Bei Phil & Joanna 4: Jeder Fünfte

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Es war Ende Oktober, doch Phil wollte unbedingt ein Feuer machen mit dem Apfelbaumholz, das sie vom Land mitgebracht hatten. Der selten benutzte Kamin zog nicht richtig, sodass von Zeit zu Zeit etwas aromatischer Rauch ins Wohnzimmer drang. Wir hatten einmal mehr über Banker-Boni geredet und über Obamas anhaltende Probleme sowie darüber, dass der neue Bürgermeister von London die Gelenkbusse doch nicht aus dem Verkehr gezogen hatte, sodass wir fast schon erleichtert waren, über Joannas neue Arbeitsfläche aus Ahornholz sprechen zu können.

»Nein, es sieht gut aus, und es hält eine Menge aus.«

»Wie wir, mit anderen Worten.«

»Musst du das Holz oft ölen?«

»Es gibt so eine Formel: Eine Woche lang einmal täglich, einen Monat lang einmal wöchentlich, ein Jahr lang einmal monatlich, und danach je nach Lust und Laune.«

»Klingt wie die Formel für ehelichen Sex.«

»Dick, du Ekel.«

»Ach, deshalb hast du so oft geheiratet.«

»Da fällt mir ein –«

»Sind das nicht die vier unheilverkündendsten Wörter überhaupt: ›Da fällt mir ein‹?«

»… müssen wir jetzt rapportieren, wie die Hausaufgaben ausgefallen sind, die wir das letzte Mal aufbekommen haben?«

»Hausaufgaben?«

»Ob ihr nach dem Nachhausekommen das Tier mit zwei Rücken gemacht habt.«

»Sollten wir das? Ich kann mich nicht daran erinnern.«

»Ach, vergiss es.«

»Ja, ist es euch recht, wenn wir für diesen einen Abend ein Moratorium für Sexgespräche verhängen?«

»Nur wenn du zuvor noch die folgende Frage beantwortest: Glaubst du, dass beim Thema Sex die Leute – mit Ausnahme aller Anwesenden natürlich – mehr lügen als bei irgendeinem anderen Thema?«

»Soll das der Fall sein?«

»Ich würde sagen, die anekdotische Evidenz – zu Deutsch: das Hörensagen – spricht dafür.«

»Auch die wissenschaftliche Evidenz, würde ich meinen.«

»Wie? Dass Leute bei Umfragen zugeben, dass sie bei einer früheren Umfrage gelogen haben, wenn es um Sex ging?«

»Es ist schließlich nie jemand dabei.«

»Außer du stehst auf ›dogging‹.«

»›Dogging‹?«

»Gibt es das bei euch in Amerika nicht, Larry? Gemeint ist, dass ein Paar es in der Öffentlichkeit macht, im Auto auf einem Rastplatz beispielsweise, sodass andere sich anschleichen und zuschauen können. Es kommt von ›to walk the dog‹, ›mit dem Hund Gassi gehen‹, denn das haben Voyeure immer gesagt, wenn sie erwischt wurden. ›Dogging‹ ist eine alte englische Tradition, wie Morris-Tanz.«

»Ich weiß nicht, vielleicht in West Virginia …«

»Jetzt reicht’s, Jungs.«

»Im Grunde geht es um die Frage: Wie sollen wir wissen, ob jemand die Wahrheit sagt?«

»Wie können wir von irgendetwas wissen, ob es stimmt?«

»Sind wir jetzt bei der hohen Philosophie?«

»Nein, eher bei der niederen Praxis. Ganz allgemein. Wie können wir überhaupt etwas wissen? Ich kann mich an eine Radiosendung erinnern, in der ein Intellektueller über den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gesprochen hat und zum Schluss gekommen ist, dass man nur eines mit Sicherheit sagen kann: ›Es ist etwas geschehen.‹ Das ist mir in die Knochen gefahren.«

»Ach, hör auf damit. Wenn das so weitergeht, sind wir demnächst bei der ›Sind wirklich sechs Millionen umgekommen?‹-Frage. Oder dass die Bilder von der Mondlandung gefälscht gewesen seien, weil der eine Schatten so gar nicht möglich gewesen sei. Oder dass die Bush-Regierung 9/11 geplant habe.«

»Nur Faschisten bezweifeln den ersten Punkt, und nur Spinner glauben den zweiten.«

»Und die Bush-Regierung kann die Angriffe vom 11. September schon deswegen nicht geplant haben, weil sie nicht schiefgingen.«

»Oh, Larry gibt sich als Engländer und macht zynische Witze. Herzlichen Glückwunsch!«

»Na ja, man passt sich an …«

»Nein, mir geht es um etwas anderes, nämlich die Frage: Warum glauben wir Nichtfaschisten und Nichtspinner das, was wir glauben?«

»Nämlich?«

»Irgendwas von ›Zwei plus zwei gibt vier‹ bis ›Gott ist im Himmel, und auf Erden ist alles gut‹.«

»Aber wir glauben ja gar nicht, dass auf Erden alles gut sei, und auch nicht, dass Gott im Himmel sei. Im Gegenteil.«

»Und weshalb glauben wir das Gegenteil?«

»Weil wir das selbst herausgefunden haben, oder weil Experten gesagt haben, es sei so.«

»Und warum glauben wir den Experten, denen wir glauben?«

»Weil wir ihnen trauen.«

»Und warum trauen wir ihnen?«

»Ich beispielsweise traue Galileo mehr als dem Papst, und deshalb glaube ich, dass die Erde sich um die Sonne dreht.«

»Aber wir trauen ja gar nicht Galileo selbst, und zwar aus dem einfachen Grund, dass keiner von uns Galileos Beweisführung gelesen hat. Ich nehm das jetzt einfach mal an. Wir trauen also nicht direkt, sondern gleichsam sekundär, auf der Expertenebene.«

»Wobei diese Experten wohl mehr wissen, als Galileo gewusst hat.«

»Ja, aber damit kommen wir zu einem Paradox: Wir alle lesen Zeitungen, und die meisten von uns glauben das meiste, was in unseren Zeitungen steht. Andererseits kommt bei jeder Umfrage heraus, dass man Journalisten nicht trauen kann. Die sind ganz unten, auf dem gleichen Niveau wie Grundstücksmakler.«

»Unzuverlässig sind die Zeitungen der anderen. Unsere sind sehr wohl zuverlässig.«

»Irgendein Genie hat mal geschrieben, ein Satz, der anfange mit ›Jeder Fünfte von uns glaubt oder meint‹, sei automatisch verdächtig. Am wenigsten stimmen dürfte also ein Satz, der anfängt mit ›Vielleicht jeder Fünfte …‹«

»Wer war dieses Genie?«

»Ein Journalist.«

»Das ist wie diese Sache mit den Überwachungskameras, ihr wisst schon. Dass es in Großbritannien pro Kopf mehr von den Dingern geben soll als in jedem anderen Land der Welt. Das wissen wir alle, nicht wahr? Nun, in einer Zeitung hat ein Journalist geschrieben, das sei alles Blödsinn und nichts als Paranoia, und hat es widerlegt oder zumindest zu widerlegen versucht. Für mich hat er es jedenfalls nicht widerlegt, weil er einer dieser Journalisten ist, mit denen ich nie einer Meinung bin. Ich habe mich also geweigert zu glauben, dass er in dieser Sache recht haben könnte. Danach hab ich mich gefragt, ob ich ihm vielleicht auch deshalb nicht glaube, weil ich gern in dem Land leben möchte, das die meisten Überwachungskameras hat. Und dann habe ich vergeblich herauszufinden versucht, ob das daher kommt, dass ich mich sicherer fühle – oder ob ich eigentlich ganz gern paranoid bin.«

»Mit anderen Worten: Wo ist der Punkt oder die Linie, an dem oder an der vernünftige Menschen die Wahrheit nicht mehr als gegeben annehmen, sondern sie in Zweifel ziehen?«

»Ist es nicht so, dass in der Regel eine Häufung von Indizien dazu führt, dass man Dinge in Zweifel zu ziehen beginnt?«

»Im Sinne von: Der Ehemann ist immer der Erste, der Verdacht schöpft, und der Letzte, der tatsächlich Bescheid weiß?«

»Oder die Ehefrau.«

»Mutatis mutandis

»In propria persona

»Das ist auch so was bei den Briten. Briten wie euch jedenfalls: Dass ihr Latein sprecht.«

»Tun wir das?«

»Kann schon sein. Homo homini lupus

»Et tu, Brute

»Falls du jetzt das Gefühl hast, wir prahlen hier mit unserer Bildung. Dem ist nicht so. Es hat eher was mit Verzweiflung zu tun. Wir sind vermutlich die letzte Generation, die solche Formulierungen noch im Repertoire hat. Im Kreuzworträtsel der Times kommen jedenfalls keine Klassiker mehr vor. Auch keine Shakespeare-Zitate. Wenn wir mal tot sind, sagt keiner mehr so was wie quis custodiet ipsos custodes

»Und das ist dann ein Verlust, oder wie?«

»Meinst du das jetzt ironisch oder nicht?«

»Das weiß ich selber nicht.«

»Wer war noch mal der britische General, der in irgendeinem Krieg in Indien die Provinz Sind eroberte und ans Hauptquartier ein Telegramm schickte, in dem nur ein Wort stand: Peccavi. … Aha, ich sehe ein paar ratlose Gesichter. Das ist Lateinisch und heißt ›Ich habe gesündigt‹, auf Englisch: ›I have sinned.‹ Und das klingt nun mal gleich wie ›I have Sind‹, also ›Ich habe Sind erobert‹.«

»Har, har. Wenn du mich fragst: Ich bin verdammt froh, dass diese Zeiten vorbei sind.«

»Dir wäre wohl lieber, sie sagen ›mission accomplished‹ oder so was.«

»Nein, ich habe bloß etwas gegen imperialistische Scherze über das Umbringen von Leuten.«

»Da sprach der Fuchs zum Huhn: ›Ich will’s gewiss nicht wieder tun.‹«

»Schon gut. Doch zurück zu Galileo. Dass die Erde sich um die Sonne bewegt, ist wohl so gründlich bewiesen wie nur etwas. Aber wie steht es mit, sagen wir mal, dem Klimawandel?«

»Nun, den halten wir alle für erwiesen, nicht?«

»Erinnert ihr euch an die Zeit, als Reagan sagte, Bäume verursachten Kohlenstoff-Emissionen, worauf manche Leute an Mammutbäumen Schilder befestigten, auf denen ›Entschuldigung‹ stand und ›Alles meine Schuld‹?«

»Oder peccavi

»Genau.«

»Aber Reagan hat sowieso alles geglaubt, nicht wahr? Auch, dass er im Krieg an der Befreiung eines KZs beteiligt gewesen sei, dabei war er die ganze Zeit in Hollywood geblieben und hatte dort patriotische Filme gedreht.«

»Schon, aber verglichen mit Bush war Reagan fast schon klasse.«

»Jemand hat gesagt, Reagan sei einfach, aber nicht einfältig gewesen.«

»Nicht schlecht.«

»Doch. Das ist sophistisch, so Spin-Doctor-Zeug. Ich aber sage euch: Einfach ist einfältig.«

»Halten wir also alle die Klimaveränderung für erwiesen?«

»Ja.«

»Klar.«

»Aber was glauben wir darüber hinaus? Dass die Wissenschaftler noch genug Zeit haben, um eine Lösung zu finden? Dass die Sache auf der Kippe steht und es in zwei, fünf, zehn Jahren zu spät ist? Oder dass wir den Punkt, wo die Sache auf der Kippe stand, längst überschritten haben und wir auf dem besten Weg sind, in die Hölle zu fahren?«

»Die mittlere Variante, nicht? Und deshalb versuchen wir alle unseren ökologischen Fußabdruck zu verkleinern, isolieren unsere Häuser und recyceln.«

»Hat Recyceln etwas mit der Klimaerwärmung zu tun?«

»Ist das eine ernst gemeinte Frage?«

»Ich meine nur mal, weil, wir recyceln schon seit zwanzig Jahren oder so, und damals hat noch niemand vom Klimawandel gesprochen.«

»Also ich denke manchmal, wenn wir abends durch London fahren und all diese Bürogebäude sehen, die so grell erleuchtet sind, dass es ein Witz ist, wenn wir uns Sorgen machen, weil wir den Fernseher und den Computer auf Stand-by lassen.«

»Jede Kleinigkeit zählt.«

»Und jede Großigkeit zählt umso mehr.«

»Habt ihr vor ein paar Monaten diese beängstigende Statistik gesehen, dass von den Flugpassagieren in Indien ungefähr 75 Prozent zum ersten Mal geflogen sind, und zwar mit einer Billigfluglinie?«

»Das ist deren gutes Recht. Haben wir schließlich auch getan. Und tun wir nach wie vor, jedenfalls die meisten von uns, oder nicht?«

»Willst du damit sagen, aus Fairness müssen wir erst zulassen, dass alle anderen genauso schweinisch die Umwelt verschmutzen und mit Kohlenstoffen versauen, wie wir das getan haben, damit wir danach das moralische Recht haben, ihnen zu sagen, sie sollten damit aufhören?«

»Nein, will ich nicht. Ich will nur sagen, wir können nicht erwarten, dass die sich ausgerechnet von uns etwas vorschreiben lassen.«

»Wisst ihr, was ich das moralisch Widerlichste der letzten zwanzig Jahre oder so finde? Den Emissionshandel. Ist das nicht eine widerliche Idee?«

»Und jetzt alle:«

»›Das ist so was von verlogen.‹«

»Ihr seid Ekelzwerge, allesamt, aber du, Dick, bist ein ganz besonderes Ekel.«

»Was mich wirklich nervt, ist Folgendes. Du sortierst zum Recyceln alles aus, trennst fein säuberlich deinen Müll, und dann kommen die mit ihrem Lastwagen und schmeißen alles wieder zusammen.«

»Aber wenn wir der Meinung sind, die Sache stehe auf der Kippe, wie groß sind dann die Chancen, dass der Rest der Welt das auch so sieht?«

»Vielleicht jeder Fünfte …«

»Eigennutz. Das ist die einzig wahre Motivation. Wenn sie sehen, dass es in ihrem eigenen Interesse ist und dem der folgenden Generationen.«

»Schon, aber die folgenden Generationen wählen nicht die Politiker von heute.«

»›Was hat die Nachwelt je für mich getan?‹, wie jemand so schön gesagt hat.«

»Aber die Politiker wissen, dass den meisten Wählerinnen und Wählern die folgenden Generationen am Herzen liegen. Und die meisten Politiker haben selbst Kinder.«

»Ich glaube, der Haken dabei ist folgender: Auch wenn wir uns darauf einigen, dass Eigennutz eine wichtige Antriebskraft ist, gibt es da eine Kluft zwischen dem, was wirklich in unserem eigenen Interesse ist, und dem, wovon wir dies nur glauben.«

»Sowie zwischen langfristigem und kurzfristigem Eigennutz.«

»War das nicht Keynes?«

»Was war er nicht?«

»Stammt der Satz über die Nachwelt nicht von ihm?«

»In der Regel von ihm oder Oliver Wendell Holmes, Judge Learned Hand oder Nubar Gulbenkian.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, von wem oder wovon hier die Rede ist.«

»Habt ihr gesehen, dass französische Champagnerhersteller sich überlegen, nach England umzuziehen, weil es in Frankreich bald zu warm werden könnte für ihre Trauben?«

»Na ja, zur Zeit der alten Römer …«

»… gab es Weinberge am Hadrianswall. Damit kommst du uns immer wieder, du weinerlicher Mensch.«

»Weinerlich? Ach so, Witz, Witz. Doch ich komme deshalb darauf zurück, weil es vielleicht ein Anzeichen dafür ist, dass es in der Natur Zyklen gibt, die sich wiederholen.«

»Das große Recycling der Natur.«

»Schön wär’s. Habt ihr neulich in der Zeitung diese Landkarte zum Treibhauseffekt gesehen? Da stand, eine Erhöhung um vier Grad hätte katastrophale Folgen: in Afrika fast überall kein Wasser mehr, Wirbelstürme, Epidemien, der Meeresspiegel steigt, die Niederlande und der Südosten Englands werden überflutet.«

»Kann man nicht erwarten, dass den Holländern was einfällt? Immerhin haben sie das schon mal geschafft.«

»Von was für Zeiträumen ist hier eigentlich die Rede?«

»Wenn wir uns jetzt nicht einig werden, steigt die Temperatur bis 2060 um vier Grad.«

»Aha.«

»Auf die Gefahr hin, dass ihr mir gleich eine in die Fresse haut, aber es gibt Momente, da finde ich, es hat durchaus seinen Reiz, der letzten Generation anzugehören.«

»Welcher letzten Generation?«

»Der letzten Generation, die noch mit lateinischen Sprüchen um sich schmeißt. Sunt lacrimae rerum

»Also wenn man sich die Gattung Mensch und deren historische Verdienste anschaut, kann es durchaus sein, dass wir diesmal nicht davonkommen. Dann wären wir die letzte Generation, die wirklich unbekümmert war und keine echten Sorgen hatte.«

»Wie kannst du so was sagen? Was ist denn mit 9/11, dem Terrorismus, Aids und …«

»… der Schweinegrippe?«

»Schon, aber das sind alles lokal begrenzte und langfristig betrachtet nicht so wichtige Dinge.«

»Langfristig betrachtet sind wir alle tot. Das war jetzt tatsächlich von Keynes.«

»Und was ist mit schmutzigen Bomben und einem möglichen Atomkrieg im Nahen Osten?«

»Alles lokal begrenzt. Was ich meine, ist dieses Gefühl, dass alles außer Kontrolle geraten ist, es für alles zu spät ist und wir nichts mehr unternehmen können …«

»Dass wir längst über den Punkt hinaus sind, wo die Sache noch auf der Kippe stand.«

»… und während die Menschen früher vorausblickten und mit einem Aufstieg der Zivilisation rechneten, der Entdeckung neuer Kontinente und der Entschlüsselung der Rätsel des Universums, sehen wir nur kommen, dass alles umschlägt und im großen Stil den Bach runtergeht, dass der homo dem homini wieder zum lupus wird. Und wie es begonnen hat, so wird es dereinst auch enden.«

»Du liebes bisschen, du bist aber wirklich in einer apokalyptischen Stimmung.«

»Du hingegen hast von einem ›eigenen Reiz‹ gesprochen. Was ist reizvoll daran, dass die Welt kaputtgeht?«

»Dass du, dass wir sie gehabt haben, bevor sie kaputtging oder bevor wir kapiert haben, dass sie kaputtgehen werde. Wir sind wie diese Generation, die die Welt vor 1914 kannte, aber das Ganze hoch tausend. Ab jetzt geht es nur noch um einen – wie nennt man das – kontrollierten Niedergang.«

»Ihr recycelt also nicht?«

»Doch, natürlich tun wir das. Ich bin ein braver Junge wie alle anderen. Aber ich kann auch Nero nachvollziehen. Warum nicht fiedeln, wenn Rom brennt?«

»Glauben wir diese Geschichte? Ist das nicht wie eines dieser berühmten Zitate, die dann doch von niemandem stammen?«

»Stimmt das? Gibt es nicht Augenzeugenberichte von Neros Gefiedel? Steht das nicht bei Sueton?«

»Res ipsa loquitur

»Tony, jetzt reicht’s.«

»Ich wusste gar nicht, dass die Geigen hatten im alten Rom.«

»Joanna, endlich sagt’s mal eine.«

»Ist Stradivarius nicht ein alter römischer Name? Klingt doch irgendwie so.«

»Ist es nicht erstaunlich, wie viel wir nicht wissen?«

»Oder wie viel wir wissen, doch wie wenig wir glauben.«

»Wer war das noch mal, der sagte, er habe starke Überzeugungen, die er nur schwach verfechte?«

»Ich muss passen.«

»Ich weiß es auch nicht. Es ist mir nur eben wieder eingefallen.«

»Wisst ihr, dass unsere Stadtverwaltung Recyclingschnüffler einsetzt? Man stelle sich vor!«

»Eben das fällt mir schwer. Was tun die denn?«

»Die kommen und schauen sich deine Recyclingtonnen an, ob du auch genug von irgendwas recycelst …«

»Die kommen zu dir nach Hause? Die Drecksäcke würde ich wegen Hausfriedensbruchs verklagen.«

»… und wenn sie finden, du hast, was weiß ich, nicht genug Konservendosen recycelt, dann stecken sie dir ein Flugblatt in den Briefkasten, wo draufsteht, du sollst dich am Riemen reißen.«

»Verdammte Frechheit. Warum geben die das Geld nicht für was Besseres aus, mehr Krankenschwestern oder so?«

»So weit kommt es dann im apokalyptischen Großbritannien: Dass dir Schnüffler die Haustür einrennen, um zu schauen, ob du den Fernseher auf Stand-by hast.«

»In unseren Recyclingtonnen würden die nicht viele Konservendosen finden, weil wir kaum welche kaufen. Da ist meistens sowieso zu viel Salz und Konservierungsstoffe und solches Zeug drin.«

»Tja, wenn die Schnüffler dich erst mal in die Mangel genommen haben, wirst du Konserven kaufen und den Inhalt wegkippen, bloß damit du auf die Recyclingquote kommst.«

»Könnten sie diese Schnüffler nicht durch weitere Überwachungskameras ersetzen?«

»Kommen wir nicht etwas vom Thema ab?«

»Erstaunt dich das?«

»Stradivari.«

»Wie bitte?«

»Stradivari hieß der Geigenbauer, seine Geigen hingegen Stradivarius, zumindest im englischsprachigen Raum.«

»Von mir aus gern, von Herzen gern.«

»Als ich jung war, hasste ich es, dass die Welt von alten Knackern regiert wurde, die nicht mitbekamen, was Sache war, sondern im Siff der Historie feststeckten. Heute sind die Politiker alle so verflucht jung, dass sie auf eine andere Art nicht mitbekommen, was Sache ist, und das erfüllt mich weniger mit Hass als mit Angst, weil sie die Welt nie und nimmer kapiert haben können.«

»Als ich jung war, mochte ich kurze Bücher. Jetzt, da ich älter bin und mir weniger Zeit bleibt, stelle ich fest, dass mir lange Bücher lieber sind. Kann mir das jemand erklären?«

»Das ist das Tier in dir. Ein Teil von dir macht sich und dir vor, dir bleibe mehr Zeit, als dir tatsächlich bleibt.«

»Als ich jung war und klassische Musik zu hören anfing, mochte ich die schnellen Sätze gern, während mich die langsamen langweilten und ich kaum abwarten konnte, bis sie endlich vorbei waren. Jetzt ist es umgekehrt. Jetzt mag ich die langsamen Sätze lieber.«

»Das hat vermutlich damit zu tun, dass das Blut langsamer fließt.«

»Fließt das Blut tatsächlich langsamer? Das wüsste ich gern.«

»Wenn nicht, dann sollte es das jedenfalls.«

»Schon wieder etwas, was wir nicht wissen.«

»Wenn es nicht langsamer fließt, tut es das immerhin metaphorisch, und insofern stimmt es dann eben doch.«

»Ich wünschte mir, die Klimaerwärmung wäre auch nur eine metaphorische.«

»Die langsameren Sätze sind ergreifender. Das ist es. Die anderen sind lauter, aufregender, sind Einleitungen oder Abschlüsse. Langsame Sätze hingegen sind pure Emotion. Die sind elegisch, es geht um das Vergehen der Zeit, um unvermeidliche Verluste – das macht die langsamen Sätze aus.«

»Weiß Phil eigentlich, wovon er redet?«

»Um diese Zeit am Abend weiß ich immer, wovon ich rede.«

»Aber wieso sollten wir uns jetzt eher ergreifen lassen? Sind unsere Gefühle tiefer geworden?«

»Damals haben dich die schnellen Sätze erregt und begeistert.«

»Willst du damit sagen, wir haben immer gleich viele Gefühle, aber je nach Phase ergießen sie sich eher in diese oder in jene Richtung?«

»Vielleicht.«

»Aber die heftigsten Gefühle haben wir doch bestimmt empfunden, als wir jung waren: als wir uns verliebten, heirateten, Kinder kriegten.«

»Vielleicht halten sie jetzt dafür länger an.«

»Oder andere haben überhandgenommen: Verlust, Reue, das Gefühl, es gehe dem Ende zu.«

»Sei nicht so trübselig. Warte, bis du Enkel hast. Die werden dich überraschen.«

»›Du hast das volle Vergnügen, aber kein bisschen Verantwortung.‹«

»Nicht diese olle Kamelle.«

»Deshalb hab ich sie ja in Anführungszeichen gesetzt.«

»Außerdem ein Gefühl, dass das Leben weitergeht, wie ich es bei meinen Kindern noch nicht erlebt habe.«

»Das kommt daher, dass deine Enkel dich noch nicht enttäuscht haben.«

»Sag das bitte nicht.«

»Also gut, ich hab’s nicht gesagt.«

»Wie steht’s denn nun? Haben wir noch Hoffnung für diesen Planeten? Angesichts des Treibhauseffekts, der Unfähigkeit, zu erkennen, was tatsächlich im eigenen Interesse ist, und da die Politiker von heute so jung sind wie Polizisten?«

»Die Menschheit hat sich auch früher schon aus schwierigen Lagen zu retten vermocht.«

»Und die Jungen sind idealistischer, als wir es waren. Oder sind.«

»Und Galileo schlägt den Papst nach wie vor. Das ist eine Art Metapher.«

»Und ich habe noch keinen Arschkrebs. Das ist eine Art Tatsache.«

»Dick, damit hat sich die Sache entschieden: Auf dieser Erde lässt sich’s leben.«

»Uns wird nur allen etwas wärmer sein.«

»Und wer wird denn die Niederlande vermissen? Solange sie die Rembrandts rechtzeitig an einen höher gelegenen Ort bringen.«

»Wärmer? Wir werden auf jeden Fall ärmer sein, nachdem uns die Banker alles Geld aus der Tasche gezogen haben.«

»Außerdem müssen wir alle Vegetarier werden, denn die Fleischproduktion trägt zur Klimaerwärmung bei.«

»Rumreisen können wir auch nicht mehr so viel, außer zu Fuß oder zu Pferd.«

»›Auf Schusters Rappen‹ – der Ausdruck wird wieder in Mode kommen.«

»Wisst ihr was, im Grunde habe ich immer diesen Zeiten nachgetrauert, als sogar Leute, die sich Reisen ins Ausland leisten konnten, nur einmal im Leben eine solche Reise unternommen haben. Ganz zu schweigen vom armen Pilger, der mit seinem Stab und der Jakobsmuschelschale als Erkennungszeichen auf die einzige Pilgerfahrt seines ganzen Lebens ging.«

»Du vergisst, dass wir hier an diesem Tisch zur Galileofraktion gehören.«

»Dann kannst du ja eine Pilgerfahrt zu seinem Fernrohr in Florenz unternehmen, oder wo immer das aufbewahrt wird. Wenn es der Papst nicht verbrannt hat.«

»Und wir müssen unser Essen vermehrt selbst anbauen, was gesünder ist.«

»Und Dinge selbst reparieren wie früher.«

»Und selbst für Unterhaltung sorgen, bei Mahlzeiten im Familienkreis echte Gespräche führen und Respekt zeigen für Oma, die in der Ecke sitzt, Socken strickt für den Neuankömmling und von den alten Zeiten erzählt.«

»So weit möchten wir allerdings nicht gehen.«

»Gut, solange wir weiterhin fernsehen und uns auf Kernfamilien beschränken dürfen.«

»Und wie steht es mit Tauschhandel statt Geld?«

»So könnte man jedenfalls den Bankern eins reinwürgen.«

»Da bin ich mir nicht so sicher. Die finden bestimmt rasch eine Möglichkeit, sich wieder unentbehrlich zu machen. Dann gibt es eine Terminbörse für Regen oder Sonnenschein oder was auch immer.«

»Die gibt es jetzt schon.«

»Wisst ihr noch, wie man früher gesagt hat: ›Die Armen sterben nie aus‹?«

»Na, und?«

»Eigentlich hätte es heißen müssen: ›Die Reichen sterben nie aus‹ oder ›Banker sterben nie aus‹.«

»Eben habe ich kapiert, warum es ›Kernfamilie‹ heißt.«

»Weil sie spaltbares Material ist, das gern explodiert, wobei dann andere Menschen mit verstrahlt werden.«

»Aber … das hab ich doch sagen wollen.«

»Zu spät.«

»Hmm, dieses Apfelbaumholz riecht so …«

»Frage: Auf welchen unserer fünf Sinne könnten wir am ehesten verzichten?«

»Für Ratespiele ist es zu spät.«

»Wir kommen nächstes Mal darauf zurück.«

»Apropos …«

»Es hat toll geschmeckt.«

»So gut wie noch nie.«

»Und keiner hat ›cunt‹ gesagt.«

»Oder sexuelle Hausaufgaben aufgegeben.«

»Dann will ich dafür einen Trinkspruch ausbringen.«

»Trinksprüche gibt es nicht an diesem Tisch. Das ist eine Hausregel.«

»Keine Angst. Er gilt keinem der Anwesenden. Vielmehr den Menschen des Jahres 2060: Möge deren Leben ebenso lustvoll sein wie unseres.«

»Auf die Menschen des Jahres 2060.«

»Auf alle Menschen.«

»Auf ein lustvolles Leben.«

»Meint ihr, im Jahr 2060 lügen die Menschen immer noch, wenn es um Sex geht?«

»Vielleicht jeder Fünfte.«

»Es war übrigens A. J. P. Taylor, der Historiker.«

»Was?«

»Der sagte, er habe starke Überzeugungen, die er nur schwach verfechte.«

»Dann erhebe ich auch auf ihn stumm das Glas.«

Es folgte das übliche Hin und Her, dann zogen wir uns die Mäntel an, umarmten und küssten einander und machten uns auf den Weg zur U-Bahn-Station und zum Klein-taxi-Stand.

»Das Feuer hat ja toll gerochen«, sagte Sue.

»Und diesmal gab es nichts aus dem Maul einer toten Kuh zu essen«, sagte Tony.

»Komisches Gefühl, dass wir 2060 alle tot sein werden«, sagte Dick.

»Ach, wenn du dir solche Sprüche doch nur verkneifen würdest«, sagte Carol.

»Wir sehen uns, Leute«, sagte Larry. »Ich muss da lang.«

»Wir sehen uns«, antworteten die meisten von uns.