vater nicht wütend wird, wie er aufsteht, dem Arzt die Hand gibt, sich umdreht und geht. Ich stelle es mir vor.