Der Portraitist
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Mr Tuttle hatte von Anfang an gestritten: um die Entlohnung – zwölf Dollar –, die Größe der Leinwand und den Prospekt, der im Fenster zu sehen sein sollte. Über Pose und Kostüm war man sich zum Glück rasch einig geworden. Hierbei war Wadsworth dem Zolleinnehmer gern gefällig; auch wollte er ihm gern, soweit sein Geschick es zuließ, das Aussehen eines Gentleman verleihen. Das war schließlich sein Geschäft. Er war Portraitist, aber auch Handwerker und wurde nach Handwerkstarif dafür bezahlt, das anzufertigen, was dem Kunden gefiel. In dreißig Jahren würde sich kaum einer erinnern, wie der Zolleinnehmer ausgesehen hatte; wenn er dereinst das Zeitliche gesegnet hätte, würde allein dieses Portrait an seine physische Gestalt gemahnen. Und nach Wadsworths Erfahrung legte seine Kundschaft größeren Wert darauf, als gesetzte gottesfürchtige Männer und Frauen dargestellt zu werden, als ein wahrhaftiges Abbild zu erhalten. Das bekümmerte ihn nicht.
Aus dem Augenwinkel wurde Wadsworth gewahr, dass sein Kunde etwas gesagt hatte, doch er wandte den Blick nicht von seiner Pinselspitze. Stattdessen wies er auf das gebundene Notizbuch, in dem schon so viele Modelle ihre Kommentare festgehalten, Lob und Tadel, Weisheiten und Torheiten zum Ausdruck gebracht hatten. Er hätte das Büchlein sehr wohl auf einer beliebigen Seite aufschlagen und seinen Kunden auf eine Bemerkung deuten lassen können, die ein Vorgänger zehn oder zwanzig Jahre zuvor hinterlassen hatte. Bislang waren die Ansichten dieses Zolleinnehmers nicht origineller gewesen als seine Westenknöpfe, wenn auch weniger interessant. Zum Glück wurde Wadsworth dafür bezahlt, dass er Westen abbildete und keine Ansichten. Die Sache war natürlich komplizierter: Im Grunde war die Darstellung von Weste und Perücke und Kniebundhose die Darstellung einer Ansicht, ja, eines ganzen Korpus von Ansichten. Weste und Hose zeigten den Körper dahinter, so wie Perücke und Hut das Gehirn dahinter zeigten, auch wenn es in manchen Fällen eine bildhafte Übertreibung war, den Eindruck entstehen zu lassen, dass überhaupt ein Gehirn dahinter liege.
Er würde diese Stadt mit Freuden verlassen, seine Pinsel und Leinwände, seine Farben und seine Palette in den kleinen Karren packen, seine Stute satteln und dann aufbrechen über die Waldwege, die ihn in drei Tagen nach Hause bringen würden. Dort würde er ausruhen und nachdenken und sich vielleicht zu einem anderen Leben entschließen, ohne die stete Mühe und Plage eines Wanderkünstlers. Eines Hausierers, und auch eines Bittstellers. Wie immer war er in diese Stadt gekommen, hatte sich bei Nacht ein Quartier gesucht und eine Annonce in die Zeitung gesetzt, die auf seine Fähigkeit, seine Preise und seine Anwesenheit hinwies. »Sollte es binnen sechs Tagen keine Nachfrage geben«, hieß es am Ende der Annonce, »wird Mr Wadsworth die Stadt verlassen.« Er hatte die kleine Tochter eines Tuchwarenhändlers gemalt und dann den Diakon Zebediah Harries, der ihm in seinem Haus christliche Gastfreundschaft erwiesen und ihn an den Zolleinnehmer empfohlen hatte.
Mr Tuttle hatte ihm kein Quartier angeboten; aber der Portraitist schlief bereitwillig im Stall in Gesellschaft seiner Stute und aß in der Küche. Und dort war es dann am dritten Abend zu diesem Vorfall gekommen, gegen den zu protestieren er unterlassen – oder sich nicht in der Lage gefühlt – hatte. Dieser Vorfall hatte ihm eine unruhige Nacht beschert. Er hatte ihn auch verletzt, um der Wahrheit die Ehre zu geben. Wadsworth hätte den Zolleinnehmer als einen Flegel und Grobian – von der Sorte hatte er im Laufe der Jahre genug gemalt – abtun und die Angelegenheit vergessen sollen. Vielleicht sollte er ernsthaft erwägen, sich zur Ruhe zu setzen, seine Stute fett werden zu lassen und von dem zu leben, was er an Früchten anbauen und an Vieh heranzüchten konnte. Er konnte es immer noch zu seinem Beruf machen, Fenster und Türen zu streichen statt Menschen zu malen; er hielt das nicht für unter seiner Würde.
Am ersten Vormittag hatte Wadsworth den Zolleinnehmer mit dem Notizbuch bekannt machen müssen. Wie viele andere meinte der Mann, er müsse nur den Mund weiter aufreißen, um eine Verständigung zu erreichen. Wadsworth sah zu, wie die Feder über die Seite wanderte und dann der Zeigefinger ungeduldig klopfte. »Wenn Gott gnädig ist«, schrieb der Mann, »werden Sie im Himmel vielleicht hören.« Als Antwort lächelte er leicht und nickte kurz, was man als Überraschung und Dankbarkeit hätte auslegen können. Er hatte diesen Gedanken schon viele Male gelesen. Oft war er ein wahrhaftiger Ausdruck christlichen Mitgefühls und teilnahmsvoller Hoffnung; manchmal, wie jetzt, bedeutete er kaum verhohlenes Entsetzen darüber, dass es auf dieser Welt Menschen mit solch hinderlichen Gebrechen gab. Mr Tuttle gehörte zu den Herren, die sich ihre Diener stumm, taub und blind wünschten – es sei denn, es kam ihnen anders besser zupass. Natürlich waren Herren und Diener jetzt, da die gerechtere Republik ausgerufen war, zu Bürgern und Hauspersonal geworden. Doch damit waren Herren und Diener so wenig ausgestorben wie die grundlegenden Veranlagungen des Menschen.
Wadsworth glaubte nicht, dass er unchristlich über den Zolleinnehmer urteilte. Seine Meinung hatte sich bei der ersten Begegnung herausgebildet und an jenem dritten Abend bestätigt. Der Vorfall war umso grausamer gewesen, als er ein Kind betraf, einen Gärtnerburschen, noch kaum im verständigen Alter. Der Portraitist war Kindern liebevoll zugetan: um ihrer selbst willen, weil es ihm wohltat, dass sie über sein Gebrechen hinwegsahen, und auch, weil er selbst keine Nachkommen hatte. Er hatte nie die Gemeinschaft mit einer Ehefrau gekannt. Vielleicht könnte er das noch nachholen, aber er müsste dafür Sorge tragen, dass die Frau über das gebärfähige Alter hinaus wäre. Er konnte sein Gebrechen nicht an andere weitergeben. Manch einer hatte ihm zu erklären versucht, seine Ängste seien unnötig, da die Behinderung nicht bei der Geburt eingetreten war, sondern nach einem Anfall von Fleckfieber, als Wadsworth ein Knabe von fünf Jahren gewesen war. Und habe er nicht im Übrigen, so redete man auf ihn ein, seinen Weg in der Welt gemacht, und solle sein Sohn, von welcher Konstitution auch immer, dies nicht auch können? Das mochte wohl sein, aber wenn es nun eine Tochter wäre? Der Gedanke, ein Mädchen müsse sein Leben außerhalb menschlicher Gemeinschaft verbringen, war ihm unerträglich. Sicher, ein Mädchen könnte zu Hause bleiben, und sie wären einander mitfühlend verbunden. Doch was sollte aus einem solchen Kind werden, wenn er einmal tot war?
Nein, er würde nach Hause zurückkehren und seine Stute malen. Das hatte er immer vorgehabt, und jetzt würde er es vielleicht ausführen. Die Stute begleitete ihn seit zwölf Jahren, verstand ihn ohne Mühe und störte sich nicht an den Geräuschen, die aus seinem Munde kamen, wenn sie im Wald allein waren. Sein Plan sah so aus: Er wollte die Stute malen, auf einer Leinwand von derselben Größe wie der für Mr Tuttle, nur im Querformat; und danach würde er eine Decke über das Bild werfen und es erst beim Tod der Stute enthüllen. Es war vermessen, die alltägliche Realität von Gottes lebendiger Schöpfung mit einer menschlichen Nachbildung von unzulänglicher Hand zu vergleichen – auch wenn eben dies der Zweck war, zu dem ihn seine Kunden engagierten.
Er dachte nicht, dass es leicht werden würde, die Stute zu malen. Ihr würde die Geduld und auch die Eitelkeit fehlen, mit einem stolz erhobenen Huf für ihn zu posieren. Doch andererseits würde die Stute auch nicht die Eitelkeit besitzen, vorzutreten und die Leinwand zu begutachten, während er daran arbeitete. Eben dies tat nun der Zolleinnehmer, er beugte sich über Wadsworths Schulter, guckte und zeigte. Irgendetwas gefiel ihm nicht. Wadsworth blickte auf, von dem unbewegten zu dem bewegten Gesicht hin. Er besaß zwar eine ferne Erinnerung an Sprechen und Hören und war der Schrift kundig, doch er hatte nie gelernt, Wörter vom Munde abzulesen. Wadsworth hob seinen feinsten Pinsel von dem Ornament des Westenknopfs und ließ den Blick zu dem Notizbuch wandern, während der Zolleinnehmer seine Feder eintunkte. »Mehr Würde«, schrieb der Mann, und dann unterstrich er seine Worte.
Wadsworth meinte, er habe Mr Tuttle bereits Würde genug verliehen. Er hatte seinen Körper größer, seinen Bauch kleiner gemacht, über die haarigen Muttermale auf dem Nacken hinweggesehen und sich insgesamt bemüht, Griesgrämigkeit als Fleiß, Jähzorn als charakterliche Festigkeit darzustellen. Und jetzt verlangte der Mann noch mehr davon! Das war eine unchristliche Forderung, und es wäre unchristlich von Wadsworth, sich diesem Verlangen zu fügen. Vor dem Auge Gottes würde es dem Mann keinen Dienst erweisen, wenn der Portraitist ihm erlaubte, sich von all der geforderten Würde geschwellt zu zeigen.
Er hatte Säuglinge gemalt, Kinder, Männer und Frauen und sogar Leichen. Dreimal hatte er seine Stute zu einem Totenbett getrieben, wo er eine Wiederauferstehung vollbringen sollte – jemanden als Lebenden darstellen, den er gerade als Toten angetroffen hatte. Wenn er dazu fähig war, dann sollte er wohl auch fähig sein, die Lebendigkeit seiner Stute wiederzugeben, wenn sie mit dem Schwanz nach den Fliegen schlug oder ungeduldig den Hals reckte, während Wadsworth den kleinen Malerkarren rüstete, oder die Ohren spitzte, wenn er Geräusche zum Wald hin machte.
Früher einmal hatte er versucht, sich anderen Sterblichen durch Gesten und Laute verständlich zu machen. Und wirklich ließen sich einige einfache Handlungen leicht vorführen: So konnte er einem Kunden etwa zeigen, welche Stellung dieser womöglich einzunehmen wünschte. Doch andere Gesten führten oft zu einem demütigenden Ratespiel; und die Laute, die er von sich geben konnte, brachten nicht zum Ausdruck, worin sein Anliegen bestand oder dass er gleichfalls ein Mensch war, Teil der Schöpfung des Allmächtigen, wenn auch anders geschaffen. Frauen fanden seine Laute genierlich, für Kinder waren sie ein Quell gutmütiger Neugier, für Männer ein Beweis des Schwachsinns. Er hatte sich bemüht, darin Fortschritte zu machen, doch ohne Erfolg, und so war er wieder in die Stummheit verfallen, die man erwartete und vielleicht auch vorzog. Und zu der Zeit erwarb er dann sein in Kalbsleder gebundenes Notizbuch, in dem sich die Aussagen und Meinungen der Menschen immer gleich blieben: »Glauben Sie, Sir, dass es im Himmel Malerei gibt?« »Glauben Sie, Sir, dass es im Himmel ein Gehör gibt?«
Doch wenn er sich eine gewisse Menschenkenntnis erworben hatte, dann entsprang diese weniger den niedergeschriebenen Bemerkungen als vielmehr seinen stummen Beobachtungen. Männer – und auch Frauen – bildeten sich ein, sie könnten ihre Stimme und Aussage verändern, ohne dass sich das auf ihrem Gesicht zeigte. Darin täuschten sie sich sehr. Sein eigenes Gesicht brachte, wenn er den Karneval der Menschheit betrachtete, so wenig zum Ausdruck wie seine Zunge; aber sein Auge verriet ihm mehr, als andere ahnten. Früher hatte er in seinem Notizbuch einen Packen handgeschriebener Karten mit sich geführt, auf denen nützliche Erwiderungen, notwendige Vorschläge und höfliche Korrekturen standen, um so auf das einzugehen, was ihm vorgetragen wurde. Er hatte sogar eine spezielle Karte für den Fall, dass er von seinem Gegenüber mit größerer Herablassung behandelt wurde, als er für schicklich hielt. Auf dieser Karte stand: »Sir, der Verstand hört nicht auf zu funktionieren, wenn die Pforten des Geistes verschlossen sind.« Dies wurde bisweilen als gerechter Tadel hingenommen, bisweilen für eine Unverschämtheit gehalten, da es von einem bloßen Handwerker kam, der im Stall schlief. Wadsworth hatte es dann aufgegeben, diese Karte zu benutzen, nicht dieser oder jener Reaktion wegen, sondern weil er so zu viel Wissen eingestand. Die in der Welt der Sprache lebten, waren in allem im Vorteil: Sie zahlten ihm sein Geld, sie hatten Einfluss und Ansehen, sie verkehrten in Gesellschaft, sie tauschten ganz natürlich Gedanken und Meinungen aus. Dabei konnte Wadsworth trotz alledem nicht erkennen, dass Sprechen an sich schon der Tugend förderlich war. Er selbst hatte nur zwei Vorteile: dass er die Sprechenden auf einer Leinwand abbilden und dass er stillschweigend ihre Aussagen beobachten konnte. Es wäre töricht gewesen, sich dieses zweiten Vorteils zu begeben.
Da war zum Beispiel diese Sache mit dem Klavier. Wadsworth hatte zunächst durch Deuten auf seine Honorartabelle erkundet, ob der Zolleinnehmer ein Portrait der gesamten Familie wünschte, ein Doppelportrait von sich und seiner Frau oder ein Gemeinschaftsportrait, vielleicht mit Miniaturen der Kinder. Mr Tuttle hatte, ohne seine Frau anzusehen, auf die eigene Brust gedeutet und auf das Gebührenblatt geschrieben: »Ich allein.« Dann warf er einen Blick auf seine Frau, legte eine Hand ans Kinn und fügte hinzu: »Neben dem Klavier.« Wadsworth bemerkte das hübsche Instrument aus Rosenholz und fragte mit einer Geste, ob er an es herantreten dürfe. Dann führte er mehrere Posen vor: vom ungezwungenen Sitzen neben der offenen Tastatur mit einem aufgeschlagenen Lieblingslied bis zum eher förmlichen Stehen neben dem Instrument. Tuttle nahm Wadsworths Platz ein, stellte sich in Positur, schob einen Fuß vor und schlug dann nach einiger Überlegung den Klavierdeckel zu. Wadsworth schloss daraus, dass nur Mrs Tuttle auf dem Klavier spielte, und weiter, dass Tuttles Wunsch, das Instrument in das Bild aufzunehmen, indirekt seine Frau in das Portrait aufnehmen sollte. Indirekt und obendrein preisgünstiger.
Der Portraitist hatte dem Zolleinnehmer einige Miniaturen von Kindern gezeigt in der Hoffnung, ihn umzustimmen, doch Tuttle schüttelte nur den Kopf. Wadsworth war enttäuscht, teils des Geldes wegen, doch mehr noch deshalb, weil sein Vergnügen an der Darstellung von Kindern gestiegen war, während das an der Darstellung ihrer Erzeuger abgenommen hatte. Gewiss, Kinder waren beweglicher als Erwachsene, ihre Formen unbeständiger. Doch sie schauten ihm auch in die Augen, und wer taub war, der hörte mit den Augen. Kinder hielten seinem Blick stand, und so nahm er ihr Wesen wahr. Erwachsene schauten oft weg, sei es aus Bescheidenheit oder aus dem Wunsch, etwas zu verbergen; manche dagegen starrten, wie der Zolleinnehmer, herausfordernd zurück, mit einer falschen Aufrichtigkeit, als wollten sie sagen: Natürlich verbergen meine Augen etwas, aber Sie sind nicht scharfsinnig genug, dies zu erkennen. Für solche Kunden war Wadsworths Wesensverwandtschaft mit Kindern der Beweis, dass es ihm ebenso an Verstand mangelte wie den Kindern. Für Wadsworth hingegen war diese Wesensverwandtschaft der Beweis, dass sie ebenso klar sahen wie er.
Als er sein Gewerbe aufnahm, hatte er seine Pinsel und Farben auf dem Rücken getragen und war über die Waldwege gezogen wie ein Hausierer. Er war auf sich allein gestellt und vertraute auf Empfehlungen und Werbung. Aber er war fleißig, und da er ein geselliges Wesen besaß, war er dankbar, dass sein Können ihm Zugang zum Leben anderer eröffnete. Er kam in ein Haus, und ob er nun im Stall untergebracht, beim Personal einquartiert oder, sehr selten und nur in den allerchristlichsten Häusern, wie ein Gast behandelt wurde, für diese wenigen Tage hatte er eine Aufgabe und fand Anerkennung. Das bedeutete nicht, dass er weniger herablassend behandelt wurde als andere Handwerker; aber zumindest hielt man ihn für einen normalen Menschen, das heißt einen Menschen, der Herablassung verdiente. Er war glücklich, vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben.
Und dann erkannte er allmählich, ohne dass ihm etwas anderes zu dieser Erkenntnis verholfen hätte als seine eigenen Wahrnehmungen, dass er mehr hatte als eine bloße Aufgabe; er hatte selbst Macht. Seine Kunden würden das nicht zugeben; aber seine Augen sagten ihm, dass es so war. Langsam wurde ihm die Wahrheit seines Handwerks klar: Der Kunde war der Herr, bis auf die Momente, in denen er, James Wadsworth, der Herr des Kunden war. Zunächst einmal war er der Herr des Kunden, wenn sein Auge erkannte, was der Kunde ihn nicht wissen lassen wollte. Die Verachtung eines Ehemanns. Die Unzufriedenheit einer Ehefrau. Die Heuchelei eines Diakons. Das Leiden eines Kindes. Die Selbstgefälligkeit eines Mannes, der das Geld seiner Ehefrau ausgeben konnte. Die lüsternen Blicke, die ein verheirateter Mann auf das Hausmädchen warf. Große Dinge in kleinen Königreichen.
Und des Weiteren bemerkte er, dass er, wenn er im Stall aufgestanden war, sich die Pferdehaare von den Kleidern geklopft hatte und dann ins Haus hinüberging und zu einem Pinsel aus den Haaren eines anderen Tieres griff, mehr wurde als der, für den man ihn hielt. Die ihm Modell saßen und ihn bezahlten, wussten im Grunde nicht, was sie für ihr Geld bekommen würden. Sie wussten, was abgemacht war – die Größe der Leinwand, die Pose und das schmückende Beiwerk (die Schale mit Erdbeeren, der Vogel auf einer Schnur, das Klavier, die Aussicht aus einem Fenster) –, und aus dieser Abmachung leiteten sie ihre Herrschaft ab. Doch in eben diesem Moment ging die Herrschaft auf die andere Seite der Leinwand über. Bisher hatten sie sich ein Leben lang in Spiegeln und Handspiegeln gesehen, in Löffelrücken und, verschwommen, in klaren, stillen Gewässern. Es hieß sogar, bei Liebenden könne einer sein Spiegelbild im Auge des anderen sehen; aber darin hatte der Portraitist keine Erfahrung. Doch all diese Bilder hingen von dem Menschen vor dem Glas, dem Löffel, dem Wasser, dem Auge ab. Wenn Wadsworth seinen Kunden ein Portrait ablieferte, sahen sich diese für gewöhnlich zum ersten Mal so, wie ein anderer sie sah. Manchmal nahm der Portraitist bei der Präsentation des Bildes wahr, wie den Mann, der ihm Modell gesessen hatte, ein jäher Schauder überlief, als ob dieser Mann dächte: So also bin ich in Wirklichkeit? Es war ein Moment von dunkler Bedeutsamkeit: Mit diesem Bild würde er in Erinnerung bleiben, wenn er tot war. Und dann gab es eine Bedeutsamkeit, die noch über diese hinausging. Wadsworth hielt sich nicht für vermessen, wenn sein Auge ihm sagte, dass der nächste Gedanke seines Modells oft war: Und so wird mich vielleicht auch der Allmächtige sehen? Wer nicht die Bescheidenheit besaß, sich solchen Zweifeln hinzugeben, benahm sich gern so, wie es jetzt der Zolleinnehmer tat: Er verlangte Änderungen und Verbesserungen, er erklärte dem Portraitisten, dass dessen Hand und Auge fehlerhaft seien. Ob diese Menschen die Eitelkeit besäßen, sich dereinst auch bei Gott zu beschweren? »Mehr Würde, mehr Würde.« Eine Anweisung, die ihm umso mehr widerstrebte, wenn er an Mr Tuttles Betragen in der Küche zwei Abende zuvor dachte.
Wadsworth hatte, mit seinem Tagwerk zufrieden, sein Abendessen eingenommen. Er hatte soeben das Klavier beendet. Das schmale Bein des Instruments, welches parallel zu Tuttles stämmigerem Bein verlief, endete in einer goldenen Klaue, deren Wiedergabe Wadsworth einige Mühe bereitet hatte. Doch nun konnte er sich erfrischen, sich am Kamin ausstrecken, etwas essen und die Gesellschaft des Personals beobachten. Dieses war zahlreicher als erwartet. Ein Zolleinnehmer mochte wohl fünfzehn Dollar die Woche verdienen, genug, um sich ein Hausmädchen zu halten. Doch Tuttle hielt sich außerdem eine Köchin und einen Jungen für die Gartenarbeit. Da der Zolleinnehmer nicht den Eindruck machte, als ginge er mit seinem eigenen Geld verschwenderisch um, folgerte Wadsworth, dass es Mrs Tuttles Mitgift war, die eine solch luxuriöse Aufwartung erlaubte.
Nachdem sich das Personal an Wadsworths Gebrechen gewöhnt hatte, verhielt es sich ihm gegenüber ganz unbefangen, als machte ihn seine Taubheit zu ihresgleichen. Diese Gleichheit gestand er ihnen gerne zu. Der Gärtnerbursche, ein Knirps, dessen Augen die Farbe gebrannter Umbra hatten, wollte ihn mit kleinen Kunststückchen unterhalten. Er musste wohl denken, dass es dem Portraitisten, da er der Worte beraubt war, an Unterhaltung fehlte. Dem war nicht so, doch er ließ sich diese Gefälligkeit gerne gefallen und lächelte, als der Junge Rad schlug, sich hinter der Köchin anschlich, während sie sich zum Backofen beugte, oder ein Ratespiel veranstaltete, bei dem er Eicheln in seinen Fäusten verbarg.
Der Portraitist hatte seine Bouillon ausgelöffelt und wärmte sich am Feuer – ein Element, mit dem Mr Tuttle im übrigen Hause nicht freigebig war –, als ihm eine Idee kam. Er zog einen angekohlten Stecken vom Rande der Asche, berührte den Gärtnerburschen an der Schulter, um ihm zu bedeuten, er solle so bleiben, wie er war, und holte dann ein Skizzenbuch aus der Tasche. Die Köchin und das Hausmädchen wollten zusehen, was er da tat, aber er hielt sie mit einer Hand fern, als wollte er sagen, dass dieses spezielle Kunststück, das er zum Dank für die Kunststücke des Jungen darbieten werde, unter Beobachtung nicht gelingen könne. Es war eine grobe Skizze – bei dem primitiven Werkzeug konnte sie nicht anders sein –, doch sie zeigte eine gewisse Ähnlichkeit. Er riss die Seite aus dem Buch und reichte sie dem Jungen. Das Kind schaute ihn erstaunt und dankbar an, legte die Skizze auf den Tisch, nahm Wadsworths Zeichenhand und küsste sie. Ich sollte immer Kinder malen, dachte der Portraitist, während er dem Jungen in die Augen sah. Fast hätte er nicht bemerkt, welch ein Tumult und Gelächter ausbrach, als die beiden anderen die Zeichnung betrachteten, und welche Stille eintrat, als der Zolleinnehmer, von dem plötzlichen Lärm angelockt, in die Küche kam.
Der Portraitist sah zu, wie Tuttle dort stand, einen Fuß vorgeschoben wie auf seinem Portrait, und sein Mund sich auf eine Art öffnete und schloss, die keine Würde erkennen ließ. Er sah zu, wie die Köchin und das Hausmädchen eine schicklichere Haltung einnahmen. Er sah zu, wie der Junge auf einen Blick seines Herrn hin die Zeichnung nahm und sie ihm bescheiden und stolz aushändigte. Er sah zu, wie Tuttle das Blatt ruhig entgegennahm, es betrachtete, erst den Jungen, dann Wadsworth ansah, nickte, die Zeichnung bedächtig in vier Teile riss, sie ins Feuer legte, wartete, bis dieses aufloderte, noch etwas sagte, wobei er dem Portraitisten im Viertelprofil erschien, und die Küche verließ. Er sah zu, wie der Junge weinte.
Das Portrait war vollendet: Das Klavier aus Rosenholz glänzte ebenso wie der Zolleinnehmer. In dem Fenster an Mr Tuttles Seite war das kleine weiße Zollhaus zu sehen – nicht, dass da ein wirkliches Fenster gewesen wäre, und selbst in dem Fall hätte man dort kein Zollhaus gesehen. Doch diese bescheidene Überhöhung der Realität leuchtete jedermann ein. Und vielleicht hatte der Zolleinnehmer gemeint, er verlange nur eine entsprechende Überhöhung der Realität, als er mehr Würde forderte. Er stand noch immer über Wadsworth gebeugt und deutete auf die Darstellung seines Gesichts, seiner Brust, seines Beins. Es war ganz unwichtig, dass der Portraitist nicht hören konnte, was er sagte. Er wusste genau, was gemeint war, und auch, wie wenig es ihm bedeutete. Ja, es war ein Vorteil, nichts zu hören, denn die Einzelheiten hätten zweifellos noch größeren Zorn in ihm aufsteigen lassen, als er ohnehin empfand.
Er griff nach seinem Notizbuch. »Sir«, schrieb er, »wir haben fünf Tage für meine Arbeit ausgemacht. Ich muss morgen früh bei Tagesanbruch abreisen. Wir haben ausgemacht, dass Sie mich heute Abend bezahlen. Bezahlen Sie mich, geben Sie mir drei Kerzen, und ich werde bis zum Morgen die gewünschten Verbesserungen ausführen.«
Es war selten, dass er einem Kunden so wenig Ehrerbietung erwies. Das würde seinem Ruf in diesem Landkreis schaden; aber das kümmerte ihn nicht mehr. Er hielt Mr Tuttle die Feder entgegen, doch dieser geruhte nicht, sie entgegenzunehmen. Stattdessen ging er hinaus. Der Portraitist wartete und betrachtete derweil seine Arbeit. Sie war gut gelungen: die Proportionen gefällig, die Farben harmonisch abgestimmt, und die Ähnlichkeit hielt sich in den Grenzen der Ehrlichkeit. Der Zolleinnehmer sollte zufrieden sein, die Nachwelt beeindruckt und sein Schöpfer – immer vorausgesetzt, er würde in den Himmel kommen – nicht allzu vorwurfsvoll.
Tuttle kehrte zurück und händigte ihm sechs Dollar – das halbe Honorar – und zwei Kerzen aus. Die Kosten für die Kerzen würden zweifellos von der zweiten Hälfte des Honorars abgezogen werden, wenn dieses zur Auszahlung käme. Falls es zur Auszahlung käme. Wadsworth betrachtete lange das Portrait, das für ihn schon eine ebensolche Realität angenommen hatte wie das Modell aus Fleisch und Blut, und dann traf er mehrere Entscheidungen.
Er nahm sein Abendessen wie gewöhnlich in der Küche ein. Am vorigen Abend waren seine Gefährten in die Schranken gewiesen worden. Er glaubte nicht, dass sie ihm die Schuld an dem Vorfall mit dem Gärtnerburschen gaben; im äußersten Fall dachten sie, sein Auftreten habe zu ihrem eigenen Fehlurteil geführt, und nun waren sie geläutert. Jedenfalls verstand Wadsworth es so, und er glaubte nicht, dass er klarer sähe, wenn er Gesprochenes hören oder von den Lippen lesen könnte; ja, vielleicht eher im Gegenteil. Nach seinem Notizbuch mit den Gedanken und Beobachtungen der Menschen zu urteilen, war es mit der Selbsterkenntnis der Welt, so sie ausgesprochen und niedergeschrieben wurde, nicht weit her.
Dieses Mal wählte er sein Kohlenstück mit größerer Sorgfalt und schabte mit seinem Taschenmesser daran herum, bis das Ende annähernd spitz war. Als ihm der Junge dann eher aus Angst denn aus dem Pflichtgefühl eines Modells reglos gegenüber saß, zeichnete der Portraitist ihn noch einmal. Als er fertig war, riss er das Blatt heraus, stellte, während der Junge ihn ansah, pantomimisch dar, er solle es unter seinem Hemd verbergen, und reichte es dann über den Tisch. Der Junge tat sofort, was er gesehen hatte, und lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. Danach zeichnete Wadsworth, vor jeder neuen Aufgabe sein Kohlenstück anspitzend, die Köchin und das Hausmädchen. Beide nahmen das Blatt und versteckten es, ohne es anzuschauen. Dann erhob er sich, gab ihnen die Hand, umarmte den Gärtnerburschen und machte sich an seine nächtliche Arbeit.
Mehr Würde, wiederholte er im Innern, während er die Kerzen anzündete und seinen Pinsel zur Hand nahm. Nun gut, ein würdevoller Mann ist ein Mann, dessen Erscheinung von lebenslangem Denken kündet; ein Mann, dessen Stirn das zum Ausdruck bringt. Ja, hier war eine Verbesserung vonnöten. Er maß den Abstand zwischen Augenbraue und Haaransatz und formte in der Mitte, direkt über dem rechten Augapfel, die Stirn weiter aus: eine Schwellung, ein kleiner Hügel, fast so, als beginne dort etwas zu wachsen. Dann tat er das Gleiche über dem linken Auge. Ja, das war besser. Doch Würde erschloss sich auch aus der Beschaffenheit des Kinns. Nicht, dass an Tuttles Kieferpartie geradezu etwas auszusetzen gewesen wäre. Aber vielleicht könnten die erkennbaren Anfänge eines Bartes nützlich sein – einige wenige Tupfer auf jeden Punkt des Kinns. Nichts, was unmittelbar ins Auge fallen, geschweige denn Anstoß erregen würde; nur eine Andeutung.
Und vielleicht war noch eine weitere Andeutung erforderlich. Er blickte an dem kräftigen und würdigen Bein des Zolleinnehmers hinab, von der bestrumpften Wade bis zum Schnallenschuh. Dann blickte er am parallelen Bein des Klaviers hinab, vom geschlossenen Deckel bis zu der goldenen Klaue, die ihn so aufgehalten hatte. Vielleicht hätte sich diese Mühe vermeiden lassen? Der Zolleinnehmer hatte nicht eigens bestimmt, dass das Klavier exakt wiedergegeben werden sollte. Wenn beim Fenster und beim Zollhaus ein wenig Überhöhung betrieben wurde, warum nicht auch beim Klavier? Umso mehr, als der Anblick einer Klaue neben einem Zollamtmann auf ein habsüchtiges und raubgieriges Wesen hindeuten könnte, und das würde kein Kunde sich wünschen, ob es nun Beweise dafür gab oder nicht. Daher übermalte Wadsworth die Katzenpfote und ersetzte sie durch einen eher unauffälligen Huf, von grauer Farbe und leicht gegabelt.
Gewohnheit und Besonnenheit mahnten ihn, die zwei Kerzen zu löschen, die man ihm gewährt hatte; doch der Portraitist beschloss, sie brennen zu lassen. Sie gehörten jetzt ihm – oder zumindest hätte er bald für sie bezahlt. Er wusch seine Pinsel in der Küche aus, packte seinen Malkasten, sattelte seine Stute und spannte sie vor den kleinen Karren. Sie schien ebenso froh wie er, dass es nun fortging. Als sie ein paar Schritte vom Stall entfernt waren, sah er vom Kerzenschein erhellte Fensterkonturen. Er schwang sich in den Sattel, die Stute setzte sich in Bewegung, und bald spürte er kalte Luft auf dem Gesicht. Bei Tagesanbruch, in einer Stunde, würde das Hausmädchen sein vorletztes Portrait betrachten und dabei die verschwenderischen Kerzen ausdrücken. Er hoffte, dass es im Himmel Malerei geben würde, aber mehr noch hoffte er, dass es im Himmel Taubheit geben würde. Die Stute, die bald das Motiv seines letzten Portraits werden sollte, fand ihren Weg von allein. Nach einer Weile, als Mr Tuttles Haus schon weit hinter ihnen lag, schrie Wadsworth in die Waldesstille hinein.