Kapitel 1

EINE SCHWÄCHE FÜR FRAUEN

 

Kitty saß auf dem vertrauten Sofa mit der harten Lehne, das vor dem aus flachen Ziegeln gemauerten Kamin stand, im Wohnzimmer des Hauses, das ihr so vertraut war, als wäre es ihr eigenes, was es natürlich nicht war. Es war Mamahs* Haus. Und Edwins. Oder vielleicht sollte sie es Franks Haus nennen, da die von ihm gestalteten Zimmer einander so glichen, dass es war, als lebte er in Hunderten Räumen zugleich, Räumen, die über das ganze Land verteilt sein mochten, in der Architektur seines Geistes jedoch irgendwie ein Kontinuum darstellten. Es war Franks Haus, ganz klar, ebenso wie das Haus, das sie gemeinsam bewohnten, seines war. Alles gehörte ihm. Er drückte allem seinen Stempel auf, seien es leblose Dinge oder Menschen: ihr, seiner eigenen Frau, ebenso wie Mamah und Mrs. Darwin Martin und allen anderen Frauen, die in sein Visier gerieten. Er war sogar so weit gegangen, ihre Kleider zu entwerfen, so wie er Kittys Kleid entworfen hatte, und bis zu diesem Augenblick an einem bedrückenden, trostlosen Winternachmittag in Oak Park hatte sie das nie seltsam oder außergewöhnlich oder auch nur bemerkenswert gefunden. Es war eben so, wie es war. Wie Frank war.

 

* sprich: Meimah - obwohl die Assoziation mit dem weicheren, elementareren »Mama« angesichts von Wrieto-Sans tieferen Bedürfnissen und dem, was die Zukunft unvermeidlich bringen würde, für jeden Freudianer natürlich unwiderstehlich ist.

 

Und nun saß sie da und sah zu, wie das Feuer seine geschmeidigen Finger um das Scheit auf dem Kaminbock schloss, hörte es auch, hörte außerdem, dass der Schneeregen alle Geräusche in der Nachbarschaft verstummen ließ und die kleine Martha in ihrem Kinderbett ein Stockwerk unter ihr leise vor sich hin murmelte. Es war sehr still. Auf einem niedrigen Tisch vor dem Kamin stand Teegeschirr, das jedoch niemand angerührt hatte. Mamah saß ihr gegenüber auf der Kante des Sessels und bemühte sich, sie nicht anzusehen, Edwin - so mild und mit so sanfter Stimme, als wäre er ein aus einem englischen Roman hierher transportierter Pfarrer - stand mit niedergeschlagenen Augen und stumm hinter seiner Frau, der breite kahle Streifen auf seinem Kopf leuchtete im Licht von Franks künstlerisch gestalteten Glaslampen. Und Frank - ach, in diesem Augenblick war er ihr verhasst, er war abscheulich, abstoßend, eine unter den Rädern eines Traktors zermalmte Ikone -, Frank hatte sich an den Kaminsims gelehnt, auf dem die mit dem Geld der Cheneys gekauften orientalischen Statuen standen, die Messingbuddhas und aus Elfenbein geschnitzten Figuren, die in keinem kultivierten Haushalt fehlen durften. Er hatte die Arme verschränkt und stand mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Seine Augen blickten hart und metallisch, sie waren wie zwei Pfeile, mit denen er erst Edwin und dann sie an die geronnene Luft heftete. Und was hatte er gerade gesagt? Mamah und ich lieben uns.

Lieben uns. Als wüsste er irgendwas von Liebe. Als hätte er nicht ausgiebig auf den Erinnerungen an das, was sie in den vergangenen zwanzig Jahren geteilt hatten, herumgetrampelt und sie mitsamt den Wurzeln herausgerissen, so in Anspruch genommen von seiner Arbeit, von sich selbst, dass er sie kaum noch eines Blickes würdigte und sie wie eine Dienerin und die Kinder wie Fremde behandelte - sie waren nichts weiter als eine Gruppe von Menschen, die ihm Anlass zu Verärgerung gaben.* Liebe? Sie war es, die wusste, was Liebe war, und sie liebte ihn noch immer, gegen ihren Willen und so leidenschaftlich, dass sie am liebsten aufgesprungen wäre und ihm die Haare ausgerissen, die Augen ausgekratzt und ihn verprügelt hätte. Und sie ebenfalls. Auch sie, die Vampirin.

 

* »Der Architekt überlagerte den Vater in mir, [...] denn ich konnte mich nie an dieses Wort oder an den Gedanken gewöhnen, ein Vater zu sein. [...]Ich hasste den Klang des Wortes Papa.« (Aus: EineAutobiographie) Es steht mir nicht zu, diese Sätze zu kommentieren, aber ich würde alles dafür geben, dieses Wort noch einmal aus dem Mund meines Sohnes zu hören«.

 

Er war verliebt. Ihr Mann war verliebt. In eine andere Frau, eine Frau, die für sie stets eine besondere Freundin gewesen war. War es eine Offenbarung? Erwartete er, dass sie auf die Knie fiel, sich gegen die Brust schlug und ihre Kleider zerriss? Oder sollte sie das Zeichen des Kreuzes machen und die beiden segnen? Diese Aussage war doch nichts Neues, sie war nicht einmal eine Überraschung. Er und Mamah schlichen nun schon seit Monaten mit aufgesetztem Lächeln herum. In der Öffentlichkeit waren sie diskret, bis auf die Spritztouren, die er mit ihr in seinem knallgelben Wagen unternahm, an dessen Kühlerhaube ebensogut ein großes Schild mit der Aufschrift SEHT HER! hätte befestigt sein können. Aber ihr Mann hatte eben eine Schwäche für Frauen, das war schon immer so gewesen und würde immer so sein, und er hatte sogar eine vernünftig klingende Entschuldigung: Er musste bei den Frauen in der Nachbarschaft seinen Charme spielen lassen, denn die Frauen waren es, die das Geld verwalteten, sie waren es, die so lange herumnörgelten, bis ihre Männer schließlich den Sprung wagten, und was glaubte sie denn, wie er das Geld verdiente, um ihr und sechs Kindern Kleidung, Essen und ein Dach über dem Kopf zu ermöglichen, und ja, ja, es gab Rechnungen vom Gemüsehändler und vom Mietstall und so weiter, was nur ein weiterer Beweis dafür war, wie nötig es war, diese Frauen, diese Kundinnen zu umwerben. Das hatte sie akzeptiert. Sie hatte ihm geglaubt. Ihm vertraut. Sie hatte gehofft, dass er diese Verliebtheit überwinden würde, wie er so schon viele überwunden hatte. Aber jetzt war es zu spät. Jetzt hatte er die Worte ausgesprochen, und es gab keinen Weg zurück.

Er brach das Schweigen und sagte: »Wir wollten es nicht, wir wollten niemandem weh tun, am allerwenigsten dir, Kitty - oder dir, Edwin. Damit hat das nichts zu tun. Ganz und gar nichts.«

Mamah mit ihren Katzenaugen und ihren prätentiösen Bewegungen erhob sich unvermittelt, ging zu Frank und stellte sich neben ihn, als wäre sie eine Art Dekoration. Edwin sah abrupt auf. »Womit hat es denn zu tun?« fragte er. Seine Frage war kaum lauter als ein Flüstern.

Mamah antwortete mit ihrer hohen, flötenden Stimme: »Mit Freiheit.«

»Freiheit? Der Freiheit, was zu tun?« Edwins Blick ging zu Frank. »Zwei Familien zu zerstören - für ihn? Für diesen Architekten? Für dieses zu kurz geratene Genie?«

Kitty konnte nur daran denken, dass sie hier wegwollte, hinaus in die Kälte, auf die vertraute Straße, und sie dachte auch an Llewellyn, der erst fünf war und sie brauchte, der seinen Vater brauchte, sein Essen, seine Spielsachen und seine Malbücher. Was war mit Llewellyn? Was war mit dem Haus? Und mit Franks Mutter, die im Gartenhaus wohnte? Was war mit ihr? Würde das alles mit großem Getöse zusammenbrechen?

Mamahs Miene wurde streng. »Kein Grund, unhöflich zu werden, Edwin.«

»Bitte«, sagte Frank und nahm tatsächlich Mamahs Hand, als wären sie zwei Kinder auf einem Schulausflug, »ihr müsst verstehen, wie schwierig das alles für uns ist, aber es gibt kein höheres Gesetz als das, welches besagt, dass die Liebe frei ist -«

»Ellen Key«, sagte Edwin bissig. Er hatte sich nicht gerührt, nur die Hände gefaltet, als würde er beten. Oder etwas zerquetschen.

 

* Ellen Karolina Sofia Key, 1849-1926. Schwedische Feministin, Schriftstellerin, Pädagogin und Radikale. Verfasserin der Bücher Über Liebe und Ehe (1906) und Die Frauen-Bewegung (1909). Mamah war ihre Jüngerin und später ihre Übersetzerin. Eine typische Passage aus Über Liebe und Ehe liest sich etwa so: »So wie Alchemie zu Chemie geworden ist und Astrologie zu Astronomie geführt hat, könnte eine solche Deutung der Zeichen einer Lehre den Weg bereiten, die wir [...] Erotoplastik nennen könnten: die Doktrin, dass die Liebe eine bewusst gestaltende Kunst ist und nicht ein blinder Fortpflanzungstrieb.«

 

»Genau«, sagte Mamah. »Ellen Key. >Liebe ist selbst ohne Trauschein moralisch, aber eine Ehe ohne Liebe ist unmoralisch.«« Sie sprach den Satz wie eine Schauspielerin, als hätte sie ihn einstudiert, und Kitty wurde bewusst, dass sie ebendies tatsächlich getan hatten: Alle beide, sie und Frank, hatten diesen Auftritt in irgendeinem Salon oder Schlafzimmer geprobt, bis er aufführungsreif war. »Ich habe dich nie geliebt, Edwin, das solltest du wissen, und ich habe nie so getan, als würde ich dich lieben. Jedenfalls nicht mit einer wahren, tiefen, verbindenden Liebe« - hier sah sie Frank mit einem süßlich anhimmelnden Blick an -, »mit einer Liebe zwischen Seelenverwandten. Einer vom Schicksal bestimmten Liebe.«

Es lagen Gemeinheiten in der Luft, ein Ausfallen und Parieren, Grausamkeiten, die wie Eiter aus diesem ganz normalen Nachmittag in jenem alkoholfreien Vorort Chicagos hervorbrachen, der wegen seiner Vielzahl von Kirchen, seiner Ruhe und Gesetztheit, seiner Normalität und Wohlanständigkeit Saint’s Rest genannt wurde, und Kitty wollte nichts damit zu tun haben. Sie fühlte sich so gedemütigt, dass sie kein Wort sagen konnte. Ohne nachzudenken, erhob sie sich, und die drei anderen sahen sie erstaunt an, als hätten sie vergessen, dass sie da war - noch eine Ehefrau und Mutter, die auf dem Altar der freien Liebe geopfert wurde.

»Kitty«, hörte sie Frank sagen. Und Mamah sagte ebenfalls: »Kitty.« Das war alles, was sie herausbrachten, zwei abgenutzte Silben, als könnten sie Kitty, indem sie ihren Namen sagten, dorthin zurückversetzen, wo sie gewesen war, als sie vor fünfzehn Minuten durch die Haustür getreten war.

Sie gab keine Antwort. Sie ging direkt zur Garderobe, nahm ihren Mantel und wehrte Frank ab, als er ihr hineinhelfen wollte, und dann war sie draußen in der beißenden Kälte und kämpfte sich durch das Labyrinth aus Mauern und Winkeln, das Frank errichtet hatte, um die Cheneys vor dem Geschehen auf der Straße abzuschirmen. Sie hörte, dass er ihr etwas nachrief, drehte sich aber nicht um. Und als sie zu dem Wagen kam - dem chromblitzenden Aushängeschild seines Ichs und seiner Selbstliebe, der einzigen Liebe, zu der Frank fähig war, das wusste sie jetzt und würde es immer wissen -, ging sie einfach weiter.

Wochen und Monate vergingen, und nichts änderte sich. Nur dass sie die Cheneys nicht mehr besuchen konnte oder wollte, obwohl sie nur ein paar Blocks entfernt wohnten und das gesellschaftliche Gewebe in Oak Park so dicht war, dass jeder lose Faden sogleich ins Auge stach. Hatte es einen Bruch gegeben? Das wollten ihre Freundinnen wissen, durch und durch schickliche Frauen, die sie seit Jahren kannte.

Sie schnüffelten, sie witterten einen Skandal und waren wie Geier, die über einem Kadaver kreisten. Nein, sagte sie, nein, ganz und gar nicht - sie habe nur alle Hände voll zu tun mit den Kindern. Catherine sei eine richtige junge Dame geworden, und bei Frances werde es auch bald soweit sein. Ihr Lächeln wirkte müde. Und sie wussten es, sie alle wussten es. Oder vermuteten es.

Sie wahrte den Schein, so gut sie konnte, und ging weiterhin regelmäßig zu den Treffen des Nineteenth Century Woman’s Club, hielt aber wachsam Ausschau nach Mamah - und sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie, Kitty, es gewesen war, die sich mit dieser Frau angefreundet und sie ihrem Mann, dem Architekten, vorgestellt hatte, in der Annahme, dass sie damit ihren Teil dazu beitrug, Aufträge an Land zu ziehen. Was für eine Ironie - so gnadenlos wie in einem französischen Roman. Hasste sie Mamah mit ihrem Deutsch und Französisch, mit ihrem Collegeabschluss, ihrem überlegenen Getue und ihrer Art, alle herumzukommandieren - oder zu verführen -, Mamah, die immer bekam, was sie wollte, ob es nun um etwas so Triviales ging wie die Festsetzung eines Termins für eine Kartenrunde oder etwas so Bedeutsames wie die Wahl des Architekten, der ihr ein Haus bauen sollte? Ja, ja, sie hasste sie, auch wenn sie versuchte, dieses Gefühl so oft wie möglich aus ihrem Herzen zu verbannen. Sie fuhr fort zu waschen und zu nähen und zu kochen und das Personal zu beaufsichtigen und widmete all ihre Energie den Kindern, die bedürftiger denn je wirkten, als spürten sie, was hinter den Kulissen geschah. Es war nicht zu erkennen, wieviel sie wussten, und so blieb ihr nichts anderes übrig, als sie - besonders die Kleinen, Llewellyn und Frances - auf eine indirekte Weise auszufragen. Aber in solchen Dingen war sie noch nie geschickt gewesen. Und Frances war intelligent und für ihr Alter - im Herbst wurde sie elf - sehr clever, und Kitty musste vorsichtig sein, wenn sie sich, so beiläufig wie möglich, nach John Cheney erkundigte, ob sie ihn in der Schule gesehen habe, denn es sei ja schon ganz schön lange her, seit die Cheneys zu Besuch gekommen seien, und wie war John denn so, ein guter Junge? Kam nach seinem Vater, nicht? Aber natürlich, ja, er war erst sieben, eigentlich noch ein Baby. So alt wie Llewellyn. Oder nein: eineinhalb Jahre älter. Und warum sollte ein so großes Mädchen mit einem Baby spielen - oder es auch nur bemerken?

Alles war vorläufig, ihr Leben war eine sich entrollende Schnur, die auf die Klinge wartete, und jede Nacht, wenn Frank aus dem Studio kam, das er vom Rest des Hauses abgetrennt hatte, als wäre es ein Bunker, verspürte sie eine überwältigende Erleichterung und Dankbarkeit - und, ja, Liebe. Wahre Liebe. Nicht die Liebe zu einem Objekt oder die Liebe, wie sie in irgendwelchen Büchern geschildert wurde, sondern den tiefen Schmerz des Begehrens, den sie kannte, seit sie mit Sechzehn auf einer Kostümparty in der Kirche seines Onkels Jenkins mit Frank zusammengestoßen war.

Das Thema des Abends war Les Misérables von Victor Hugo gewesen, sie war als Cosette verkleidet gewesen und er als Marius, und ihre Köpfe waren so heftig aufeinandergeprallt, dass sie noch eine Woche lang eine Beule gehabt hatte. Du bist noch zu jung zum Heiraten, hatten alle gesagt, aber er warb um sie mit all seiner unwiderstehlichen Energie, und auch wenn ihre Eltern ihn hinhielten und seine Mutter sich wie eine Harpyie mit ausgebreiteten Flügeln gegen diese Verbindung stellte - sie war Catherine Lee Tobin mit dem flammendroten Haar und den blitzenden Augen, und nichts würde sie aufhalten. Als sie geheiratet hatte, war sie noch keine achtzehn gewesen. Und nun, zwei Jahre vor ihrem vierzigsten Geburtstag, wurde sie verstoßen.

In jenem Jahr - 1909- brachte der Frühling von Ende Mai bis Mitte Juni wolkenlose Tage. Auf dem Land mochten die Farmer sich besorgt den Kopf kratzen, doch in Oak Park mit seinen schattenspendenden Bäumen und den die Häuser umgebenden Rasenflächen, auf denen Vogeltränken und Liegestühle standen, war eine solche Trockenzeit willkommen. Alles schien sich zu verlangsamen. Ladenbesitzer schlossen ihr Geschäft für einen Nachmittag, die Kinder spielten nach der Schule Ball oder gingen schwimmen, Blumen blühten, Zikaden ließen ihr einschläferndes Sirren aus dem Schutz dichten Blattwerks ertönen. Man veranstaltete Picknicks, kochte gemeinsam draußen, warf Hufeisen nach einem Pfahl. In den Gärten schwangen Hängematten träge hin und her, und selbst die Vögel schwiegen in der Schläfrigkeit der Mittagszeit. Eines Nachmittags, als die Jungen irgendwohin gelaufen und Catherine und Frances damit beschäftigt waren, ein Stück zu proben, beschloss Kitty hinauszugehen und das schöne Wetter zu genießen - sie musste ein paar Lebensmittel einkaufen, und das war Anlass genug. Sie ließ Llewellyn das Hemd wechseln und kämmte ihm das Haar, dann setzte sie ihren Strohhut auf, nahm Tasche und Sonnenschirm und ging die Forest Street hinunter, vorbei an all den prächtigen Häusern, die Frank entworfen und an denen er so lange gearbeitet hatte, bis es gewesen war, als wäre dies sein eigenes, privates Erschließungsgebiet. Dann bog sie in die Lake Street ein, wo die Geschäfte waren.

Der Lebensmittelhändler war nicht unfreundlich, aber während er ihre Einkäufe zusammenrechnete, wies er sie auf die offene Rechnung in Höhe von etwa 900 Dollar* hin, und sie versicherte ihm, Frank werde noch am selben Abend kommen und sie bezahlen, doch der Zwischenfall gab ihr das Gefühl, billig zu sein, eine Diebin, eine Frau, die sich ihrer Verantwortung entzog. Sie versuchte, es zu verdrängen und den Sonnenschein und die anhaltende Wärme des Tages zu genießen - es war etwa dreißig Grad, und vom See wehte eine ganz leichte Brise, geradezu perfekt -, und so sah sie sich ein paar Kleider an, kaufte Llewellyn ein Eis und machte sich dann auf den Rückweg. Sie war gerade in die Kenilworth Street abgebogen, weil sie auf einem anderen Weg zum Haus zurückkehren wollte, und sei es nur, um mal wieder einen anderen Blick zu gewinnen, als das Mädchen der Cheneys, an jeder Hand ein Kind, ihr auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig entgegenkam.

 

* Eine erstaunliche Summe, die unter Einbeziehung der Inflationsrate im Jahr 1979 etwa 6500 Dollar entsprochen hätte. O 'Flaherty-San und ich konnten die Zahl durch Einsicht in Gerichtsunterlagen verifizieren, denn Wrieto-San wurde ständig auf Begleichung seiner Schulden verklagt. Einmal sagte er zu mir, wenn man sich als erstes Luxusgüter leiste, regele sich das Lebensnotwendige von allein - angesichts seines Kommentars über meinen Bearcat fand ich diese Bemerkung reichlich snobistisch.

 

»Sieh mal«, sagte sie und beugte sich zu Llewellyn, dessen klebrige kleine Hand sie hielt, »da sind John und Martha. Sollen wir sie begrüßen?« Sie winkte, und das Kindermädchen überquerte pflichtschuldig die Straße. John hüpfte voraus, während Martha - sie war etwa drei - die Hand des Mädchens nicht losließ. Llewellyn machte sich von Kitty los, und die beiden Jungen schossen sofort hinter irgendeinen Baum und spielten ein spontan erfundenes kleines Spiel. Da war das Kindermädchen. Und Martha. »Guten Tag«, sagte Kitty.

»Guten Tag, Ma’am.«: Sie stammte aus einer irischen Familie, war zierlich, hielt sich leicht gebeugt und hatte schwarzes Haar, das ihr Gesicht bleich wirken ließ, und unverwandt blickende Augen. Es war einige Zeit her, seit Kitty sie zuletzt gesehen hatte, und sie konnte sich nicht an ihren Namen erinnern.

»Du liebe Zeit, sind die aber gewachsen«, hörte sie sich sagen, ganz die konventionelle Hausfrau, immer eine Platitüde zur Hand. Und nun? Was sollte sie nun noch sagen?

»Ja, Ma’am«, antwortete das Mädchen. »Alle beide. Es ist schon eine Freude, nicht?«

Sie wollte gerade sagen, es sei in der Tat eine Freude, als sie den Fehler machte, in die Hocke zu gehen, um der kleinen Martha ins Gesicht zu sehen und ihr in süßlichem Ton zu versichern, dass sie eine regelrechte junge Dame sei. Es war ein Fehler, denn als sie das Kind genauer betrachtete - den Teint, die Form der Nase und der Ohren, besonders der Ohren -, sah sie mit einemmal Frank und zuckte innerlich zusammen.

Doch das konnte nicht sein. In dem Mädchen steckte zuviel von Edwin, oder etwa nicht? Das waren genau seine Augen. Oder waren es Mamahs? Ihre ganze Haltung, die feinen hübschen Gesichtszüge, der schwelgerische Blick, das alles erinnerte, selbst jetzt, da sie wie ein Zubehör an der Hand des Kindermädchens hing, an Mamah. Aber nicht an Frank. Nicht an Frank. Das konnte auch gar nicht sein - oder doch? Er hatte das Haus der Cheneys 1904 gebaut, war täglich von morgens bis abends mit seinen Zimmerleuten und Arbeitern und Plänen auf der Baustelle gewesen, und Martha war erst zwei Jahre später geboren worden. Als würde das irgend etwas beweisen. Sie erinnerte sich an Mamahs Schwangerschaft, an ihren dicken Bauch und daran, dass sie sich ununterbrochen beklagt hatte, als wäre sie eine Märtyrerin, die erste Frau auf der Welt, die Blähungen und morgendliche Übelkeit zu erdulden hatte. Sie machte sich nichts aus Kindern, das war es - jedenfalls nicht so wie Kitty. Ihre Ideen, ihre Bücher, ihre kostbaren Freiheiten waren ihr wichtiger.

»Ja«, sagte Martha mit ihrer Piepsstimme, »ich bin jetzt schon groß. Und ich will einen Teddybär. Lucy kauft mir einen Teddybär. Wusstest du das?«

»Das ist aber nett von ihr«, sagte Kitty geistesabwesend. »Das ist bestimmt -«, und dann rief sie, von Gefühlen überwältigt, mit schriller Stimme nach Llewellyn, verabschiedete sich von dem Kindermädchen und setzte ihren Weg fort, wobei sie in Gedanken Monate und Jahre zusammenzählte und Mamah Cheney aus tiefstem Herzen hasste.

Auf den ersten Blick war Frank an diesem Abend ganz der alte.

Beim Essen scherzte er mit den Kindern, danach setzte er sich lange an den Flügel und spielte sein Repertoire von Gilbert-und-Sullivan-Stücken, und die Mädchen und Llewellyn sangen mit, genau wie sie selbst, auch wenn sie mit dem Herzen nicht dabei war. Und Frank ebenfalls nicht. Er spiegelte nur etwas vor - es war alles nur Vorspiegelung, sie sah es, sie durchschaute ihn. Er schlüpfte ebenso mühelos in die Rolle des Vaters wie in die des Architekten, der einen neuen Auftraggeber begrüßt. Er schlüpfte in diese Rolle, wie er in einen neuen Anzug schlüpfte, nach Maß geschneidert, damit er um so besser glänzen konnte und alle Welt ihn bewunderte, bis die Aufträge sich stapelten und sein Name in aller Munde war.

Er war auf dem Weg zurück ins Studio - er arbeitete jetzt abends, jeden Abend, immer später in die Nacht hinein -, als sie ihn im Gang einholte. Sie hatte nicht vor zu nörgeln, aber sie wollte mit ihm über die offene Rechnung beim Lebensmittelhändler sprechen. Geldangelegenheiten waren einzig und allein seine Sache, aber konnte er nicht die übrigen Ausgaben ein wenig einschränken, bis einige der Rechnungen bezahlt waren? Das war es, was sie sagen wollte, denn es beschäftigte sie, und unter dem Blick, mit dem der Händler sie angesehen hatte, war sie sich gewöhnlich vorgekommen. Sie war auf eine Art angespannt, die sie nicht hätte benennen können, und anstatt von der Rechnung zu sprechen, platzte sie heraus: »Ich habe heute die Cheney-Kinder gesehen, John und die kleine Martha, und musste unwillkürlich ... an dich denken.«

Sie sah den Ausdruck in seinen Augen: Er wollte nichts davon hören, er wollte keine Konfrontation, keinen Streit, und er hatte zu arbeiten, konnte sie das nicht verstehen?

Er musste arbeiten. Arbeiten, um diesen ganzen schlingernden Zirkus in Gang zu halten. Er sagte: »An mich? Warum um alles in der Welt -«

»Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«

Und mit einemmal war er wütend, aufgebracht, wippte auf den Ballen und musterte sie mit zusammengezogenen Brauen. »Wer?« fuhr er sie an. »Martha? Meinst du das?«

Sie konnte diesen Augenblick nicht ertragen, sie konnte ihn nicht hinter sich bringen, ohne den Verstand zu verlieren, denn wenn das stimmte - und sie prüfte ihn, machte ihm Druck, zwang ihn aus der Deckung -, würde sie sich umbringen. Sie würde schreien, dass die Schindeln vom Dach fielen, und kreischend die Straße hinunterrennen, sie würde sich in den See stürzen und tief unten auf dem Grund bleiben, bis nichts mehr von ihr übrig war.

»Du bist eine törichte Frau, Kitty. Nein, du redest dir etwas ein. Du bist verrückt.«

»Warum? Weil ich von meinem Mann erwarte, dass er mich liebt oder wenigstens sein Ehegelübde hält? Ist das verrückt?«

Doch er gab ihr keine Antwort. Er kehrte ihr einfach den Rücken und ging in sein Studio, das taghell erleuchtet war.

Es änderte sich nichts. Der Sommer ging ins Land, die Schule begann, und es wurde abrupt regnerisch. Um sich zu beschäftigen, eröffnete sie im Haus einen Kindergarten, was Frank ihr nur um so mehr zu entfremden schien, als würden die Lebhaftigkeit - und die beglückende Fröhlichkeit, ja, die Fröhlichkeit - von einem Dutzend kleiner Kinder, die sich für ein paar Stunden im Haus herumtrieben, seine Kreativität zerstören und ihn bettelarm auf die Straße treiben. Es war Anfang Oktober, das Laub begann sich zu verfärben, und ein schwacher Geruch nach Rauch hing in der Luft, als Kittyhörte, Mamah sei mit John und Martha nach Colorado gefahren, um eine Freundin zu pflegen, die schwerkrank sei - oder jedenfalls krank genug, um Pflege zu brauchen.

Die drei waren über den Sommer anscheinend irgendwohin gefahren und zum Schulbeginn nicht zurückgekehrt. Kitty kannte die Freundin nicht und wünschte ihr weder Schlechtes noch Gutes oder sonst irgend etwas. Sie war nur erleichtert. Mamah war fort. Die Bedrohung war vorüber. Und Edwin ... Sie musste sich von Edwin getrennt haben, das war die einzige Erklärung - die Geschichte mit der kranken Freundin war bloß eine Ausrede. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht stimmte sie ja. Jedenfalls - und dieser Gedanke richtete Kitty auf wie eine angenehm frische Brise, die von den leuchtenden Gipfeln der Rocky Mountains über die feuchten Weiten des Tieflands strich -, jedenfalls war Mamah nicht mehr da. Sollte sie doch in Colorado bleiben. Sollte sie doch Rancharbeitern die freie Liebe predigen und alle Ehemänner des Staates mit dem Lasso aus dem Sattel holen. Sollte sie doch Cowgirl werden. Sollte sie doch verdorren.

Dennoch war irgend etwas nicht ganz in Ordnung. Sie hatte sich mit Frank gestritten - er hatte gesagt, er werde Mamah niemals aufgeben, er wolle die Scheidung, denn ihre Ehe sei nichts als ein Betrug, ja schlimmer: eine Form von Sklaverei -, aber sie hatte nicht nachgegeben, und er lebte noch immer unter ihrem Dach und ging seiner Arbeit nach, auch wenn sein Lächeln erstorben war und er zehn Jahre älter aussah. Er trauerte, das war es. Um so schlimmer für ihn. Er würde darüber hinwegkommen. Und als treue Ehefrau würde sie ihn liebevoll und großmütig wieder in ihr Herz und ihr Bett aufnehmen, so dass er irgendwann wieder der alte sein und alles weitergehen würde wie zuvor.

Redete sie sich etwas ein? Eines Abends beim Essen verkündete er, dass er am nächsten Morgen geschäftlich nach Chicago fahren und ein paar Tage dort bleiben werde, und sie dachte sich nichts dabei. Ihr fiel nur auf, dass er einen Koffer und eine Reihe von Farbholzschnitten mitnahm, die er verkaufen wollte (konnte es sein, dass er endlich die Rechnung beim Lebensmittelhändler bezahlen wollte?), und sie wusste, dass die Union Station ein Knotenpunkt von Bahnlinien war, auf denen er überallhin fahren konnte - nach Westen, ja sogar nach Colorado. Aber das spielte keine Rolle. Er kam weiter herum als ein Handelsreisender. Die meiste Zeit war er ohnehin in Chicago, und außerdem fuhr er nach South Bend, Buffalo, Rochester, Madison, Mason City und jeden anderen Ort, wo es einen Auftraggeber gab. Er hatte sogar Pläne für ein Haus in Kalifornien gezeichnet.*

 

* Das George-C.-Stuart-Haus, 1909.

 

Ja, sie redete sich etwas ein. An jenem Morgen sah sie in seinem Gesicht nur ein Art Stumpfheit, und als er nicht anrief und kein Telegramm schickte, nicht einmal aus New York oder von Bord des Dampfers, der ihn über den Atlantik nach Deutschland brachte, begriff sie noch immer nicht. Es dämmerte ihr erst, als die Reporter an die Tür klopften, gefolgt vom Lebensmittelhändler, vom Schneider und vom Besitzer des Mietstalls.