Kapitel 6
DIE SCHLANGE DER HEUCHELEI
Die Stimmung beim Abendessen war gedämpft. Es gab eine kürzlich geschossene Ente im eigenen fettigen Saft, dazu ein halbes Dutzend Beilagen, deren einzige identifizierbare eine Art Kartoffelgericht zu sein schien, das unter etwas begraben war, was wie Unkraut aus dem Straßengraben aussah, das alles zubereitet von der unförmigen, trampeligen Frau eines der Arbeiter und in deckellosen Schüsseln serviert von der ungeschickten kleinen Sechzehnjährigen. Es war nur für drei gedeckt - die kleinste Tischgesellschaft, seit sie nach Taliesin gekommen war. Nicht dass ihr das etwas ausgemacht hätte - es war nur so, dass in einer größeren Runde angeregtere Unterhaltungen möglich waren, und angeregte Unterhaltungen milderten die erdrückende Langeweile, die hier herrschte. Franks Söhne waren, da der größte Teil des Wiederaufbaus erledigt war, längst wieder bei ihren Frauen, und der Architekt, der zu Besuch geweilt hatte, war mit seiner Frau nach Deutschland - oder Österreich? - zurückgekehrt. Paul Mueller leitete das Büro in Chicago, und Russell Williamson und die anderen Zeichner waren zu einem Konzert nach Madison gefahren. Das dritte Gedeck war für Franks Mutter bestimmt, doch die war erzürnt über die Zeitungsartikel und weigerte sich, ihr Zimmer zu verlassen.
»Tja, wie es aussieht, werden wir beide allein essen«, sagte Frank und hob sein Glas - reines, unverfälschtes Brunnenwasser - zu einem Toast. »Auf uns.« Pflichtschuldig stieß sie mit ihm an und zwang sich zu einem Lächeln. In ihrem Glas, das sie persönlich gefüllt hatte, bevor Frank an den Tisch gekommen war, befand sich ein frischer, trockener Chablis, den sie bei ihrem Weinhändler in Chicago gekauft hatte und dessen Blume sie für einen Augenblick über den Atlantik und in die Weingärten von Burgund versetzte, zurück zu jenem längst vergangenen Herbsttag, als sie frisch in René* verliebt gewesen war, der sich nach Emils Tod so wunderbar liebevoll um sie gekümmert hatte. Bis er sich als gemein erwiesen hatte. Und treulos. Wie alle Männer, wenn man ihnen auch nur den Ansatz einer Gelegenheit dazu gab. Dieser Gedanke verschlechterte ihre Stimmung, und ihr Lächeln verschwand abrupt. Sie sah Frank streng an.
* Nachname und Herkunft unbekannt. Vielleicht handelt es sich um den Liebhaber, auf den sich Miriams Andeutungen über ihre »tragische Liebe« beziehen, möglicherweise um ebenjenen, den sie mit einem Messer angegriffen hatte. Siehe Fußnote Seite 113.
»Wie ich schon sagte: Wir können es uns nicht leisten, die Presse noch mehr anzustacheln, als es bereits der Fall ist - dank Mrs. Breen. Zum Teufel mit dieser Frau. Tut mir leid, das sagen zu müssen, aber so ist es. Sie trägt die Schuld an dieser Angelegenheit, und das Verfahren wegen Verstoßes gegen den Mann Act wird gewiss eingestellt werden, weil es eine reine Absurdität ist. Was mich ärgert - nein, was mich wütend macht -, ist dieser schäbige Versuch, deinen Charakter in Frage zu stellen, und das muss aufhören.« Er sah von seinem Stück Ente auf und seufzte. Die Sorgenfalten um seine Augen vertieften sich. »Und darum habe ich meine Mutter gebeten, noch zu bleiben. Jedenfalls so lange, bis Gras über diese Sache gewachsen ist.«
»Das ist falsch, Frank, und das weißt du.«
»Falsch oder nicht, ich werde nicht zulassen, dass die Presse über dich herfällt - oder über mich. Wieder mal über mich. Wenn ich Aufträge bekommen soll, und du weißt sehr wohl, wie angespannt meine gegenwärtige Situation ist, dann darf es kein Gerede oder auch nur den Hauch eines Skandals geben. Die Briefe werden weiß Gott schon peinlich genug sein.«
Sie war ruhig, ganz gefasst, trank von ihrem Wein und sah ihn über den Rand ihres Glases hinweg an, bis er geendet hatte. »Ich will mit ihnen sprechen«, sagte sie, stellte das Glas ab und griff zu Messer und Gabel. Die Ente lag vor ihr. Sie warf einen kurzen Blick darauf - Schichten aus gelbem Fett und stumpfbraunem Fleisch, aufsteigender Dampf, Bratensoße -, dann legte sie die Gabel wieder hin und richtete sie im exakt rechten Winkel zur Tischkante aus, bevor sie fortfuhr: »Ich werde alles erklären. Ich sage dir: Ich werde mich nicht verstecken.«
»Doch, das wirst du.« Sein Ton war barsch und despotisch und gefiel ihr überhaupt nicht. So mochte er mit einem seiner Zeichner sprechen, der einen Teil eines Plans ungenau zu Papier gebracht hatte, oder mit einem Farmarbeiter, der es gewagt hatte, eine eigene Meinung über die fachgerechte Ausbringung von Düngemitteln zu äußern. »Du wirst hier in Taliesin bleiben und dich von Reportern fernhalten, solange ich es wünsche. Hast du mich verstanden?«
Verstanden? Er sprach doch englisch, oder nicht? Aber hatte er sie verstanden? Sie ließ sich nicht gern etwas diktieren. Das hatte Emil bereits versucht, und damals war sie noch ein junges Ding gewesen. Er hatte es sein Leben lang bereut. Und René ebenfalls. Sie führte das Glas zum Mund und ließ den Geschmack der kalten, klaren Flüssigkeit - den Geschmack von Frankreich, den Geschmack der Kultiviertheit - ihre Kehle, ihre Nerven und auch ihre Missstimmung umschmeicheln. Sie machte sich nicht die Mühe zu antworten.
Am nächsten Morgen sattelten sie zwei Pferde und unternahmen einen gemeinsamen Ausritt über die Hügel. Alles war schön und wie neu erschaffen, und die Bewegung und die frische Luft ließen den schlechten Nachgeschmack des Vortages verfliegen. Er war ein hervorragender Reiter, und das erfüllte sie wieder mit Stolz auf ihn. Sie ritten, eine leise Brise im Gesicht, im leichten Galopp über die Felder und waren der Welt vollkommen entrückt - sie hätten Heathcliff und Catherine sein können, die im wilden Überschwang ihrer problematischen, dem Untergang geweihten Liebe über die Heide galoppierten. Es war belebend. Erfrischend. Und als Franks Mutter ihre Höhle verließ, um mit ihnen zu Mittag zu essen, machte das Miriam kaum etwas aus. Auch der Nachmittag war angenehm. Sie verbrachte ihn größtenteils lesend am Kamin, während Frank und einer der Männer nach Madison fuhren, um dies und das zu besorgen, und sie war so versunken in ihr Buch, so gefesselt von der Geschichte, die vor ihrem inneren Auge ausgebreitet wurde (zwei Männer und eine Frau, das mitternächtliche Stelldichein, Blut und Ehre und der scharfe Knall der Peitsche des Vaqueros, als die Liebenden im Schutz der argentinischen Nacht flohen)*, dass sie kaum aufsah, als er zurückkehrte. Es dauerte einen Augenblick, bis sie seine Anwesenheit zur Kenntnis nahm, und das tat sie auch erst nach einer kleineren Störung: Sein Schatten fiel über ihr Buch, als er vor ihrem Sessel stand.
* O 'Flaherty-San dachte hier vielleicht an The Wild Pampas (Boston, 1915) von H. (Harriet) R. R. Fleck, eine von Miriams Lieblingsautorinnen.
Er hatte Hut und Mantel noch nicht abgelegt, und sein Gesicht war grimmig. »Sie haben die Briefe gedruckt«, sagte er und ließ die Zeitung in ihren Schoß fallen. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stolzierte wortlos hinaus.
Verärgert wollte sie weiterlesen, doch die Wörter begannen zu tanzen und sich zu dehnen, so dass sie gar keinen Sinn mehr ergaben, also legte sie das Buch beiseite und griff nach der Zeitung.
Die Schlagzeile - sie explodierte förmlich vor ihren Augen und sandte Funken und Raketen in die entlegensten Bereiche ihres verstörten Geistes - ließ sie nach Luft schnappen: MIRIAMS BRIEFE AN WRIGHT SPRECHEN VON GLÜCK UND VERZWEIFLUNG.
Dergleichen hatte sie noch nie erlebt. Ihren Namen dort zu sehen, ordentlich gedruckt, war natürlich ein Schock, doch es war auch noch mehr, etwas Undefinierbares, und selbst als sie den Untertitel las (Die verschmähte Frau - ihre Not, ihre Tränen), spürte sie die Faszination, die davon ausging. Plötzlich, über Nacht, auf einen Schlag, war sie berühmt. Plötzlich kannten sie Tausende, Hunderttausende. Sie war Frank Lloyd Wrights Geliebte, und die ganze Welt wusste es - sie war nicht mehr verschmäht.
Dieses Wissen erregte sie, jede Fiber und Zelle ihres Körpers war davon durchdrungen, und wenn sie sich im Exil befand, wenn der Himmel dort draußen so stumpf und schmutzig und deprimierend wie ein alter Blechtopf in der Küchenspüle war - was machte das schon? Hier waren ihre Worte, ihre eigenen Worte, und die ganze Welt konnte sie lesen!
Während sie weiterlas - ja, sie besaß tatsächlich ein literarisches Talent, sie hatte eine echte Begabung für das geschriebene Wort, das musste sie zugeben -, bedauerte sie unwillkürlich gewisse kleine Ungeschicklichkeiten. Hatte sie Frank wirklich als einen »jämmerlichen, verbitterten alternden Mann« bezeichnet? Hatte sie wirklich geschrieben: »Ich gehe - Deine Sicherheit ist also nicht mehr >bedroht<. Lebe Dein Leben so armselig, wie Du willst«? Oder: »Du willst nicht BESESSEN (IM BESITZ) von Liebe, von Zärtlichkeit, Güte und Hingabe sein, aber Du BIST besessen von einer Tyrannei, deren Einfluss das Glück derer, die Dich lieben, zunichte macht.« Diese Worte ergaben kaum einen Sinn. Und wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie sie zurückgenommen. Doch sie war damals mit den Nerven am Ende gewesen, verschmäht und verstoßen, das mussten die Leute doch begreifen - und der Gedanke daran, wie scheußlich er gewesen war, wie scharfzüngig und sarkastisch, wie kleinlich und gemein, ließ ihren Zorn wiederaufleben. Sie las den ganzen Beitrag, Spalte um Spalte, und wog jedes Wort mit einer Mischung aus Begeisterung und Herzschmerz, und dann las sie alles noch einmal.
Danach starrte sie lange ins Feuer und versuchte, ihrer Gefühle Herr zu werden. Ihre anfängliche Hochstimmung war verschwunden, und an deren Stelle waren Zweifel getreten. Dies war nicht recht, es war ganz und gar nicht recht. Der oberflächliche Leser der Tribune würde einen unvorteilhaften Eindruck gewinnen, das sah sie jetzt.
Diese Briefe, diese sehr privaten und persönlichen Briefe, würden nicht als cri de cœur einer großen, freigebigen Seele zu einer anderen - eines Sterns zu einem gleichermaßen strahlenden anderen Stern - gesehen werden, sondern als das Geschwafel einer verschmähten Frau, jämmerlich und verzweifelt, in der Liebe gescheitert. Manche - die Niedriggesinnten - würden vielleicht sogar darüber lachen.
Und als wäre das alles nicht peinlich genug, hatte sie mit »die Deine« oder, schlimmer noch, mit »Liebe mich, sosehr Du kannst« unterschrieben.
Schließlich, als die hereinbrechende Nacht die Fenster geschwärzt und sich eine Stille über das Haus gelegt hatte, in der nur noch das Knistern und Knacken des Feuers zu hören war, erhob sie sich und machte sich auf die Suche nach Frank. Er war nicht im Schlafzimmer, und so ging sie durch die Loggia zurück zu dem Alkoven, wo der Esstisch stand, und weiter ins Wohnzimmer, doch er war nirgends zu sehen. Aus der Küche drang der Geruch von Kohl - Bauernessen, so fade wie giftig -, und die Köchin und das Dienstmädchen, die sich am Schneidbrett und am Herd zu schaffen machten, sahen kaum auf, als sie den Kopf durch die Tür steckte. Sonst schien niemand mehr wach zu sein. Das war eigenartig - oder vielleicht auch nicht. Vielleicht war es hier draußen auf dem Land einfach so: Alle gruben sich ein, um den endlosen Winter zu überstehen, sämtliche Hoffnungen, Freuden und Ambitionen wurden unter Bergen von Steppdecken erstickt, man ging bei Sonnenuntergang zu Bett und stand mit den Kühen auf. Der Gedanke machte ihr angst - und wo war Frank? Wusste er denn nicht, dass sie ihn brauchte, dass diese Briefe ganz falsch waren, dass sie diejenige war, die man der Verurteilung durch die Öffentlichkeit und vielleicht sogar der Lächerlichkeit preisgegeben hatte - dass sie es war, auf der die ganze Last ruhte, nicht er?
Vielleicht war Frank hinausgegangen - wenn er sich aufregte, zog er sich die Stiefel an und stapfte, ganz gleich, wie das Wetter war, draußen herum, als wäre er unempfindlich gegen Hitze und Kälte, Regen und Schnee. Frank, der Farmer, Frank, der Waliser, der den Mist ausbrachte und sich mit Schweinen auskannte - trotz all seines Genies im Grunde seines Herzens ein Bauer. Sie steckte tatsächlich den Kopf hinaus in die unmäßig kalte Luft und rief seinen Namen über den Hof, bevor ihr das Studio einfiel. Und dort fand sie ihn dann. Er saß an einem Zeichentisch unter dem Ölporträt seiner Mutter - dem einzigen Bild im Raum - und dem Motto, das er an der Wand aufgehängt hatte: WAS EIN MANN TUT, IST DAS, WAS ER HAT. Und was tut ein Mann? fragte sie sich. Schließt er seine amante in einem Verlies ein? Bringt er sie zum Schweigen? Lässt er zu, dass die Zeitungen ihren Geist, ihre Liebe, ihr Leben verspotten? »So geht das nicht, Frank«, sagte sie.
Er blickte auf - seine ewigen Zeichnungen und Pläne, er war wie ein Kind, genau wie ein Kind, ein kleines Kind, ja, das war er - und sah sie missmutig an.* »Ich weiß,
Miriam. Glaub mir, wir tun, was wir können, um sie zu stoppen.«
* Wir wissen es nicht mit Sicherheit, doch es ist wahrscheinlich, dass er damals an den Plänen für seine revolutionären »American System Ready-Cut«-Standardhäuser arbeitete - eine Hausform, die man heute als »Fertighaus« bezeichnen würde.
»Sie zu stoppen? Dafür ist es ja wohl zu spät. Weißt du, wie diese Briefe mich aussehen lassen?« Er musterte sie mit seinen schlauen kleinen Augen, er funkelte sie an, er gab ihr die Schuld. »Wie eine Frau, die am Ende ist, Frank. Wie eine Närrin. Ich stehe da wie eine Närrin - weil ich dich liebe.«
Und was war seine Reaktion? Dieser Kleingeist, dieser kalte Fisch, der sich nicht einmal erhob, um sie in die Arme zu nehmen und ihr seine Liebe zu schwören, der nicht imstande war, ein Stichwort zu erkennen, sagte: »Ich kann es nicht ändern, Miriam.
Was geschehen ist, ist geschehen.«
Als sie am nächsten Morgen erwachte, herrschten ein gleichbleibendes, stumpfes Licht und eine unnatürliche Stille, als hätte die ganze Welt das Gehör verloren. Sie lag allein im Bett. Vor dem Fenster fiel schräg ein nasser, grauer Schnee, und natürlich gab es keine Vorhänge, um diesen Anblick auszusperren - Frank hielt nichts von Vorhängen -, so dass die Außenwelt geradewegs ins Zimmer sprang. Sie hätte ebensogut in Alaska oder so kampieren können: Das Feuer im Kamin war erloschen, ihr Atem hing in weißen Wolken vor ihrem Gesicht, und in dem Wasserglas, das sie auf den Nachttisch gestellt hatte, war eine dünne Eisschicht. Es war zu kalt, um auch nur zur Toilette zu gehen. Zu deprimierend. Unvermittelt fielen ihr die Briefe ein, ihre Scham, ihre Dummheit, und dann dachte sie an ihre Pravaz, doch sie rührte sich nicht, und falls das Dienstmädchen hereinkam, um nach ihr zu sehen, so merkte sie nichts davon. Der Schlaf war wie ein Stein, der ihr auf der Brust lag. Sie schloss die Augen. Als sie wieder erwachte, schneite es noch immer, und es war noch immer kalt, aber irgend jemand hatte den Kamin angezündet, und ihr Bedürfnis war inzwischen so drängend geworden, dass sie es nicht länger ignorieren konnte. Sie fand ihre Pantoffeln und den Morgenrock und machte sich auf den Weg ins Bad.
Und auch dort war es primitiv, trotz des Bronzebuddhas und der Han-Vasen und der Perserteppiche, denn das Wasser, das aus dem Hahn kam, war so kalt wie flüssiges Eis, und wenn sie baden wollte - und das wollte sie -, musste sie jemanden finden, der Holz holte und den Kessel im Keller anheizte. Sie machte Toilette, so gut es ging, und fühlte sich dabei ein wenig flau. Sie überlegte, ob sie etwas Tee und Toast zu sich nehmen sollte, um ihren Magen zu beruhigen, doch als sie vor dem Spiegel stand und ihr Haar bürstete - jeden Morgen und jeden Abend hundert Striche, wie ihre Mutter es sie gelehrt hatte -, spürte sie eine Schwäche im Darm und musste sich für einen Augenblick setzen. Beinahe zufällig - nein, gewiss nicht absichtlich - streifte ihre Hand dabei das Kosmetiktäschchen, in dem sie ihre Pravaz aufbewahrte, und es dauerte keine Sekunde, bis sie zu dem Schluss kam, was sie brauche, um auf die Beine zu komme, sei eine Spritze. Es war die Kälte, sagte sie sich, der trübselige, gnadenlose Winter, der allen Frostbeulen und Schüttelfrost bescherte, genau wie in Paris, doch dort hatte sie wenigstens in Galerien oder Konzertsälen Zuflucht finden können, in einem Café oder in einem der salons artistiques. Paris, dachte sie, Paris, und spürte, wie Wärme sie durchströmte.
Und dann erst hörte sie die Stimmen - die von Frank und die eines anderen Mannes, nein, zweier anderer Männer -, murmelnd und miteinander vermischt. Sie schienen durch die Loggia zum Wohnzimmer zu gehen, und das erschien ihr eigenartig: Frank hatte ihr nichts von Gästen gesagt, aber vielleicht war es ihm entfallen. Plötzlich hob sich ihre Stimmung: Hier war endlich die Möglichkeit einer Linderung, einer Erlösung von der Leere des Landlebens, wenn auch nur für ein, zwei Stunden. Aber wer konnte das sein? Frank umgab sich stets mit anregenden Menschen, mit Künstlern, Musikern, Architekten und Schriftstellern, von denen viele über sehr gute Beziehungen verfügten, und wenn diese Gesellschaften auch nie ganz die Brillanz der Pariser Salons erreichten, waren sie doch oft charmant und unterhaltsam. Und Unterhaltung war das, was sie jetzt am dringendsten brauchte.
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit, um besser hören zu können. Franks Stimme beherrschte die Runde: Er schien eine Art Rede zu halten, aber er hielt ja ständig und aus dem Stegreif irgendwelche Reden über eine Unzahl von Themen, er »hielt Volksreden«, wie einer seiner ehemaligen Zeichner gesagt hatte - und das hatte er, dessen war sie sich sicher, nicht sehr freundlich gemeint. Franks schöne, volle Tenorstimme wurde jetzt schärfer, während die anderen beiden ihn unterbrachen und ihm widersprachen. Was war da los? Zeigte er Interessenten einige seiner Holzschnitte? War Clarence Darrow den ganzen Weg von der Stadt hierhergekommen? Oder vielleicht ein Auftraggeber? Und dann konnte sie plötzlich, durch eine Laune der Luftströmungen, eine der fremden Stimmen deutlich verstehen: »Sie wollen also sagen, dass es zwischen Ihnen und Madame Noel keinerlei amouröse Verbindung gibt? Dass sie lediglich eine Geistesverwandte ist wie Mrs. Borthwick?« Und sie begriff: Reporter. Die Reporter waren hier.
Frank sagte etwas, was sie nicht genau verstehen konnte - er schien auf und ab zu gehen -, doch dann hörte sie auch seine Stimme klar und deutlich: »Ja, das stimmt.
Da Mrs. Breen, wie Sie wissen, entlassen ist, habe ich Madame Noel als Haushälterin eingestellt.«
Haushälterin? Sie eine Haushälterin? Was fiel ihm ein?
»Aber«, unterbrach ihn die andere Stimme wieder, eine dünne Stimme, quäkend und schmeichlerisch, »Sie können doch nicht leugnen, dass diese Briefe den gegenteiligen Eindruck erwecken.«
Sie hörte nicht, was Frank darauf antwortete, denn sie war mit einemmal in Bewegung, sie musste sich ankleiden - das weiße Seidenkleid, eine Perlenkette, ihre Ringe. Das war ihre Chance, die Wahrheit bekanntzumachen, zu zeigen, wie es in ihr, in ihrem Herzen aussah, damit die ganze Welt es erfuhr. Sie fühlte sich beinahe, als würde sie träumen, als sie durch die Loggia ging, deren Fenster einen Ausblick auf die grauen, überfrorenen Schneewehen boten. Ihre Füße waren bloß wie die einer Jungfrau, und das Kleid fiel mit der schlichten Eleganz, die die Griechen zur Vollendung gebracht hatten, über ihren Bauch und ihre Arme und Beine. Kythereia. Sie war die veilchenbekränzte Kythereia, die Schaumgeborene, eine Göttin, die gleitend über den Teppich schritt, in das Wohnzimmer, wo die beiden Fremden - der eine hatte eine Glatze, der andere nicht - herumfuhren und sich praktisch zerrissen, als sie aufsprangen, um sich vor ihr zu verbeugen. »Ja«, sagte sie, verzaubert vom Klang ihrer eigenen Stimme, »ja, es stimmt: Ich liebe ihn!«
Die Sache ging nicht ganz so aus, wie sie gedacht hatte. Frank war, anfangs jedenfalls, wütend auf sie, stand jedoch zu ihr und ihrer gemeinsamen Liebe, und das flackernde Feuer und das Heulen des Sturms erzeugten eine romantische Atmosphäre, wie sie selbst der raffinierteste Bühnenbildner nicht hätte erschaffen können. Sie verteidigten eine Liebe, die sich nicht um Konventionen scherte, sondern nach dem Höchsten strebte, ganz gleich, welche kleinlichen Einwände die Bornierten und Engstirnigen dagegen erheben mochten. Zuerst legte Miriam ihre Ansichten dar, dann stimmte Frank ein, und so ging es kontrapunktisch hin und her, bis sie ihr süßes Lied schließlich im Duett sangen und die Reporter in ihre Notizblöcke schrieben, bis ihre Finger taub wurden. Das Foto der schönen Frau mit den sanften Augen und der wohlgeformten nackten Schulter und dem überaus attraktiv in die Ferne gerichteten Blick unter der Schlagzeile MRS. MAUDE MIRIAM NOEL ÜBER FRANK LLOYD WRIGHT: »ICH LIEBE IHN!«
Das erste veröffentlichte Foto von Mrs. Noel zeigte es keineswegs sie. Erstaunlich.
Obgleich sie dieser Frau, wer immer sie sein mochte, durchaus ebenbürtig und der Artikel extrem schmeichelhaft war.
Aber wie hatten sie nur einen solchen Fehler machen können? Jeder, der sie kannte, würde sofort sehen, dass diese Frau jemand anders war - und doch, und doch ... Es war ein ganzseitiges Bild und hätte als ein etwas geschöntes Foto durchgehen können: ein, zwei Jahre jünger, die Haut unter dem Kinn ein wenig straffer. Es war gut. Sehr gut. Man würde sie beneiden, und das war es, was sie im Augenblick vor allem wollte, denn sie war keine verschmähte Frau und nicht im mindesten von Liebeskummer verzehrt - nein, sie hatte ihren Mann, einen der wahrhaft großen Männer dieser Zeit, und das konnte keine andere von sich behaupten.
Zwei Tage später, am 10. November, brachte die Chicago Tribune einen Artikel, in dem Nellie Breen jeden Erpressungsversuch bestritt, sich jedoch offenbar im Gespinst ihrer eigenen Machenschaften verfing.* In die Enge getrieben, hatte die Frau den Reportern offenbar die Kopie eines Briefes gegeben, den sie am 22. Oktober an Frank geschrieben hatte, in dem sie ihn gewarnt hatte, er und Miriam würden wegen Verstoßes gegen den Mann Act verhaftet werden, und zwar aufgrund von Beweisen, die sich in ihrem Besitz befänden und die so schwerwiegend seien, dass eine Freilassung auf Kaution nicht in Frage kommen werde (offenkundig meinte sie die Briefe, die sie ihm gestohlen hatte). Doch damit nicht genug - sie hatte auch noch Forderungen gestellt. Und was hatte sie für ihr Stillschweigen verlangt? Dass sie sich trennten. Sie sollten sich trennen. Und einander nie mehr wiedersehen. In diesem Punkt war sie sehr spezifisch, die intrigante, arthritische, abgetakelte alte Hexe: »Das heißt, Sie dürfen sie weder in Taliesin noch in der Cedar Street wohnen lassen, Sie dürfen sie nicht besuchen und nicht mit ihr zusammenleben.«
* Zu diesem Zeitpunkt begann sich die öffentliche Meinung gegen sie zu wenden, was Wrieto-San Gelegenheit gab, sich großherzig zu zeigen und wegen des Diebstahls der Briefe keine juristischen Schritte gegen sie zu unternehmen. Dennoch hatte sein Ansehen Schaden genommen, und man betrachtete ihn als lüsternen, wenn nicht gar irgendwie lächerlichen Schürzenjäger.
Wenn das nicht Erpressung war, was dann? Miriam war schrecklich wütend auf Frank, weil er ihr - ganz gleich, wie wohlmeinend oder liebevoll seine Motive gewesen sein mochten - diesen Brief nicht gezeigt hatte, und konnte nicht fassen, wie dreist diese Frau war, bei der es sich doch immerhin um nichts weiter als eine gewöhnliche Diebin handelte. Als sie den Artikel sah, wurde sie fuchsteufelswild und warf die Zeitung quer durch den Raum an die Wand, so dass sie wie ein verwundeter Vogel auf dem Teppich landete.
Dort lag sie noch, als Miriam zu ihrem Schreibtisch ging, innerlich versteinert vor Hass, Abscheu und Empörung, und sie musste ein Glas Sherry trinken, um sich ein wenig zu beruhigen - doch wenn er überhaupt irgendeine Wirkung hatte, so merkte sie in ihrem gegenwärtigen Zustand nichts davon. Sie war inzwischen zurück in Chicago, wenigstens das: Sie hatten am Morgen, nachdem das Foto ihrer verblühenden Doppelgängerin erschienen war, den Zug genommen (»Jetzt gibt es keinen Grund mehr, mich zu verstecken, Frank«, hatte sie bissig bemerkt und sich fest bei ihm untergehakt, als sie, umgeben von hektischen Reportern und gaffenden Schaulustigen, den Bahnsteig entlanggingen), doch die Szenerie vor den Fenstern war so bedrückend, grau und trostlos wie in Wisconsin. Nun, ihr sollte es recht sein - das verstärkte nur ihre Stimmung. Und die war düster, sehr, sehr düster. Und blutdürstig.
Wie konnte sie es wagen, wie konnte diese frömmlerische Schabracke es wagen, ihr - oder sonst jemandem - irgendwelche Regeln zu diktieren? Wer hatte sie zum moralischen Vormund der Welt ernannt?
In der untersten Schublade, die sie vor Franks Zugriff verschlossen hielt, bewahrte sie das Briefpapier auf, das sie gegen seine Einwände bestellt hatte, und wo unter ihrer beider ineinander verschlungenen Initialen das Wappen der Hicks prangte. Sie nahm einen Bogen, legte ihn auf das Löschpapier, nahm einen weiteren großen Schluck Sherry und begann zu brüten. Dann griff sie zum Füllfederhalter - es war ein neuer Waterman, ein Geschenk von Frank, ein so glattes, zartes, hübsches Schreibinstrument, dass es wie ein zusätzlicher Finger war - und brachte, ohne weiter nachzudenken, ihre Gedanken zu Papier, als hätte sie ihr Leben lang Leserbriefe an Zeitungen geschrieben. Der eine Reporter - der mit der Glatze, an dessen Namen sie sich, sosehr sie sich auch anstrengte, nicht erinnern konnte - hatte sie an jenem Tag in Taliesin beiseite genommen und ermuntert, ihre Seite der Geschichte zu schildern. Ihre Philosophie, ihre Wünsche, etwas von ihr, das der Öffentlichkeit einen Eindruck vermittelte. Wer war sie hinter dem rätselhaften Bild, das sie präsentierte? - so etwas in dieser Art. Das wäre viel ergiebiger als alles, was er oder seine Kollegen schreiben könnten, denn dabei würde sie im Zentrum der Darstellung stehen, ein Mensch, der die wirkliche, tiefere Wahrheit kannte, nicht nur über Chicago und die vorgebliche Moral dieser Stadt, sondern auch über Europa.
Als sie wieder zu sich kam, hatte sie fünf Seiten geschrieben. Kaum ein Buchstabe tanzte aus der Reihe, ihre graziöse Handschrift füllte die Zeilen mit der ganzen Autorität und Eleganz, die Miriam als Mädchen an der Thornleigh Academy for Women den ersten Preis in Schönschrift eingetragen hatte. Sie sprach davon, dass die Ehe, jedenfalls die nicht von Liebe erfüllte, ein leeres, überkommenes Konzept sei, ein bloßer Abklatsch dessen, was eine wirkliche, liebevolle Verbindung sein solle, versicherte ihnen - ihrem Publikum, all den guten Menschen von Chicago und auch den kleinen Leuten, den Metzgern und Kutschern und so weiter -, dass sie und Frank keineswegs die Ehe als solche ablehnten, sondern lediglich einem höheren Gesetz gehorchten. Es gebe schließlich nur eine einzige wirkliche Loyalität, und diese manifestiere sich in einem Lebenswandel, der einer lebendigen, hehren Idee der Liebe und des Lebens gewidmet sei. Dies und nicht weniger sei es, wonach man streben solle.
Und dann machte sie sich mit aller Wortgewalt, die ihr zur Verfügung stand, daran, Nellie Breen zu vernichten: Sie sei nichts als eine Hausangestellte, eine Diebin, ein Musterbeispiel für die verlogene Moral der Mittelschicht, die sich nicht zu schade sei, auf Unehrlichkeit und Diebstahl zurückzugreifen, um ihre fragwürdigen Normen zustützen, eine Verkörperung der Schlange der Heuchelei, die doch eigentlich überall auf der Welt langsam aussterbe, weil die Menschen nicht mehr auf die Gebote längst toter Männer hörten, sondern auf ihr Herz. Der Füllfederhalter glitt so rasch und leicht über das Papier, als wäre ein Geist aus dem Grab gestiegen und führte ihr die Hand - vielleicht Emil, wieder im Vollbesitz seiner literarischen Talente, vielleicht aber auch ihr Vater -, als sie der Welt schließlich zurief: »Bemitleidet mich nicht. Ich bin kein Opfer unerwiderter Liebe. Jede Frau würde stolz meinen Platz einnehmen und den Preis dafür geringachten.«
Als sie fertig war, trat sie ans Fenster und blickte hinaus in den schwindenden Tag. Endlich war die Last von ihr genommen, endlich fühlte sie sich frei, und obwohl sie darauf brannte, den Brief Frank zu zeigen (der jedoch in seinem Studio war) oder Leora oder irgend jemandem sonst, verschloss sie den Umschlag, versah ihn mit einer Briefmarke und ging zur Garderobe, um ihren Mantel zu holen. Während sie ihn zuknöpfte, den Hut zurechtrückte und ihre Handschuhe anzog, betrachtete sie sich im Spiegel und starrte sich in die Augen, allerdings nicht zu tief. Es war eindeutig ein Leuchten um sie, und als sie hinaus in die Kälte trat und die Straße hinunter zum Briefkasten an der Ecke ging, spürte sie, dass die Blicke der Menschen auf ihr ruhten, und wandte sich ihnen, Männern wie Frauen, würdevoll zu und lächelte.