Kapitel 5
DIE RICHARDSONS
Ein penetranter Geruch nach Desinfektionsmittel - Karbol oder Franzbranntwein oder was immer es auch sein mochte - hing im Zimmer, lag über allem, würgte sie, bis sie kaum mehr atmen konnte. Die Rouleaus waren heruntergelassen. Ein dumpfes elektrisches Summen lag in der Luft, die Lampen flackerten, leuchteten heller, flackerten wieder. Säuglinge wimmerten. Tabletts klapperten. Irgendwo kochte jemand Tomaten, Rüben, Kohl. Und Fleisch. Fleisch, das nach Pfanne, Kühlschrank und Schlachthaus stank. Sie bat die Krankenschwester immer wieder, das Fenster zu öffnen, und die Krankenschwester sagte ihr immer wieder, sie solle sich ausruhen, sich erholen, sich keine Gedanken machen - was sie jetzt brauche, sei Erholung. »Machen Sie einfach die Augen zu«, säuselte die Krankenschwester mit ihrer unendlich sanften Stimme, »Sie wollen doch wieder zu Kräften kommen, oder? Ihrem Kind zuliebe. Und Ihrem Mann zuliebe.«
Olgivanna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihr Mann war nun wahrlich der letzte Mensch, den sie sehen wollte, aber woher hätte die Krankenschwester das wissen sollen? Es sei denn, sie las Zeitung. Was sie natürlich tat. Alle lasen Zeitung, und alle wussten, dass Iovanna - Pussy, ihre Pussy* -, das vollkommenste und bezauberndste Baby dieser Welt, ja der ganzen Menschheitsgeschichte, unehelich geboren war, ein illegitimes Kind, ein Bastard, den die Leute verhöhnen und verunglimpfen konnten. Olgivanna las keine Zeitung. Und sie wollte nicht, dass ihr Mann kam. Ihr Exmann. Sie wollte, dass Frank kam, aber Frank arbeitete in seinem Studio, und er hatte ihr versprochen, sie am Abend wieder zu besuchen, aber war es nicht längst Abend? Und warum war es bloß so stickig hier drinnen, warum, warum, warum konnte nicht irgendwer das Fenster aufmachen, wenigstens einen Spaltbreit, einen Zentimeter, egal, Hauptsache, es kam etwas frische Luft herein. »Schwester!« rief sie und versuchte sich aufzusetzen, doch ihr war übel und sie war zu schwach, also ließ sie den Kopf wieder ins Kissen sinken.
* Herkunft des Spitznamens nicht bekannt. Ein montenegrinischer Kosename?
Später - sie wusste nicht, wieviel später, aber es war dunkler geworden, oder? - tauchte die Schwester mit Iovanna auf. Ihrer Tochter. Ihrem Neugeborenen. Dem Licht ihres Lebens, dem Grund für dies alles, für dieses Zimmer mit den Blumen, die Frank geschickt hatte, ein Privatzimmer mit Fenster und Karbolgestank, und für ihre Schwäche. Sie konnte kaum die Arme heben, um das Kind entgegenzunehmen, das kleine Bündel, leicht wie ein Gedanke und zugleich plötzlich schwer, unglaublich schwer, winzige Händchen, die sich zusammenballten und wieder öffneten, und dann spürte sie ein Saugen an der Brust, ein langes süßes Gefühl der Erlösung, das sie aus dem Bett und dem Zimmer in die Nacht hinaus entschweben ließ.
In ihrem Traum flog sie hoch oben über den schützenden Dächern von Taliesin, das Kind fest in ihren Armen, und dort unten war Frank, er wurde immer kleiner und rief ihr etwas zu, die Hände an den Mund gelegt: Pass auf, gib acht, sei vorsichtig ... Und dann hörte sie ein Geräusch, ein jähes Poltern und Klappern, Getrappel im Flur, Stimmengewirr, aus dem sich eine Frauenstimme erhob, und was war das? »Es tut mir leid, Ma’am« - Alice, ihre Krankenschwester, mit angespanntem Flüstern -, »aber die Besuchszeit ist vorbei.«
»Seien Sie nicht albern. Gehen Sie mir aus dem Weg!«
»Es tut mir leid, aber - Dinah, Dinah, kommen Sie bitte mal her?« »Welches Zimmer ist es? Ich verlange, dass Sie mir sagen, welches Zimmer -«
»Bitte, Madam, bitte, können Sie nicht etwas leiser sprechen? Die Säuglinge sind -Dinah, könnten Sie dieser Dame bitte sagen, dass wir es nicht hinnehmen können -«
Pussy regte sich, strampelte krampfartig mit den Beinen, während zugleich ihre Augen aufklappten, zwei Lichtpunkte im gedämpften Dunkel des Zimmers. Sie machte kein Theater, noch nicht, lag vorerst nur da und orientierte sich, nahm die Welt wieder wahr. Olgivannas Augen wanderten zur Tür. Die angelehnt war oder vielmehr halb offenstand, denn die Schwestern wollten für etwaige Notfälle in Rufweite sein - aber hier handelte es sich ja wohl nicht um einen Notfall, oder?
Die Stimmen wurden lauter, vermischten sich, wurden wieder leiser. Eine kurze Step Einlage von Absätzen auf dem Linoleumboden, erneute Proteste, dann verschwanden die Geräusche in die entgegengesetzte Richtung. Obwohl sie sich nicht richtig wach fühlte - es war, als hätte man ihr ein Betäubungsmittel verabreicht, warum bloß kam sie nicht wieder zu Kräften, was war nur mit ihr los? -, erlebte sie einen Moment der Klarheit, in dem ein erschreckender Gedanke sie durchzuckte. Wenn das nun Miriam war? Franks Frau? Miriam. Die Wahnsinnige. Er hatte sie gewarnt, dass Miriam völlig irrational sein könne, unberechenbar und gewalttätig.* Und sie hatte immer noch jenen gequälten Schrei im Ohr, der über die Telefonleitung zu ihr gedrungen war, jenen erstickten, wahnsinnigen, durch Mark und Bein gehenden Protestschrei, der keinem anderen menschlichen Laut glich, den sie je vernommen hatte. Sie zog Iovanna an sich und hielt die Luft an.
* Angeblich hatte Miriam in Paris nach einem Messerangriff auf ihren Exgeliebten kurze Zeit im Gefängnis gesessen, und sie hatte Wrieto-San von Anfang an klargemacht, dass mit ihr nicht zu scherzen sei. Sie hatte eine Pistole. Und sie war fest davon überzeugt, dass ihr Skarabäus-Ring Zauberkräfte besaß und nach Art des Voodoo in Haiti oder New Orleans offene Rechnungen für sie zu begleichen vermochte.
Plötzlich näherten sich draußen im Flur eilige Schritte, rasch und entschlossen. Sie hörte Alice atemlos »Halt!« japsen, dann ertönten weitere Schritte, und die Stimme eines Mannes wiederholte den Befehl, während zugleich die Tür des gegenüberliegenden Zimmers aufgerissen wurde und eine Frau in ihrem Blickfeld erschien, ganz wehender Mantel und Hut und wütend vorgereckte Schultern. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf - sollte sie versuchen, das Baby zu verstecken, es unter die Bettdecke oder das Kissen schieben oder gar unters Bett legen? -, dann flog ihre Tür auf, und Miriam stand da, das Gesicht rot und aufgedunsen, die Augen eng beieinanderstehend wie bei einem Tier, Miriam, deren zuckender Mund das einzige Wort formte, das ihr in diesem Moment einfiel: »Sie!« rief sie. »Sie!«
Als Frank schließlich eintraf - außer Atem, kreidebleich, das Haar windzerzaust -, war die Gefahr gebannt, zumindest die akute. Dafür hatte der Krankenpfleger gesorgt. Miriam war fort, schon lange, war, wilde Drohungen und Beleidigungen ausstoßend, hinausgeführt worden, und in den Fluren herrschte eine Stille wie nach einer Naturkatastrophe, doch Olgivanna sah sie immer noch vor sich. Spürte sie. Spürte ihren Hass und Neid und ihre Angst, die förmlich in der Atmosphäre vibrierten. Es hatte einen ins Endlose gedehnten Augenblick gegeben, als die Tür wie in Zeitlupe gegen die Wand schlug und wieder zurückschwang und diese Frau, Franks Ehefrau, auf der Schwelle stand, ihre zuckenden Gesichtszüge ein Spiegel ihrer vielfältigen Gefühle, einen Augenblick, in dem Olgivanna, so schwach sie auch sein mochte, so verängstigt und gedemütigt, in Miriam hineinsehen konnte, in die verlassene Ehefrau, die ihrer Nachfolgerin gegenüberstand, dem Schreckgespenst, dem Sukkubus, der ihr den Mann gestohlen hatte. Und da hatte sich etwas in ihr geregt. Nicht Aggression, nicht der Wille, sich zu verteidigen - wobei der durchaus dasein würde, wenn es darauf ankam -, sondern so etwas wie Mitleid.
Es hielt nicht lange an.
Denn als der Krankenpfleger mit einem Satz auf der Bildfläche erschien, als er Miriam am Arm packte und sie sich wehrte wie eine Katze, die man in einen Sack gesteckthat, begannen die unflätigen Worte aus ihr herauszusprudeln. »Schlampe!« kreischte sie, riss sich los und steckte das Gesicht wieder ins Zimmer. »Blutsaugerin! Hure!
Lassen Sie meinen Mann in Ruhe!« Doch dann war Alice da, schlüpfte an den beiden vorbei ins Zimmer und sicherte die Tür, indem sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das unnachgiebige Eichenholz lehnte, während Iovanna, schon am dritten Tag ihres jungen Lebens in Gefahr geraten, nach jähem, scharfem Luftholen zu brüllen begann, ihr Gesicht knallrot angelaufen, ihre Hände nach der Luft grapschend, als könnte sie von ihr Besitz ergreifen.
»Ich weiß, dass du noch schwach bist«, sagte Frank gerade. Er ging im Zimmer auf und ab, fünf Schritte nach rechts, Kehrtwende, fünf Schritte nach links, erneute Kehrtwende. »Es war eine schwierige Geburt. Du brauchst Ruhe. Aber ich kann nicht zulassen, das so etwas noch einmal passiert - es ist einfach zu riskant. Und die Presse -« »Sie hat mir angst gemacht. Und dem Baby auch. Es hat angefangen zu schreien.« »Zum Henker mit dieser Frau. Zum Henker.«
Die Bettdecke lastete auf ihr wie eine Grabplatte. Sie hatte sich noch nie im Leben so müde gefühlt. »Sie ist deine Frau, Frank. Aber wie konnte es bloß dazu kommen? Wie konntest du diese Frau je lieben?«
Er kam nicht zu ihr, um ihre Hand zu nehmen oder sie zu umarmen oder ihr das Haar aus dem Gesicht zu streichen - er ging immer weiter auf und ab, und ihre Frage, die Frage nach der Liebe, damals wie heute, blieb unbeantwortet. Auf einmal schien das Zimmer zu schrumpfen, vor ihren Augen kleiner zu werden. Sie kam sich vor wie in einer Gefängniszelle - und wer war der Wärter? Er. Frank. »Sie ist rachsüchtig«, sagte er. »Das ist alles. Eine Frau, die verschmäht wurde - dabei war sie es, die sich von mir getrennt hat, vergiss das nicht ... Aber wir müssen dich hier rausholen, und deshalb habe ich mit deinem Bruder telefoniert.«
»Mit meinem Bruder?«
»Es ist schon alles arrangiert. Morgen in aller Frühe, Stunden bevor Miriam und ihre Spione auch nur aufgestanden sind, bringen wir dich zum Zug, zur Not auf einer Trage. Ich habe ein Abteil für uns reserviert, und Vlada* wird uns in New York abholen.«
* Vladimir Lazovich, ein Schiffsagent, der in Queens, New York, lebte. Olgivannas Bruder. Nicht zu verwechseln mit Vlademar, ihrem geschiedenen Mann.
Und so stahlen sie sich im Dunkeln fort, wie Diebe, Flüchtlinge, Hasenfüße.
Irgendwann mitten in der Nacht erschienen, wie versprochen, zwei Krankenpfleger mit einer Trage, begleitet von der Kinderschwester, die Frank für das Baby eingestellt hatte. Olgivanna erinnerte sich später, dass sie vom Geräusch scharrender Füße und dem grellen Licht der Lampe neben ihrem Bett erwacht war. Frank war da. Er beugte sich über sie, zerzaust und etwas mitgenommen von der Nacht, die er auf dem unbequemen Stuhl in der Ecke verbracht hatte, und auch Svetlana war da, sie stand unbeholfen mit ihrem Koffer und einem neuen Spielzeug in der Tür und schaute ziemlich trübsinnig drein. Oder nein, ängstlich, sie sah ängstlich aus, das arme Ding, schon wieder entwurzelt. Olgivanna streckte die Arme aus. »Komm her, mein Liebling«, flüsterte sie, und ihre eigene Stimme klang ihr seltsam in den Ohren. Svetlana zögerte.
Sie würde Schwierigkeiten machen, das merkte Olgivanna. Sie klopfte neben sich auf das Bett. »Komm. Es ist alles in Ordnung.«
»Olya, es ist schon spät«, sagte Frank.
»Komm, Svet - ich bin es doch. Und es geht mir gut. Jedenfalls wird es mir bald gutgehen. Mach dir keine Sorgen.« Immer noch nichts. »Willst du denn nicht deine kleine Schwester sehen?«
»Nein.«
Und dann war auch sie plötzlich da - Pussy -, in die Arme der Kinderschwestergebettet, aber wer war diese Frau, dieses schmallippige Mädchen mit den hängenden Schultern, dem Frank ihre Tochter anvertraut hatte? »Geben Sie sie mir!« befahl sie, und das Mädchen schaute zu Frank, Frank nickte, und ihre Tochter, die schon ein dünnes, kummervolles Wimmern angestimmt hatte, wurde ihr gereicht wie ein Paket im Lebensmittelladen. »Schau mal«, sagte sie und hielt das Kind für Svetlana hoch. »Wie winzig sie ist! Siehst du die kleinen Fingerchen und Zehen? Sie braucht eine große Schwester, die sich um sie kümmert - möchtest du dich nicht um sie kümmern?«
»Nein.«
Und Frank: »Olya.«
»Wir fahren über Weihnachten zu Onkel Vlada, Schätzchen. Weihnachten in New York, das ist doch wunderbar, oder?«
Sie kannte ihre Tochter. Kannte deren Launen. Die Antwort auf diese und jede andere Frage, die sie hier und jetzt stellen mochte, würde unweigerlich negativ sein. Doch das Mädchen machte sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Es kniff nur die Lippen zusammen und schaute weg. Nun griff Frank ein und begann Anweisungen zu geben - das konnte er gut -, die Kinderschwester nahm ihr Iovanna wieder ab, die Männer halfen ihr auf die Trage, und der Korridor tat sich tief und weit vor ihr auf und verengte sich wieder. Dann der Aufzug, die sich über ihr erhebende Nacht, ein Lufthauch, der nach der medizinischen Trockenheit des Krankenhauses himmlisch anmutete, und dann waren sie am Bahnhof, in ihrem Abteil, Svetlana lehnte sich an ihre Schulter und weinte sich erst einmal richtig aus, und irgendwann fuhr der Zug mit einem Ruck an, und sie waren unterwegs, wieder einmal unterwegs.
Was Frank betraf, so gab es kein Zurück. Olya ging es nicht gut - man musste kein Arzt sein, um das zu erkennen. Sie war eine junge Frau, jünger als seine beiden Töchter, doch als er sie in dem schaukelnden Abteil liegen sah, das Baby und Svetlana schlafend neben ihr, kam ihm eine Ahnung, wie sie mit den verrinnenden Jahren einmal aussehen würde, und er erschrak. Alles Weiche war aus ihrem Gesicht verschwunden und der Starrheit gewichen, die man bei den ganz Alten sah, feine Falten markierten ihre kantigen Züge, ihr frischer Teint war dahin, ihr Haar dünn und ohne Glanz. Sie war anämisch. Erschöpft. Verängstigt. Verstört. Er hatte leise mit ihr gesprochen, über das Rattern der Räder hinweg, hatte versucht, sie aufzumuntern, während das Baby strampelte und Svetlana sich in Schlaf weinte, und schließlich merkte er, dass sie eingedöst war, ihr Atem ging schwer und rasselnd, in ihrem rechten Nasenloch ein einzelner feuchter Tropfen, glitzernd wie ein Juwel.
Sein Gewissen plagte ihn.* Er hatte die Karre in den Dreck gefahren, keine Frage. Er hätte Olgivanna nicht nach Taliesin holen sollen, nicht ehe Miriam unschädlich gemacht war. Eigentlich wusste er es doch besser - aus leidvoller Erfahrung. Doch was hatte ihn diese Erfahrung gelehrt? Nichts. Er sah etwas, was er haben wollte, und nahm es sich. Das war sein Wesen. Das war sein Recht. Und da lag sie nun, das Objekt seiner Begierde, blass, erschöpft, einen Speichelfaden auf der Wange, zwischen zwei bedürftige Kinder in ein schmales Schlafwagenbett gezwängt - eigentlich selbst noch ein Kind - und ohne ein Zuhause.
* Eine untypische Erscheinung bei Wrieto-San.
Im Gang vor der Tür hörte man plötzlich Leute reden - eine Männerstimme und eine Frauenstimme, von erotischer Spannung und dem leichten Rausch des Reisens erfüllt -, und als die beiden vorbeigegangen waren, schaute er wieder zu Olgivanna hinüber und spürte, wie ihn Ungeduld erfasste. Was war bloß mit ihr los? War sie schwächer, als er gedacht hatte? Er konnte sich nicht erinnern, dass Kittys Entbindungen so schwer gewesen wären, und sie hatte ihm immerhin sechs Kinder geboren.*
* Catherine »Kitty« Tobin Wright (1871-1959), Wrieto-Sans erste Frau. Sie heirateten gegen jede Vernunft und jeden Rat, als er einundzwanzig war und sie gerade die Highschool abgeschlossen hatte. Die Kinder - Lloyd, John, Catherine, David, Frances und Llewellyn - kamen rasch hintereinander, wie Pflaumen, die vom Baum fallen. Wrieto-San reagierte offenbar mit Verwirrung auf sie. Es ist nicht davon auszugehen, dass ihn Catherines Schwangerschaften groß beschäftigten, abgesehen von den offensichtlichen finanziellen und architektonischen Anforderungen, die daraus erwuchsen.
Doch auch er war erschöpft. Die Räder ratterten über die Schwellen, und ihm wurde flau im Magen. Ihm fiel ein, dass er seit dem vorangegangenen Abend nichts gegessen hatte. Er schaute auf die Uhr. Es war Viertel nach neun, der Zug fuhr jetzt über offenes Land, und obwohl die Lage verzweifelt war, ja furchtbar, und noch schlimmer werden würde, munterte ihn der Anblick der ordentlichen Farmhäuser und soliden roten Scheunen mit ihrem Patchwork aus Strohballen und dem vor der Küchentür gestapelten Brennholz auf. Er würde die Kinderschwester holen, dachte er, damit sie ein Auge auf das Baby hatte, und dann in den Speisewagen gehen, um etwas zu frühstücken, Eier, Pfannkuchen, eine Scheibe Schinken, Soße, Bratkartoffeln, doch er blieb sitzen und wachte über Olgivanna und die Kinder, sah zu, wie sie die Luft einsogen und wieder ausstießen, ein Atemzug nach dem anderen, im sanften, auf- und abschwellenden Rhythmus ihres Schlafs.
Was er ihr nicht, noch nicht, gesagt hatte, war, dass sie auch nach ihrem Exil bei Olgivannas Bruder nicht nach Taliesin zurückkehren konnten, denn Miriam kannte jetzt kein Halten mehr, eine turbantragende, juwelengeschmückte Harpyie, die flügelschlagend und mit ausgestreckten Krallen durch die Lüfte sauste, die Kiefer zu einem unirdischen Wutschrei aufgesperrt, sie gewährte kein Pardon und erwartete auch keines. Jeder Tag brachte etwas Neues. Sie war nicht damit zufrieden, eine bettlägrige Frau aus ihrem Krankenhausbett vertrieben zu haben. O nein, nicht Miriam.
Sie wandte sich direkt an die Einwanderungsbehörde und richtete weiteres Unheil an, indem sie eine Beschwerde einreichte, um Olgivanna als unerwünschte Ausländerin ausweisen zu lassen. In ihrer eidesstattlichen Versicherung bezeichnete sie Olgivanna als Ausländerin, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Taliesin - in ihr, Miriams, Zuhause - gekommen sei, sie habe sich nämlich als Hausangestellte ausgegeben, wo sie doch in Wirklichkeit »der Bettschatz« ihres Mannes sei. Seine Geliebte. Seine Hure.
Sein Herz krampfte sich vor Hass zusammen. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an Miriam - wie er sie in einer Phase mangelnder Wachsamkeit in sein Leben hatte treten lassen, wie dumm er gewesen war, wie schwach und voller Illusionen. Seine Laune verschlechterte sich. Die Farmen begannen hässlicher auszusehen, unordentlicher, vernachlässigt, renovierungsbedürftig. Lange sah er zu, wie sie auftauchten und wieder verschwanden, zwischen kahlen Baumskeletten, gefrorenen Mooren und bis in die Wurzeln totem Strauchwerk. Und er stand nicht auf, um zu frühstücken, einen Kaffee zu trinken, die Kinderschwester zu holen oder sonst etwas, sondern saß einfach da, bis all die Felder vorüberzogen wie ein einziges und vor dem Fenster alles verschwamm.
War die Reise schon eine Prüfung gewesen, so war die Ankunft noch schlimmer.
Queens war trostlos, das wahre Grauen, und Vladas Wohnung sogar noch trostloser.
Aber hier klopfte kein Beamter an die Tür, kein Vertreter der Einwanderungsbehörde, kein Zeitungsmann, keiner von Miriams Spionen, und nach den ersten paar Tagen begann Frank sich etwas zu entspannen. Seine Anwälte hatten ihn angewiesen, für eine Weile unterzutauchen, zu reisen, sich nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, bis sie die Sache mit der Einwanderungsbehörde geregelt hatten und die Scheidungsverhandlungen abgeschlossen waren, und so saß er nun hier in Queens,
New York, exiliert, frustriert und wütend - und zu allem Überfluss zeigte Olgivanna keinerlei Anzeichen der Besserung. Sie aß nicht richtig. Ihre Stirn fühlte sich immer heiß an. Das Baby klammerte sich an sie, unruhig, von Koliken heimgesucht, und raubte ihr das letzte bisschen Lebenskraft, und Svetlana hatte einen Trotzanfall nach dem anderen. Und ihre Haut - sie war so blass, dass es ihm regelrecht angst machte.
Er musste immer wieder an die Haut eines konservierten Dornhais denken, den er einmal gesehen hatte: in Formalin eingelegt, stellenweise ausgebleicht, sein Todesgrinsen grinsend.
Er kam sich vor wie in der sprichwörtlichen Schachtel in der Schachtel: Die Zimmer waren eng und erdrückend. Sie stanken nach dem Zeug, das Vladas Frau permanent in einem zerbeulten Topf in der Küche kochte, Borschtsch oder bozbash oder was immer es war, jedenfalls machte es ihn wahnsinnig. Um davon wegzukommen, dieser hermetischen Schachtel von einer Wohnung zu entfliehen und irgend etwas zu tun - zu atmen, zu gehen, zu denken -, nahm er jeden Tag mit Vlada den Zug nach Manhattan und wanderte dort durch die Straßen, fertigte Skizzen an oder schlüpfte in die Public Library, um seine Eindrücke von der Stadt zu Papier zu bringen, wobei er sein Gesicht stets unter seinem Schal und einem breitkrempigen Hut verbarg, um unerkannt zu zu bleiben.*
* Das muss besonders hart für ihn gewesen sein. Wrieto-San betrieb Eigenwerbung wie ein Weltmeister (übertroffen möglicherweise nur von P T. Barnum), und eine Straße entlangzulaufen oder einen Raum zu betreten, ohne seine Botschaft verkünden zu können, muss ihm alles vergällt haben.
Es war Vlada, der Puerto Rico vorschlug. Olgivanna brauche Wärme, Sonne, sauberen weißen Sand und den endlosen Horizont, und Florida komme nicht in Frage. Auch in Florida könne man sie noch aufspüren, in Puerto Rico dagegen werde sie keiner kennen, und keiner werde sich für sie interessieren. Ja, besser noch: Puerto Rico sei amerikanisches Protektorat, und man brauche keinen Pass, um dort einzureisen. Vlada arrangierte die Reise für sie. Eine Schiffspassage für zwei Erwachsene und zwei Kinder - Mr. und Mrs. Frank Richardson mit Familie - von New York nach San Juan. Wieder waren sie unterwegs - und Frank war nicht seefest, so dass ihm während der ganzen Fahrt übel war, mehr als Olya -, doch mit jeder Stunde, jedem Tag blieb der Winter weiter hinter ihnen zurück und stand die Sonne höher am Himmel.
Sie quartierten sich im Coamo Inn ein**, wo es heiße Schwefelquellen gab und riesige Portionen Bohnen, dazu Reis und platanos, dekoriert mit einem Spieß mit mariniertem Lamm- oder Ziegenfleisch. Morgens badeten sie, nachmittags machten sie lange Spazierfahrten, und er scherzte jeden Tag, stolzierte in seiner Badehose auf der Terrasse herum und erhielt den Anschein aufrecht, dass dies alles genau das war, was Olgivanna brauchte. War sie auf dem Weg der Besserung? Nicht erkennbar. Nicht, soweit er es sehen konnte. Er stellte eine Frau zur Versorgung des Säuglings ein, ließ die Mahlzeiten der Familie aufs Zimmer kommen, las Olgivanna und Svetlana abends vor. Es war erholsam, fast wie ein Urlaub. Aber sie waren nicht im Urlaub, sondern im Exil, und sie wussten es beide.
** Man fragt sich doch, wo Wrieto-San das Geld für diesen Ausflug hernahm, schließlich war er durch den Wiederaufbau von Taliesin und die Unterhaltszahlungen an die im Hotel Southmoor logierende Miriam verschuldet, von den Anwaltsgebühren ganz zu schweigen. Im Jahr 1926 hatte er insgesamt nur zwei sehr unbedeutende Aufträge.
Unter der glänzenden Oberfläche, dem Schimmer der Bananenpflanzen, den von blutroten Blüten übersäten Primavera-Bäumen, dem nächtlichen Duft des Jasmins herrschte die Fäulnis der Tropen, eine tiefe Unzulänglichkeit, die diesen Ort zum genauen Gegenteil von Wisconsin machte. Nachts gingen die Moskitos nieder wie ein offene Abwasserkanäle. Ausgemergelte Hunde lauerten im Schatten, und feldmausgroße Küchenschaben hingen an der Decke oder raschelten unter dem Bett. »Wir leben wie die Zigeuner, Frank«, sagte Olgivanna immer wieder zu ihm, etwas Schroffes in der Stimme, das er nie zuvor wahrgenommen hatte, die Farbe auf ihren Wangen wie das Rouge im Gesicht einer Leiche, ihre Glieder so dünn wie die Stengel des auf den Feldern grünenden Zuckerrohrs, »und ich werde keinen Frieden finden, solange ich nicht zu Hause bin, da, wo ich hingehöre. Und Svetlana - was ist mit Svetlana? Sie braucht ein normales Leben. Sie muss in die Schule gehen, das siehst du ja wohl ein. Das hier ist kein Land für sie. Es ist ein armes Land. Es macht mich traurig, hier zu sein und diese entwürdigten Menschen in ihren Lumpen sehen zu müssen.«
»Aber die sind hier zu Hause«, erwiderte er, obwohl er ihr insgeheim zustimmte.
Könnte es doch nur ein Puerto Rico ohne die Menschen geben, es wäre ein Paradies.
»Sie kennen es nicht anders.«
Ihre Stimme war belegt, ihre Antwort eine Folge peitschender Laute: »Sicher, aber ich will nichts davon wissen.«
Sie hielten einen Monat durch. Am letzten Tag, dem Tag bevor sie die Schiffsreise nach New York antraten, um von dort aus, komme was da wolle, nach Chicago, Madison und Spring Green weiterzufahren, sah er auf dem Rückweg von der Plaza zu seiner Verblüffung einen Mann auf einem Pferd, der sich vorbeugte und etwas Unverständliches in eines der niedrigen Flügelfenster der Hotelküche hineinrief. Er war sehr dunkelhäutig, dieser Mann - fast schwarz -, und für die Dauer eines entsetzlichen Augenblicks trat ihm das Bild Carletons* vor Augen, Carleton, wie er als Mann mittleren Alters ausgesehen hätte, und er blieb wie angewurzelt stehen. Der Gestank von Fäkalien stieg auf. Zwei schillerndgrüne Libellen landeten in einer Pfütze und flitzten wieder davon. Das Pferd des Mannes wankte im Stehen, so verkrümmt und ausgehungert, dass es aussah wie ein Gespenst, die Augen leer, das Fell vom Staub der Straße stumpf, und jetzt sah er, dass der Mann etwas im Arm hielt - ein Huhn, in einen roten Lumpen gewickelt. »Gallina«, rief der Mann. »Se vende una gallina. Muy barata. «
* Julian Carleton, 1888(?)-1914. Diener, Barbadier, Mörder. Siehe im folgenden.
Aus der Küche ertönte das Scheppern von Töpfen. Niemand antwortete.
Wäre nicht das Licht gewesen, die Art und Weise, wie es die Geometrie der nahen Mauer hervorhob und in die Kanten des Nebengebäudes schnitt, als solle hier etwas Neues erschaffen werden, etwas Fließendes, von Betonblock und Stuck Unabhängiges, etwas, das ganz und gar eine momentane Schöpfung der Sonne war, dann wäre er weitergegangen - er hatte es eilig, musste noch einige Vorbereitungen treffen, Koffer packen, Anwälte telegrafisch zu Rate ziehen und verpflichten, ein Mittagessen für Olya und Svet organisieren - doch er blieb stehen, fasziniert von dem Spiel der fließenden Schatten und dieser eigenartigen Szene. Und nun kam einer der Kellner des Hotels aus der Tür geschossen und begann den Mann mit hoher, angestrengter Stimme auszuschelten. Sofort sackte der Mann im Sattel nach vorn, als hätte er einen Hieb in den Magen bekommen. »Barata«, beteuerte er. »Barata. «
»Was ist los?« fragte Frank den Kellner. »Was will er?«
Der Kellner hatte ein rundes Gesicht und trug eine weiße Jacke, unter deren verschmutztem Kragen er gewaltig schwitzte, schon geschwitzt hatte, als sie gekommen waren, und auch nach ihrer Abreise weiterhin schwitzen würde. »Gar nichts ist los, Don Frank«, sagte er mit demonstrativem Achselzucken. »Außer dass er aus den Bergen kommt« - er wies über das rote Ziegeldach zu den undeutlich erkennbaren, mindestens fünfzehn Kilometer entfernten Felsspitzen der Cordillera Central. Noch ein Achselzucken. Er bedachte den Mann auf dem Pferd mit einem feindseligen Blick -, »um dieses Huhn zu verkaufen, das weniger Fleisch auf denKnochen hat als eine Taube, nein, als ein Spatz.«
»Aber warum? Warum kommt er von so weit her, nur um ein Huhn zu verkaufen?«
Jetzt hefteten beide Männer die Augen auf ihn.
»Weil er nichts hat. Weil er Geld braucht.«
Plötzlich kam er sich sehr dumm vor. Er stand in der grellen Sonne und stellte sich die aus einem einzigen Raum bestehende Hütte vor, die ohne Blaupausen, ohne Hammer und Nägel, ohne irgendein Werkzeug außer einer schartigen Machete zusammengebastelt worden war, das durchlässige Dach, die primitiven Möbel, kein Strom, kein Wasser, keine Scheibe für das einzige Fenster und nirgends etwas Schönes, etwas fürs Auge. »Sagen Sie ihm, dass ich das Huhn kaufe«, sagte er.
»Sie? Was wollen Sie denn damit anfangen?«
»Sagen Sie es ihm einfach.«
Das Geld, ein paar Münzen nur, wechselte den Besitzer, und er spürte die bebende Hand des Mannes ganz leicht an seiner. Dann hielt er das Tier, dessen Augen verbunden waren, in den Händen, fühlte die runzligen Reptilienfüße an seinen Fingerknöcheln - es war ein jämmerliches Exemplar, ein Kümmerer, halb so groß wie die Hühner in Taliesin -, und er versuchte sofort, es wieder zurückzugeben, reichte das warme Bündel über den verschwitzten Hals des Pferdes nach oben, doch der Mann wollte es nicht nehmen. Er hob bloß die gespreizte Hand, nickte und lenkte das Pferd wieder auf die Straße.
Früh am nächsten Morgen, noch ehe die Sonne aus dem Meer aufgestiegen war, um die Schatten zu kappen und die Hütten in den Bergen zu beleuchten, nahm Frank mit Olgivanna und den Kindern das Schiff nach Hause.
Und so musste sie eine weitere Reise durchstehen, diesmal nach der umgekehrten Logik, sie stahlen sich nicht fort, sondern hin, das Meer wechselte von einem zartem Türkis zu einem bläulichen Grün und schließlich zu einem tiefen metallischen Grau, während sie in den Winter zurückdampften und Svetlana sie mit endlosen Fragen löcherte - »Wo fahren wir hin, Mama? Zu Onkel Vlada? Was glaubst du, wo wir gerade sind? Krieg ich was Süßes?« -, und dann kam der hämmernde Kopfschmerz der über die vereisten Schienen nach Spring Green, Wisconsin, donnernden Stahlräder: Die Richardsons reisten, als wäre es ihr Beruf.
Oder ihr Schicksal. Am Bahnhof erwartete sie ein Wagen. Die vertraute Straße. Der Fluss, die Brücke, der See. Der lange Federstrich der Mauern, der Schwung der Dächer. Waren sie daheim? Waren sie wirklich daheim?*
* Wrieto-San war ein wahrer Apostel des Heims, seine revolutionären Präriehäuser waren alle um einen zentralen Kamin herum erbaut, und die Zimmer gingen offen ineinander über, um einen gemeinschaftlich familiären Raum zu schaffen. »Ein wirkliches Heim ist das vornehmste Ideal des Menschen«, so sein berühmter Ausspruch aus seiner Autobiographie (allerdings ergänzte er diese Maxime - schizophrenerweise, muss man wohl sagen - durch die Worte: »und dennoch - der Freiheit halber bat ich um die Scheidung«).
Zuerst verspürte sie Erleichterung, denn das Innere des Hauses tat sich mit den vertrauten Gerüchen vor ihr auf - Messingpolitur, das Wachs, das Frank für die Holzteile benutzte, Leinöl, der säuerliche Geruch der kalten Asche, die die ganze Zeit ausgebreitet im Kamin gelegen hatte, und nach wie vor ein kaum merklicher Brandgeruch von den verkohlten Überresten unter den Böden -, dann ihr Bett, ihre Sachen, die Küche mit ihrer Verheißung von selbstgekochtem Essen, von Brot, Kuchen und Plätzchen, solchen Plätzchen, wie sie sie mit Dione, Sylvia und Nobu gebacken hatte, doch als sie am nächsten Morgen aufstand, spürte sie nur noch die Schwere, die auf allem lastete. Mrs. Taggertz kam wieder, um für sie zu kochen, ein Rumpfpersonal schlurfte durch die Flure. Sie verbrannten grünes Holz. Nichts war, wie es sein sollte. Sie hätte am liebsten das Heft in die Hand genommen, aber sie war schwach und und krank, und die Welt schien alle Farbe verloren zu haben. Und Frank - Frank war auch nicht auf der Höhe, er schlich wie ein Einbrecher durch sein eigenes Haus und spähte immer wieder aus dem Fenster, als rechnete er damit, dass jeden Moment ein Kordon von Sheriffs, Marshals und FBI-Agenten die Auffahrt heraufkommen würde. Was nützten all die Fenster, was nützte die schönste Aussicht, wenn man sich dadurch bloß schutzlos ausgeliefert fühlte?
»Niemand darf dich sehen«, sagte Frank am Tag ihrer Ankunft, »so lange, bis das alles geregelt ist«, und daraufhin entschwand er, um sich mit seinen Anwälten zu beraten.
Und dann kam ein Morgen im April, als die Sonne über die Südflanke des Hauses kroch, die Steinplatten im Hof wärmte und Olgivanna sich einen Stuhl unter die erwachenden Eichen stellte, um Svetlana etwas vorzulesen. Wenn ihre Tochter schon nicht zur Schule gehen konnte - denn auch sie durfte nicht gesehen werden -, dann wollte Olgivanna ihr doch auf ihre eigene Weise Bildung vermitteln. Und so standen täglich Tanz, Kunst und Musik sowie die Lektüre bedeutender Werke aus Franks Bibliothek auf dem Programm - die amerikanischen Dichter, Wilhelm Meister, Der Mann ohne Vaterland, Victor Hugos Der Glöckner von Notre Dame -, durch die sie beide ihre gesprochene und geschriebene Sprache verbesserten. Und Svetlana war ein wahrer Engel, sie machte wunderbar mit, schien wirklich lernen zu wollen. Oder vielleicht langweilte sie sich auch nur. Wer hätte es ihr verübeln können? Auch sie spürte die Anspannung - sie alle warteten auf etwas Undefinierbares, einen Moment der Erlösung, der nicht kommen wollte.
Die Haushälterin hatte ihnen gerade zwei Tassen heiße Schokolade gebracht, auf dem Hang hinter ihnen grünte das Gras, und überall waren Vögel, deren Zwitschern und Pfeifen das ewige Geklopfe von den Bauarbeiten am anderen Ende des Hauses übertönte. Frank war irgendwo da drüben bei Billy Weston und den anderen, mit hochgekrempelten Ärmeln, in der Hand einen Hammer. Sie reichte Svetlana das Buch. »Jetzt du - hier, lies die letzte Strophe.«
»>Die Luft webt selbst hier ihr Gedicht««, begann Svetlana mit leiser, hauchiger Stimme, »>gefasst in sanfte stumme Silben ! Verzweiflung zeigt nun ihr Gesicht ! die lang -<«
»Ja«, sagte sie. »Mach weiter.«
Aber Svetlana blickte nicht mehr in das Buch. Die Zunge im Mundwinkel, starrte sie über die Schulter ihrer Mutter. Als Olgivanna sich umdrehte, sah sie einen Fremden mit einer überdimensionierten Umhängetasche in großen Schritten die Auffahrt heraufkommen, als hätte man ihn eingeladen, als gehörte er hierher, und ihr erster Gedanke war, dass das einer von Franks Anwälten sein musste, aber welcher Anwalt würde eine Hose tragen, die so eng war wie die eines Halbwüchsigen? Oder eine Weste mit großen Tupfen? Oder keinen Hut?
»Olga«, rief er mit einer Stimme, die herzlich und gewinnend klingen sollte, der Stimme eines versierten Kundenwerbers, und seine Lippen verzogen sich zu einem mechanischen Lächeln, während seine rechte Hand in einer simulierten Begrüßungsgeste über der Schulter hin und her wedelte. Ehe sie aufstehen konnte, war er schon bei ihnen angelangt. »Bleiben Sie ruhig sitzen«, sagte er augenzwinkernd, achselzuckend, an seinen Ärmeln zupfend, »ich brauche nicht lange.«
Sie setzte ihre Tasse ab. Ihre Hand wanderte zu ihrem Haar. Was war das für ein Mann? Ein Vertreter? Ein Schaulustiger? Und woher kannte er ihren Namen?
All diese Fragen klärten sich im nächsten Moment. Er wühlte in seiner Tasche wie ein irrer Briefträger, und sie sah, dass er zitterte - seine Hände bebten, und in seinen Schultern hatte sich ein Zucken festgesetzt -, bis er schließlich einen Stapel Zeitungen hervorzog und ihr in den Schoß legte.
»Wallace ist mein Name, von der Trib. Haben Sie die hier schon gesehen?«
Sie schaute zu ihrer Tochter hinüber, aber von Svetlana kam nichts. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, wie ihre Wangen glühten vor Scham, denn genau das empfand sie - Scham. Die Zeitungen datierten vom November und Dezember - OLGA AUSWEISEN? UNMÖGLICH, BEHAUPTET WRIGHT -, und dann war da noch eine neuere Nummer vom Februar, so gefaltet, dass ein viertelseitiges Foto zu sehen war, das sie im Seidenkleid und mit ihren Filigranohrringen aus Platin zeigte, den Blick von der Kamera abgewandt, als hätte sie etwas zu verbergen, und die Bildunterschrift lautete:
ANGEKLAGT. Darunter, in kleineren Buchstaben: Olga Milanoff, zu der sich Frank Wright seiner Frau zufolge geflüchtet hat.
Frank hatte sie die Zeitungen nicht sehen lassen. Sie würden sie nur aufregen, hatte er gemeint. Das Ganze sei nicht der Rede wert. Werde sich von selbst erledigen. Nicht der Rede wert. Dabei wurde sie hier regelrecht vorgeführt. So dass alle sie begaffen und verlachen konnten. Wie eine missgebildete Jahrmarktsattraktion.
»Was wir wollen«, sagte der Mann gerade, »ist Ihre Version der Geschichte.«
WRIGHT ENTZIEHT SICH AMERIKANISCHEM GERICHTSVERFAHREN, BEHAUPTET EHEFRAU. Architekt angeblich mit russischer Tänzerin zusammen.
Er kaute Kaugummi, und seine Zähne zermahlten die Überreste eines Lächelns.
»Haben Sie irgend etwas zu sagen? Eine Stellungnahme?«