Kapitel 2

AUF WIEDERSEHEN, MEINE KINDER

 

Anfangs vermochte Mamah nicht einmal den Kopf vom Kissen zu heben. Es war, als wäre sie vom Hals abwärts gelähmt, an die Matratze gefesselt wie eine jener zerlumpten, kreischenden Frauen im Irrenhaus, begraben unter einer Lawine, einem Felsrutsch auf den tiefsten Grund des Meeres gesunken. Selbst wenn das Haus plötzlich in Flammen aufgegangen wäre, hätte sie sich nicht rühren können, weder um ihr eigenes Leben zu retten noch das von John und Martha. Nach dem Lichteinfall zu schließen, musste es jetzt später Nachmittag sein, und sie hatte hier gelegen, seit die Sonne strahlend hinter dem Massiv der braunen Berge aufgegangen war und die gelben Blätter der Pappeln oder Espen oder was immer sie waren in der Brise gezittert und geflirrt hatten. Sie hatte geschlafen, hatte geträumt, war aufgewacht, und das hatte sich ständig wiederholt, und nichts hatte sich geändert. Julia* war tot und das Baby ebenfalls, und ihr selbst waren weder die blutigen Laken noch das verzweifelte, hektische Auf-undab-Gehen in der Stunde vor dem Morgengrauen oder der Ausdruck in den Augen des Arztes mit der Maske und dem unsichtbaren Mund erspart geblieben.

 

* Ein erfundener Name. Die wirkliche Identität dieser unglücklichen Frau ist nicht überliefert, obwohl eine Reise nach Boulder, Colorado, und eine Einsichtnahme in die Krankenhausunterlagen ihn vielleicht enthüllt hätten. Doch O 'Flaherty-San und ich fühlen uns wohl in Nagoya - wir streben lediglich nach einer gutrecherchierten Annäherung an die historischen Fakten. Siehe »Albert Bleutick«, Fußnote Seite 38.

 

Sie hörte das Haus knacken und ächzen, während die Sonne für einen Augenblick über dem Gipfel des höchsten Berges verharrte und dann verschwand. Die trockene Gebirgskälte kroch in die Wände, das Dach und die widerspenstigen Fensterrahmen.

Bald würde es dunkel sein, und dann würde sie die ganze Nacht daliegen und morgen wieder den ganzen Tag. Und was war mit den Kindern? Sie mussten inzwischen von der Schule nach Hause gekommen sein - Julias Teddy und Joe und ihr eigener Sohn -, aber die Dienstmädchen würden sich schon um sie kümmern, besonders um Julias Jungen. Und um ihren Mann. Mamah wurde bewusst, dass sie mit Julias Mann allein im Haus war, einem Mann, den sie nie besonders gemocht hatte, einem Mann wie Edwin, wortkarg und verschlossen, als würde er durch Denken, Empfinden und die Erkundung der Seele irgendeinen männlichen Schwur brechen, als wäre Gefühllosigkeit der Schlüssel zum Leben. Nun, sie war nicht gefühllos. Sie war lebendig. Und sie war hierhergefahren, um einem Mann zu entkommen, der nicht mehr Empfindung besaß als ein Stein, und um mit Julia, ihrer besten Freundin, zusammenzusein, einer anmutigen, lebhaften Frau in der Blüte ihrer Jahre, deren letzte Schwangerschaft so anstrengend gewesen war und die einen Menschen brauchte, mit dem sie zusammensein, lachen und empfinden konnte, und war es denn ein Wunder, dass sie sich in den vergangenen Monaten zum erstenmal seit Jahren zu Hause, wirklich zu Hause gefühlt hatte?

Und nun war Julia tot, und sie war eine Fremde im Haus eines anderen Mannes.

Dieser Gedanke ließ sie abrupt hochfahren. Die Krisis war da. Sie musste in Bewegung kommen, handeln, nach den Kindern sehen. Und ihren Koffer, sie musste den Koffer packen, denn hier würde sie keinen Augenblick länger bleiben. Und Frank. Sie musste Frank ein Telegramm schicken. Bei dem Gedanken an das, was sie ihm schreiben würde - wie sollte sie ihm auch nur annähernd schildern, was sie empfand, den Schock, den die Worte der Krankenschwester ausgelöst hatten, Julias Blut, das nicht gestillt werden konnte und das in einem breiten Fluss jedes Laken, jedes Tuch, jedes Kleidungsstück tränkte, bis sie aussahen wie Reliquien irgendwelcher Heiliger, das totgeborene Kind, das zusammengekrümmt und grau wie ein Stück Wachs an der Schulter seiner toten Mutter lag, die Nacht, die sie verbracht hatte, die Angst und den Schmerz und die Wut-, bei dem Gedanken daran spürte sie die Trauer in sich aufsteigen, bis sich alles grau färbte und die Berge vor den Fenstern im Nichts verschwanden.

Aber sie würde nicht weinen. Nein, das würde sie nicht. Dafür war keine Zeit.

Zunächst musste sie sich umziehen - sie trug noch immer das Kleid von gestern - und etwas essen. Allerdings wollte sie nicht nach einem der Dienstmädchen läuten. Dieser Gedanke lähmte sie. Wenn sie läutete, würde ihnen einfallen, dass sie noch da war, sie würden kommen, ins Zimmer treten, sie anstarren und sprechen und nicken und ihr unmögliche Fragen stellen - ob sie Suppe wolle, ein Sandwich, Butter, Marmelade -, und das konnte sie nicht zulassen. Und auf keinen Fall wollte sie hinuntergehen in das Esszimmer oder die Küche, wo sie ihm, dem Personal, den mittlerweile gewiss eingetroffenen Verwandten oder sonst jemandem begegnen würde - und in diesem Augenblick wurde ihr bewusst, dass sie auch ihre Kinder nicht sehen wollte. Bei dem Gedanken an John und Martha mit ihrer Vielzahl von Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten und der Erkenntnis, dass es an ihr war, die Andeutungen der Dienstmädchen zu beschönigen, die den beiden gesagt hatten, Teddy und Joe sei alles Spielen streng untersagt und ihre eigene Mutter fühle sich nicht wohl und dürfe unter keinen Umständen gestört werden, fühlte sie sich abermals wie gelähmt. Sie stellte sich lebhaft vor, wie sie aus dem Fenster stieg, am nächsten Baum hinunterkletterte, sich zur Straße schlich, zum Bahnhof ging und einen Zug nahm, der sie fortbrachte ... Wohin?

Zu Frank. Dorthin brachte sie der Zug. Zu Frank.

Sie knöpfte das Kleid auf, zog es über den Kopf und ließ es auf den Boden fallen. Dann ging sie ins Badezimmer und ließ die Wanne ein. Die Kacheln unter ihren Füßen waren kalt. Sie roch ihren eigenen Geruch, den getrockneten Schweiß unter den Achseln und zwischen den Beinen, den Geruch von Angst und Ungewissheit. Als sie nach dem Wasserhahn griff, sah sie, dass ihre Hand zitterte, und versuchte, sie so distanziert zu betrachten, als wäre es die Hand einer anderen, doch das gelang ihr nicht. Sie musste sich fragen, warum ihre Hand zitterte. Wegen Julia? Weil das Leben sie verlassen hatte und der Schock so gewaltig war, dass sie selbst es kaum ertragen konnte, am Leben zu bleiben? Weil sie nicht hierbleiben und nicht zu Edwin zurückkehren konnte? Oder war es etwas anderes, etwas, das sie nicht benennen konnte, der dunkle Höhepunkt ihres Lebens, der sich entfalten wollte? Sie stellte das Wasser ab und richtete sich auf. Was dachte sie sich nur? Sie hatte keine Zeit für ein Bad. Ein Bad zu nehmen war verrückt, lachhaft. Der lächerliche Einfall einer Frau, die sich nicht entscheiden konnte. Sie zog die Unterwäsche aus, wusch sich rasch mit dem Schwamm und wagte dabei nicht, in den Spiegel zu blicken, aus Angst, dort eine andere Frau zu sehen, eine Frau, die die Kinder trösten und die Beerdigung abwarten würde, die bei ihren Gefühlen verweilte wie bei den Perlen eines Rosenkranzes und sich anderen widmete. Die Blumen bestellte. Ihr Gesicht hinter einem schwarzen Schleier verbarg. Eine solche Frau. Als sie sich anzog und ihre Kleider in den Koffer legte, entwarf sie in Gedanken das Telegramm an Edwin und den Brief, der folgen würde. Julia ist tot, Edwin. Nein. Es hat eine schreckliche Tragödie gegeben. Julia ist bei der Entbindung gestorben. Ich kann keine Minute länger in diesem Haus bleiben. Es ist zu schmerzhaft. Komm mit dem nächsten Zug und hole die Kinder. Deine Frau.

Als der Koffer gepackt war, setzte sie den Hut auf, zog den Mantel an, öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte den Flur hinauf und hinunter. Julias Mann hatte sein Vermögen mit Silber verdient - er hatte irgendwo in diesem labyrinthischen Gebirge eine Bergbaugesellschaft betrieben* -, und das Haus war Zeugnis seines Wunschesnach gesellschaftlichem Aufstieg: ein weitläufiges, geschmacklos eingerichtetes Anwesen im Queen-Anne-Stil mit zwanzig Schlafzimmern und einem Gewirr dunkler Flure. Es war das Gegenteil dessen, was Frank beim Bau ihres eigenen Hauses gelungen war, und sie hatte es immer gehasst. Bis jetzt. Jetzt war es geradezu ideal: Wandlampen warfen ein trübes Licht, Treppen führten ins Nichts, und in den Fluren hatte man das Gefühl, unter der Erde zu sein, als hätte der Architekt versucht, den Eindruck zu erzeugen, man befinde sich in einem Minenstollen. Es war niemand zu sehen. Alles war ruhig.

 

* Nennen wir sie Roaring ForkMines und nehmen wir an, dass er sie vor dem Kollaps des Silbermarktes im Jahr 1893 verkauft oder sein Anlagevermögen diversifiziert hatte.

 

Das Zimmer der Kinder war in der ersten Etage, genau unter dem ihren. Um diese Uhrzeit hatten sie gewiss bereits zu Abend gegessen, und an jedem anderen Tag hätten sie jetzt im Wohnzimmer vor dem Kamin gesessen und gespielt, gelesen oder gemalt, doch da der Haushalt sich in Trauer befand, waren sie vermutlich in ihrem Zimmer. Es wurde dunkel, und John war ohnehin nicht so erpicht darauf, sich draußen herumzutreiben. Martha war zu klein, um unbeaufsichtigt zu sein, darum hatte sie Lucy mitgenommen. Lucy würde bei den Kindern sein. Martha lag bestimmt schon im Bett, und Lucy las ihr ein Märchen vor, während John an dem kleinen Tisch vor dem dunklen Fenster saß, malte und tat, als würde er nicht zuhören. Dieser Gedanke beruhigte sie, als sie die Treppe hinunterschlich. Sie achtete auf das kleinste Geräusch - es wurde geflüstert, irgendwo schlug eine Tür - und ging zum Kinderzimmer.

Bis dahin hatte sie sich gezwungen, weiterzugehen und es nicht gewagt, über den Augenblick und die fixe Idee, die von ihr Besitz ergriffen hatte, hinauszudenken, doch jetzt, als ihre Hand auf dem Türknopf lag, zögerte sie. Einen langen Moment stand sie da und lauschte, bis sie Lucys Stimme hörte, ein sanft moduliertes Gemurmel: Sie las eine Geschichte vor. Eine Pause, dann Marthas Stimme, die piepsend eine Frage stellte. Mamah stellte sich ihre Tochter vor, noch keine vier Jahre alt und auf der anderen Seite der Tür, kaum fünf Sekunden entfernt, das kleine Gesicht angespannt vor Konzentration - Warum?, wollte sie immer wissen. Warum wohnen sie in einem Schuh? Warum haben die Tauben das gemacht? -, und beinahe hätte sie ihren Plan aufgegeben. Als Mutter war sie eine Schande, sie war herzlos, eine Versagerin, schlimmer als jede böse Stiefmutter in den Märchen der Brüder Grimm. Sie ging fort.

Sie ließ ihre eigenen Kinder im Stich. Sie ließ sie hier, in diesem vom Tod heimgesuchten Haus, in der Obhut eines irischen Kindermädchens, das selbst fast noch ein Kind war.

Ganz vorsichtig stellte sie den Koffer an die Wand, so dass er von der Tür aus nicht zu sehen war. Lucys Stimme fuhr fort, warm und volltönend, das angenehmste Geräusch der Welt, der Klang von Sicherheit und Geborgenheit, der Klang von Mütterlichkeit - Mütterlichkeit -, und was war nur mit ihr los? Warum konnte sie nicht die Tür aufstoßen und ihren Platz bei den Kindern einnehmen? Weil sie Edwin nicht liebte, darum. Weil sie ihn kurz vor dem Abgrund, den ihr dreißigster Geburtstag bedeutet hatte, geheiratet hatte, im selben Jahr, in dem ihre beiden Eltern gestorben waren. Er war wieder in ihr Leben getreten, und sie hatte gedacht, sie könnte sich in der Banalität des Gewöhnlichen vergraben, ohne dass ihr etwas fehlte. Doch Ellen Key wusste, was ihr fehlte. Ellen Key, deren Werke sie auswendig kannte, denn Ellen Key war das Licht der Wahrheit, die Befreierin, die Verkünderin der Weisheit, und sie, Mamah, übersetzte ihre Bücher ins Englische, damit alle Frauen in Amerika sie lesen und ihre eigene Befreiung erreichen konnten. Niemand sollte in einem Puppenhaus leben, niemand.

Und wenn eine Frau Mutter wird, ohne die ganze Größe der Liebe erfahren zu haben, so empfindet sie dieses Ereignis als Herabsetzung; denn weder ein Kind noch eine Ehe oder eine Liebe werden ihr genug sein - nur eine große Liebe kann sie zufriedenstellen. Und wo war diese große Liebe? Wo war ihr Seelenverwandter? In Oak Park. Wo er auf sie wartete.

John sagte etwas, seine Stimme verwob sich mit der von Lucy und machte aus dem Märchen ein Lied, den Kinderreim, für den er eigentlich schon zu alt war, und sein Ton war spöttisch und ungeduldig, obwohl er zuhörte, noch immer zuhörte, den Buntstift reglos in der Hand. Und Martha sagte auch etwas - Warum? -, doch die Tür war dick, solides Aufsteigermahagoni, und so konnte Mamah die Antwort nicht verstehen. Nur ein Gemurmel. Schuldbewusst zog sie die Hand zurück und musterte in dem trüben, unterirdischen Licht die blasse Haut und die Linien der Handfläche. Sie zitterte nicht. Nicht mehr. Ihre Hand war so ruhig und entschlossen wie die eines Mörders, eines Holzfällers, der seine Axt über den Bauch des Wolfs erhebt, oder die der Hexe, die soeben den Ofen geschürt hat, und sie langte zum Koffergriff, während Mamah in der neuen Sprache, der Sprache des Heldenmuts, des Opfermuts, ihre Abschiedsworte flüsterte und davonschlich.

Der Himmel hatte sich noch nicht ganz verdunkelt - er war eine von innen heraus leuchtende Kobalttinktur, die im Osten in Schwarz überging, ein Westernhimmel, durchsetzt mit den glitzernden Löchern der Sterne -, doch die Erde lag in tiefen Schatten. Niemand hatte sie auf dem Weg zur Hintertür gesehen, doch jedesmal, wenn sie Schritte oder die Stimme eines Dienstboten gehört hatte, war sie stehengeblieben und erstarrt. Sie wollte keine Erklärungen erfinden müssen - über Erklärungen war sie hinaus -, und der Koffer hätte sie ohnehin verraten. Kurz vor der Hintertür hatte sie gedacht, alles sei verloren, denn die Haushälterin war mit einem Tablett voller Sandwiches und Teegeschirr für den Ehemann und die im Salon versammelten Trauergäste aus der Küche getreten, doch Mamah hatte sich hinter einer der wuchtigen Anrichten versteckt, bis die bereits in Schwarz gekleidete Frau, die sich ohnehin nur auf das Tablett konzentrierte, verschwunden war.

Dann ging sie rasch zur Tür und hinaus in die Nacht. In der Auffahrt standen ein Automobil und zwei Kutschen. Mamah schlug einen weiten Bogen, obwohl es gleichgültig gewesen wäre, wenn einer der Fahrer sie gesehen hätte. Für die war sie ein Niemand, irgendeine Frau mit einem Koffer, die ihren besten Mantel trug und das Gesicht unter der Hutkrempe verbarg. Sie ging die Auffahrt entlang zur Straße. Ihr Plan, den sie jetzt erst entwarf, als sie den Koffer von einer Hand in die andere nahm, war, zum Hotel zu gehen und nachzusehen, ob es dort einen Wagen gab, der sie nach Denver bringen konnte. Dort würde sie in einen Zug nach Osten steigen, nach Chicago - und dort wiederum würde Frank sie auf dem Bahnsteig erwarten und in die Arme schließen. Auch er würde einen Koffer dabeihaben, und er würde mit den anderen Passagieren in den Zug steigen und gemeinsam mit ihr durch die Hügel und Stoppelfelder von Indiana und Ohio und New York fahren, am Hudson entlang bis nach Manhattan. Sie würden ein Schiff finden, einen großen, hoch über den Piers an der Lower West Side aufragenden Dampfer, der sie nach Bremen bringen würde, und sobald sie auf deutschem Boden waren, würden sie einen Zug nach Berlin nehmen, wo er sich mit Herrn Wasmuth treffen würde, um die Veröffentlichung seines Portfolios vorzubereiten, das seinen Ruhm in ganz Europa verbreiten würde. Darüber hatten sie immer wieder gesprochen: Berlin. Und da war es, genau vor ihnen.

Sie hielt dieses Bild fest, wich den Unebenheiten der Straße aus und trat aus den Lichtkegeln der Straßenlaternen in die Schatten, während der Wind aus den Bergen an ihrem Mantelkragen zupfte: sie beide, die gemeinsam all diesen ... Komplikationen den Rücken kehrten. Sofern er es wollte. Sofern er genug Mut besaß. Sofern er sie liebte, wie er es gesagt hatte. Einen Augenblick lang hatte sie Angst: Sie setzte alles aufs Spiel, sie setzte sich allen möglichen Verurteilungen und Bloßstellungen aus - und was, wenn er zurückschreckte? Was, wenn er nicht aufstand und tat, was er tun musste? Was, wenn er das Geld nicht aufbringen konnte? Was, wenn Kitty ihn stärker im Griff hatte, als sie, Mamah, angenommen hatte? Aber nein, nein, nichts davon spielte jetzt eine Rolle. Und falls doch, dann war es jetzt zu spät. Sie eilte die Straße entlang und kam sich vor, als wäre sie auf der Flucht.

Sie ging ins Telegrafenbüro, um Edwin wegen der Kinder zu telegrafieren, und zwang sich, kalt und präzise zu sein und nur an das zu denken, was zu erledigen war. Dann telegrafierte sie Frank. Sie schrieb, sie sei unterwegs. Alles, was sie sich in ihren Briefen ausgemalt hätten, werde jetzt Wirklichkeit. Sie gehöre ihm. Und die Zeit sei gekommen, da er beweisen müsse, dass er seinerseits ihr gehöre. Dann fand sie jemanden, der sie nach Denver fuhr, und dort kaufte sie eine einfache Fahrkarte nach New York über Omaha, Burlington, Chicago, Elkhart, Cleveland, Buffalo und Albany, setzte sich auf eine Bank und wartete.

Es war kurz nach neun, und der Bahnhof war beinahe menschenleer. Sie blickte auf das Mondgesicht der Uhr und sah zu, wie der Sekundenzeiger sich Schritt für Schritt weiterbewegte, so langsam, als wollte er bei jedem Strich für immer verharren, im Gegensatz zu ihren Gedanken, die weit schneller vorauseilten und sich in stets weiteren Spiralen von einem Thema zum anderen ausdehnten, während ihr Magen sich zu einem runzligen Knoten aus Angst und Aufregung zusammenzog. Und aus Hunger. Weil sie nichts gegessen hatte. Weil sie nichts essen konnte. Weil sie weder Lust noch Zeit zum Essen gehabt hatte. Die Sekunden krochen dahin. Am Fahrkartenschalter stand eine Frau und hielt die Hand eines kleinen Mädchens in Marthas Alter. Mamah gegenüber saßen zwei Männer in beinahe identischen, billigen grauen Anzügen, die Hüte in den Schoß gelegt, auf einer Bank mit einer hohen Lehne und musterten sie heimlich. Der eine streichelte geistesabwesend die Krone seines Hutes, als wäre sie eine Katze. Wer war er? Ein Pinkerton-Detektiv? Ein Saatgutvertreter? Ein Mann, der im Begriff war, seine Frau zu verlassen?

Wenn man dem Fahrplan glauben konnte, würde der Zug erst in eineinhalb Stunden kommen, und sie fand keine Ruhe, war nicht imstande, dem Rasen ihrer Gedanken und dem Hämmern ihres Herzens Einhalt zu gebieten. Sie würde sich erst entspannen oder auch nur klar denken können, wenn der Gepäckträger sie zu ihrem Abteil führte und sie sich einschließen konnte. Sie sah an den beiden Männern vorbei zu den Türen, die zur Straße führten, und erwartete halb, dass im nächsten Augenblick Lucy hereingestürzt kommen würde, an jeder Hand ein Kind, und alle drei würden sie, in Tränen aufgelöst, beschwören zu bleiben. Oder Julias Mann. Oder der Sheriff. Verstieß sie denn nicht gegen irgendein Gesetz? Wahrscheinlich schon.

Um irgend etwas zu tun und sich abzulenken, erhob sie sich schließlich von der Bank, auf der sie, wie ihr schien, ihr ganzes Leben verbracht hatte, obgleich es, stellte sie verzagt fest, nicht mehr als fünf Minuten gewesen waren, und beschloss, in das Restaurant zu gehen. Sie spürte, dass die Blicke der Männer sie verfolgten, als sie durch die weite, mit Marmorplatten ausgelegte Halle ging, und jeder Schritt klang in ihren Ohren wie ein Pistolenschuss oder wie ein Schrei nach Trost. Dann stieß sie die Tür auf und trat in das Restaurant. Es war ein großer, höhlenartiger, spärlich beleuchteter Saal. Anfangs konnte sie kaum etwas erkennen, doch dann erschien ein Kellner aus dem Dunkel und führte sie zu einem Tisch an der Wand. An den anderen Tischen saßen einige Gäste, hauptsächlich Männer, tranken und kauten Sandwiches und Koteletts, und an dem mit Tellern und Soßenflaschen vollgestellten Nachbartisch grinste sich ein in schreienden Farben gekleidetes Pärchen mittleren Alters an. Alles sah auf, als sie eintrat und ihren Koffer abstellte, und das Drama dieses Augenblicks erfüllte sie mit Scham und Erregung zugleich. Sie war es nicht gewöhnt, allein in der Öffentlichkeit zu sein. Stets waren Edwin und seine Aura von Wohlanständigkeit dagewesen, die Kinder hatten sie abgeschirmt, oder Frank war auf und ab stolziert, als gehörte ihm jeder Quadratzentimeter eines jeden Raums, den er betrat. Jetzt aber war sie allein.

Sie hatte eigentlich nur eine Tasse Tee und ein Brötchen bestellen wollen, doch sobald sie sich gesetzt und einen Blick auf die Speisekarte geworfen hatte, merkte sie, wie hungrig sie war. Der Ober brachte einen Teller mit Oliven und Selleriestangen sowie einen Korb mit Brot und Butter. Sie aß alles auf, ohne nachzudenken, und bestellte dann ein Steak, halb durchgebraten, dazu Bratkartoffeln, gemischtes Gemüse und einen grünen Salat mit Roquefort-Dressing. Etwas zu trinken? Ein Bier vielleicht? Ein Glas Wein?

Der Kellner - ein Mann mittleren Alters mit einem Bauch, der gegen die Knöpfe seines Jacketts drückte, und einer Frisur, die aussah, als hätte er sich das Haar im Dunkeln schneiden lassen - stand neben ihr. Er trug einen abgenutzten, leicht speckigen Anzug, der wirkte, als hätte er ihn von einem Beerdigungsunternehmer ausgeliehen, und bedachte sie mit einem wissenden, ja unverschämten Blick, als wüsste er alles über sie, als tauchten hier jeden Abend verheiratete Frauen auf, die ihre Kinder im Stich ließen, um mit ihren Liebhabern durchzubrennen, eine nach der anderen, und als würden sie alle trinken, um ihre Gedanken und Schuldgefühle zum Schweigen zu bringen, die sie niederdrückten wie eine Bleiweste. Sie sah ihm unverwandt in die Augen - nein, sie würde sich nicht einschüchtern lassen. Der Mann war ein Bauerntölpel, ein Lakai, sie hatte ihn noch nie gesehen und würde ihn nie mehr zu sehen bekommen. »Wein«, sagte sie. »Eine Flasche Moselwein.«

Auf ihrer ersten Europareise, ihrer Hochzeitsreise, als Edwin und sie durch Deutschland gefahren waren, hatte sie Wein schätzengelernt, und obwohl sie keine Kennerin war, kannte sie sich immerhin soweit aus, dass sie sich auf die ihr vertrauten deutschen Weine verließ. Und dieser hier, so kühl und reinigend wie ein sprudelnder Bergquell, entfaltete sogleich seine Wirkung. Er löste die Verspannung in den Schultern und wärmte sie, wo es am kältesten war: in ihrem Herzen. Sie war eine Frau, die allein in der Öffentlichkeit trank - na und? Sie war unabhängig, oder etwa nicht? Hätte Ellen Key deswegen Gewissensbisse gehabt? Oder irgendeine andere europäische Frau? Sie trank Wein zum Essen, sie war befreit von den Sorgen, den Schuldgefühlen, der Panik, die sie zuvor ergriffen hatte, und sie aß das Fleisch und trank den Wein und schlug nicht ein einziges Mal die Augen nieder. Sollten sie sie doch anstarren. Sollten sie nur genau hinsehen. Denn bald würde sie im Zug sitzen und durch die Nacht fahren, und dies alles würde hinter ihr liegen.

Als der Zug in den Bahnhof von Chicago einfuhr, erwartete Frank sie auf dem Bahnsteig. Trotz aller Vorsätze, trotz des Weins und des sanften Schwankens des Waggons und der durch und durch positiven und liebevollen Gedanken, die heraufzubeschwören sie sich mühte, hatte sie eine schlaflose Nacht und einen unruhigen Tag verbracht, geplagt von tausend Nadelstichen des Gewissens und der Ungewissheit, und als sie ihn sah, stark und strahlend, wie ein Fels in der Brandung, überkam sie Erleichterung. Jetzt würden sie zusammensein, und heute nacht würde sie tief und fest schlafen, ihren Körper an seinen gepresst, so dass jede Zelle, jede Pore ihn aufnehmen konnte, von Kopf bis Fuß ... Die Bremsen quietschten. Der Bahnhof schwankte und kam zur Ruhe. Sie fing Franks Blick ein, und er schenkte ihr das Grinsen des Welteroberers und kam über den Bahnsteig auf sie zu. Sie war überwältigt vom Tumult ihrer Gefühle, und so dauerte es einen Augenblick, bis sie bemerkte, dass seine Hände leer waren.Er schloss sie nicht in die Arme - man konnte schließlich nicht wissen, wer sie beobachtete, das verstand sie -, doch er war so steif und formell, dass sie beinahe die Fassung verlor. »Mamah«, sagte er nur, und dann spürte sie seine Hand am Ellbogen, und er führte sie durch das Gedränge in einen Korridor und dann in eine Art Büro, einen Raum mit einem Schreibtisch und Büroschränken und einem Deckenventilator, und mit einem kleinen Schock wurde ihr bewusst, dass er diesen Raum für eine Stunde gemietet hatte, damit sie ungestört miteinander sprechen konnten. Aber warum? Warum hatte er keinen Koffer? Und warum war er nicht zu ihr in den Zug gestiegen?

Er schloss die Tür hinter ihr, und mit einemmal hatte sie Angst und war sicher, dass er sie verleugnen und eine Mauer aus Ausflüchten errichten würde, dass er sie verlassen würde, wie sie Edwin und ihre jetzt mutterlosen Kinder verlassen hatte. »Frank, was ist los?« wollte sie wissen, jetzt atemlos. Ihr Blut rauschte, angetrieben von der Chemie der Panik - in ihren Adern rann Jod, Säure, flüssiges Feuer. »Wo ist dein Koffer? Was ist los?«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte er und zog sie in seine Arme. Er küsste sie. Er presste sie so heftig an sich, dass sie kaum noch Luft bekam. »Ich brauche nur etwas mehr Zeit, das ist alles, zwei Tage, höchstens drei - um ... um Geld aufzutreiben. Du lieber Himmel, das kam alles so plötzlich ... «

Sie hielt ihn in den Armen, ihr Kinn lag auf seiner Schulter, und sein Geruch - sein Haar, seine Kleider, der Körper, den sie so gut kannte - wirkte wie ein Beruhigungsmittel. Sie vertraute ihm. Absolut. Er gehörte ihr, sie gehörte ihm.

Dennoch fuhr sie zurück. »Plötzlich? Wir sprechen jetzt seit über einem Jahr darüber.

Ich habe Edwin im Juni verlassen.«

»Dein Telegramm, meine ich. Ich war ... Seit ich dein Telegramm bekommen habe, bin ich pausenlos unterwegs gewesen, habe Farbholzschnitte verkauft und Auftraggeber um Vorschüsse gebeten, ich habe bei den Projekten, die ich in Arbeit habe, alles mögliche versucht, alles mögliche. Ich brauche nur mehr Zeit, das ist alles.«*

 

* Wrieto-Sans Verhalten kann man wohl kaum anders als unverantwortlich, vielleicht sogar als kriminell bezeichnen. Er schien stets ein angespanntes Verhältnis zu seinen Auftraggebern zu haben, vor denen er sich, wie er fand, auf eine fundamentale Art erniedrigen musste, um an die Mittel zu gelangen, die er brauchte, um seine Kunst auszuüben, und dass er sie ausnahm, indem er die Kosten überzog oder einen Vorschuss nach dem anderen verlangte, betrachtete er lediglich als sein gutes Recht. Unnötig zu erwähnen, dass er diese Leute und die entsprechenden Projekte, die er ohnehin nur durch einen Stellvertreter zum Abschluss bringen lassen wollte, sitzenließ. Nach dem Motto: Schnapp dir das Geld und hau ab.

 

Sie entspannte sich für einen Augenblick, doch dann verhärtete sie sich wieder. »Und was ist mit mir? Was soll ich tun?«

»Du fährst wie geplant nach New York. Ich kenne dort ein Hotel und habe Zimmer reserviert. Und ich habe für Freitag eine Passage für zwei auf der Deutschland gebucht. Mach dir keine Sorgen. Mach dir um nichts Sorgen - ich werde kommen, sobald ich kann. Brauchst du Geld?«

»Ja«, sagte sie, »ja, ich brauche Geld«, und die Bedeutung dieser Antwort hallte in ihren Ohren wider wie eine Schändlichkeit aus einem Schundroman. Was war sie nun - eine Frau, die ihre Gunst für Geld verkaufte?

»Hier«, sagte er und hielt ihr seine geöffnete Brieftasche hin. Sie küssten einander, bis sie seine harte Erregung spürte, bereit, in sie hineinzufahren, und dann setzte er sich mit ihr in das Zugabteil und hielt ihre Hand, bis der Schaffner rief und Frank ausstieg und winkend vor dem Fenster stand, während die Räder sich mit einem Ruck in Bewegung setzten und der Bahnhof hinter ihr zurückblieb.

Wenn es einen Augenblick gab, der sie für alles entschädigte, einen einzigen Augenblick, den sie mit einem Fotoapparat einfangen und zur Erinnerung in ein Album hätte kleben können, so den, als er durch die Tür des großen Zimmers hoch über dem strömenden, von der Sonne kupferrot gefärbten Wasser des Hudsons trat und sie ihn dort stehen sah, die Arme weit ausgebreitet, um sie an die Brust zu drücken. Drei Tage hatte er sie in jenem New Yorker Hotel warten lassen, und aus Furcht vor Entdeckung hatte sie den Raum kein einziges Mal verlassen. Sie war bedrückt gewesen. Die Kinder fehlten ihr. Sie schlief schlecht. Edwin musste inzwischen zurück in Oak Park sein und Alarm geschlagen haben - jedes Klatschweib, jedes Lästermaul der Stadt zählte zwei und zwei zusammen, und womöglich hatte er einen Detektiv auf sie angesetzt. Konnte es sein, dass er so kleinlich, so rachsüchtig war? Selbst Kitty, die arme langweilige Kitty, musste inzwischen die Wahrheit kennen. Und obwohl Frank in der Nacht zuvor bei ihr gewesen war, mussten sie natürlich getrennt an Bord gehen, ja sogar mit zwei Taxis zum Hafen fahren, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Den ganzen Morgen war sie in einer schrecklichen Verfassung - jeder, den sie sah, war ein potentieller Spitzel: der Mann am Empfang, der Portier, der ihr die Tür des Taxis aufhielt, ja sogar der Taxifahrer -, und sie fühlte sich, als wäre sie nackt, als sie auf dem Pier stand und darauf wartete, dass ihr Gepäck an Bord gebracht wurde und sie über die Gangway gehen und in der Menge verschwinden konnte. Bis dahin, bis zu dem Augenblick, da sie spürte, wie das Schiff sich majestätisch hob und senkte, war sie ständig darauf gefasst, jemanden rufen zu hören: Da ist sie! Die Rabenmutter! Die Ehebrecherin!

Haltet sie!

Frank hatte die Kabine geschmückt: Blumen überall, Keramiken, in den Ecken kunstvolle Arrangements einer Auswahl seiner japanischen Holzschnitte. Sie sah, wie das Sonnenlicht durch die Bullaugen fiel wie in ein privates Universum, der Duft der Blumen schärfte ihre Empfindungen, die Geishas in ihren prachtvollen Kimonos lächelten ihr aus der Umgrenzung der Rahmen wohlwollend zu, und der entfernte, schneebedeckte Fuji* verlieh dem Glücksdelirium, das sie überkam, eine Aura von Beständigkeit. »Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten«, sagte Frank, und sein Lächeln wurde breiter. Bevor sie einen Gedanken fassen konnte, nahm er ihren Arm und wirbelte sie zu den Klängen eines unsichtbaren Orchesters im Raum herum, wobei er ihr ins Ohr summte. Dann führte er ihr die Ausstattung vor, als hätte er sie selbst entworfen, drängte sie, als sie ihre Sachen in den Schränken verstaute, zur Eile und bestand darauf, einen Spaziergang an Deck zu unternehmen, während das Signal ertönte, das Schiff vom Pier ablegte und die Möwen in der frischen Brise über dem Fluss kreisten. »Und dann wollen wir essen«, rief er. »Ein Festmahl, denn wir haben etwas zu feiern. Du sollst bestellen, was dein Herz begehrt. Heute ist der erste Tag von allen, die noch folgen werden, der erste Tag der Freiheit, zu tun und zu lassen, was wir wollen. Ist das nicht großartig?«

 

* Aus der Serie Sechsunddreißig Ansichten des Berges Fuji von Katsushika Hokusai (1760-1849). Wrieto-San besaß mindestens einen Erstdruck: Der Fuji, vom Hongan-ji-Tempel in Asakusa, Edo, aus gesehen.

 

Auch sie spürte es. Sie dachte an Goethe, an die Übersetzung, die sie in der Einsamkeit des Hotelzimmers für Frank angefertigt hatte, während die Stunden quälend langsam zu Staub zerfielen. »>Nenn’s Glück!«« zitierte sie und lag in seinem Arm. »>Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Namen / Dafür! Gefühl ist alles!««

Und so war es, bis Frank am zweiten Tag die Farbe von Leberwurst annahm und außerstande war, das Bett zu verlassen. »Aus mir wird nie ein Pirat werden«, sagte er mit schwacher, erstickter Stimme. Sie sah, wie er sich benommen über eine emaillierte Schüssel beugte und sich übergab, sie sah ihn gekrümmt zur Toilette wanken, sah ihn schlafen und sich die Decke über den Kopf ziehen, als könnte er sich so vor dem Wogen der schweren See verbergen, das sie während der ganzen zweiwöchigen Überfahrt begleitete. Sie saß die ganze Zeit bei ihm, pflegte ihn, las ihm vor und übte deutsche Sätze mit ihm ein: Ich spreche ein wenig Deutsch; Einen Tisch für zwei, bitte; Moment! Es fehlt ein Handkoffer! Er war wie ein kleines Kind, wie John, wenn er die Grippe hatte, wie Martha. Er konnte nur Brühe bei sich behalten, und obwohl er sich, elend, wie er war, in die Decken wickelte, war ihm ständig kalt. Er klagte unablässig. Edwin - dieser Stein, dieser Holzklotz - war im Vergleich zu ihm der reinste Admiral. Doch nichts davon spielte eine Rolle, denn Gefühl war alles, und Frank war ein Quell von Gefühlen, ein Depot voller Gefühle. Sie las ihm vor, bis ihre Zunge sich taub anfühlte, sie legte ihm kühle Umschläge auf die Stirn und massierte seine Schultern und die verkrampften Wadenmuskeln. Er fühlte sich elend, doch sie war stark und wurde mit jedem Tag stärker.

In Bremen angekommen, erholte er sich. Bei einer einzigen Mahlzeit aß er so viel - Knödel, Spätzle, Sauerbraten, Schmierkäse, eingelegtes Gemüse, Sauerkraut und dicke, mit Butter bestrichene Pumpernickelscheiben -, dass sie dachte, er würde platzen. Als sie in Berlin eintrafen, war er wieder ganz der alte. Er stolzierte, den Gehstock schwenkend, an ihrer Seite, sein Umhang bauschte sich in einer selbsterzeugten Brise, und als sie in die Halle des Hotels Adlon traten, drehten sich alle nach ihm um, als wäre der Reichskanzler persönlich erschienen. Gefolgt von ihr ging er zur Rezeption, drehte mit schwungvoller Gebärde das Anmeldebuch um und trug in seiner kraftvollen, geometrischen Schrift und ohne einen Augenblick zu zögern ein: Frank Lloyd Wright und Gemahlin.