Kapitel 7

KEINE TÄNZERIN

 

Olgivanna hatte nicht mit dem Reporter gesprochen, hatte ihn überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, wie er da höchst lebendig, die Hände in ständiger Bewegung, vor ihr stand und seine Gesichtszüge bei jeder Bitte, jeder Provokation neu arrangierte. Sie verschloss die Ohren vor ihm, stand rasch von ihrem Stuhl auf, nahm Svetlana bei der Hand und marschierte stracks ins Haus, wo sie die Tür fest hinter sich ins Schloss zog und Mrs. Taggertz anwies, Frank Bescheid zu geben, damit Billy Weston und die anderen den Mann mit dem notwendigen Maß an physischer Nachhilfe vom Grundstück geleiten konnten. Doch der Zwischenfall blieb nicht ohne Folgen. Sie traute sich wochenlang nicht mehr, das Haus zu verlassen, sich auch nur in den Hof zu setzen, obwohl Frank sie zu beruhigen versuchte - er habe die Männer angewiesen, wachsam zu sein, und werde jeden, der unbefugt das Anwesen betrete, strafrechtlich verfolgen lassen, das schwöre er ihr, »ob das nun Zeitungsleute oder Zigeuner oder Bibelverkäufer sind« -, und mit jedem Tag wurde sie blasser und schwächer. Um an die frische Luft zu kommen und Abstand von den kleinen Irritationen des Alltags zu gewinnen, den Koliken des Säuglings, Svetlanas Launen, Franks allumfassender Gegenwart, begann sie, nachts in der tiefsten Dunkelheit über die Felder zu streifen, und wenn die Moskitos kamen, um ihr Blut zu saugen, empfand sie das geradezu als Erleichterung.

Während der Frühling sich dem Sommer entgegenneigte, kam sie ganz allmählich wieder zu Kräften. Zuerst spürte sie es in den Beinen. Durch ihre nächtlichen Streifzüge wurden ihre Waden, zunächst kaum wahrnehmbar, fester und die Muskeln der Oberschenkel und Lenden kräftiger. Frühmorgens, noch ehe sich am Himmel die ersten Grautöne zeigten, zwang sie sich aufzustehen und in den Garten zu gehen, obwohl sie sich um diese Zeit am schwächsten fühlte, von einem Husten geplagt wurde, dessen Hartnäckigkeit sie erschreckte, und fror, fror bis auf die Knochen, so als würde ihr niemals mehr warm werden. Aber jemand, sagte sie sich, musste sich um den Garten kümmern. Die Erbsen und Bohnen wurden von Unkraut überwuchert, die Tomaten- und Paprikasetzlinge waren noch jung und zart, der Zuckermais war in seiner empfindlichsten Phase, und während sie schlief, kamen Heerscharen von Kaninchen, Taschenratten, Käfern und Raupen zum Festschmaus aus ihren Löchern gekrochen.

Sie aß nichts, kochte sich keinen Kaffee oder Tee, spülte sich nicht einmal mit Wasser aus dem Krug neben ihrem Bett den Mund aus, sondern zog im Dunkeln einen alten Rock und einen Pullover über und trat gleich in den stillen Morgenhauch hinaus, während die Kinder noch schliefen und niemand sie sehen konnte.

Bei Sonnenaufgang ging sie ins Haus, um zu frühstücken. Frank war schon in seinem Studio und arbeitete, Mrs. Taggertz gab den Kindern zu essen, die Handwerker hämmerten, sägten und nahmen Maß, mit der ständigen Erneuerung von Taliesin beschäftigt. Jetzt aß sie schließlich etwas - ein weiches Ei, eine Scheibe Toast, Kaffee mit Sahne und Zucker -, und wenn sie danach noch genügend Energie hatte, setzte sie sich mit dem Säugling hin und ließ Svetlana ihre Übungen absolvieren, eine Stunde Tanz, eine Stunde am Klavier, Lektüre der Dichter, Zeichnen, Malen, Kalligraphie.* Nachmittags schlief sie. Und abends, wenn Mrs. Taggertz das Abendessen serviert hatte, das Baby im Bett war und sie eine Weile mit Svetlana und Frank im Wohnzimmer gesessen und gelesen hatte, stahl sie sich wieder in den Garten. Sie stand auf, als wollte sie nur in die Küche oder zur Toilette gehen, schlüpfte dann aber hinaus in die sich herabsenkende Dunkelheit. Mondnächte waren ein Segen, die Hacke eine Verlängerung ihrer Arme, ihrer Schultern, eine Tätigkeit führte zur nächsten, bis es elf Uhr war, dann Mitternacht, und noch immer war sie am Werk, die Gleichförmigkeit der Arbeit gab ihr Frieden. Sie verteilte die Erde, rollte den Gartenschlauch aus, bückte sich und schnitt und grub, und die Welt der Reporter entschwand wie ein Schiff, das bei sehr dichtem Nebel den Hafen verlässt.

 

* Svetlanas Ausbildung war lückenhaft, was nicht nur ihrer wiederholten Entwurzelung, sondern auch den künstlerischen Neigungen ihrer Mutter und Wrieto-Sans Abneigung gegen den klassischen Schulunterricht geschuldet war. Bei Iovanna war es noch schlimmer. Als ich sie 1932 kennenlernte, war sie praktisch Analphabetin. Erst zwei Jahre später, mit Neun, kam sie in die Schule in Spring Green, wo sie jedoch nicht in die vierte Klasse aufgenommen wurde, weil sie nach wie vor weder lesen noch schreiben konnte.

 

Es wurde Juni, und allmählich entspannte sie sich etwas. Das Telefon läutete noch immer, läutete unentwegt, aber sie lernte es zu ignorieren. Sie hatte zugenommen, jedenfalls ein, zwei Pfund. Ihre Gesichtsfarbe war frischer geworden. Frank machte ihr Komplimente für ihr Aussehen. Sie begann sogar, wenn auch noch zaghaft, sich wieder in den Hof zu setzen, und hatte nicht mehr ständig das Gefühl, beobachtet zu werden, ja zweimal ging sie sogar am helllichten Tag mit Svetlana zum Entenfüttern an den See hinunter. Und dann, eines frühen Abends, als sie im Wohnzimmer mit dem Baby spielte, während Svetlana draußen vor der Tür Seil sprang, das rhythmische Aufklatschen so regelmäßig wie Herzschlag, und der Geruch von gebratenem Schinken, Kartoffeln und Zwiebeln aus der Küche herüberwehte, sah sie bei einem zufälligen Blick aus dem Fenster, dass unten vor dem Tor mehrere Autos geparkt waren. Geistesabwesend stand sie auf und ging durchs Zimmer, um sich das Ganze genauer anzuschauen. Sie sah den Glanz von Glas und Metall, die abgezirkelten Rechtecke der Autodächer, in denen sich die Sonne spiegelte, Bewegung, Menschen - Männer mit Hüten -, die in Zweier- und Dreiergruppen zusammenstanden, als hofften sie auf Arbeit.

Oder auf eine Geschichte. Eine Zeitungsgeschichte.

Ihre erste Reaktion war, vom Fenster zurückzutreten, obwohl man sie aus der Entfernung ja wohl kaum sehen konnte, oder? Dann ging sie ins Schlafzimmer, aber nicht etwa, um sich wie ein verängstigtes Kind zu verstecken - sie war plötzlich wütend, noch nie hatte sie eine bestimmte Sorte Mensch so gehasst wie diese Berufsschnüffler, diese aufdringlichen Kerle, warum konnten sie sie nicht einfach in Ruhe lassen? -, sondern um das Fernglas zu holen, das auf dem Tisch neben dem Bett lag. Sie wollte ganz sicher sein. Ihren Feind kennen. Dann würde sie Frank rufen, und der würde seine Männer hinunterschicken, damit sie gegen die Kerle einschritten und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen konnte.

Sie kehrte geduckt ins Zimmer zurück, warf einen kurzen Blick auf das Baby, das auf dem Teppich mit einem Stofftier beschäftigt war, nichts ahnte, nichts wusste, und kroch dann auf allen vieren ans Fenster. Die Szene sprang sie vergrößert an, der See ein Farbklecks, der Rasen ein knallgrünes Einerlei, bis die einzelnen Grashalme deutlich hervortraten, das Tor verwackelt, schließlich scharf. Sie sah Billy Weston, der mit dem Rücken zu ihr stand, neben ihm zwei der anderen Männer. Und dann die Zeitungsleute, ihre Hüte zerdrückt, die Krawatten in der Hitze verrutscht. Ein Schrei ertönte, gedämpft durch die Entfernung und die Fensterscheibe, und ein Schwarm Enten stob vom Wasser auf und kreiste über dem Haus, ließ rhythmische Schatten durchs Zimmer zucken, und nun sah sie, dass da noch etwas war, eine Gestalt, die sich bewegte, eine Frau - sie bückte sich, richtete sich wild gestikulierend auf, bückte sich erneut.

Es war Miriam. Es musste Miriam sein. Noch während Olgivanna das Fernglas auf das Gesicht der Frau richtete, war sie sich dessen bereits sicher, doch dann duckte sich die Gestalt weg, so dass vorübergehend die Oberkörper der herbeigelaufenen Männer ins Bild traten, bis sie triumphierend wiederauftauchte und - ein verschwommener Farbwirbel - etwas auf die Erde schleuderte. Noch ein Schrei. Die Männer grinsten.

Rückten näher. Einer, ein Fotograf, stellte sein Stativ auf, auf den Autofenstern explodierte die Sonne, und die Frau wandte sich jäh ab und trampelte so wild auf dem Ding herum, als wollte sie ihm den Garaus machen. Erst danach hielt sie lange genug still, um einen Blick auf ihr Gesicht zuzulassen.

Olgivanna hatte Miriam nur einmal gesehen - im Flur des Krankenhauses -, doch die Fotos von ihr hatte sie unzählige Male betrachtet, fasziniert, auf sie fixiert, mit jeder Falte im Gesicht ihrer Rivalin so vertraut wie mit ihren eigenen, und das da unten war eindeutig sie, Miriam in ihrer ganzen streitlustigen Herrlichkeit, gekommen, um ihr Recht einzufordern. Olgivanna erkannte die Mopsnase, das feste Kinn, den zusammengekniffenen, unersättlichen Mund und den überdimensionalen Turban, der ihr über die Augenbrauen gerutscht war - und dann die Augen selbst, schreckhaft geweitet, als würde sie schon ihr Leben lang wieder und wieder mit einer Nadel gestochen. Es bereitete Olgivanna ein seltsames Vergnügen, sie auf diese Weise zu sehen, am Ende eines langen optischen Tunnels, flach, verkleinert und verfremdet, doch das Vergnügen währte nicht lange. Bestimmt würde Billy Weston jeden Moment zur Seite treten, Miriam würde mit ihrer Horde von Reportern durch das Tor gehen und die Auffahrt hinaufmarschieren, und was dann? Würden sie sich auf den Feldern verstecken müssen? Unter die Betten kriechen? Wo war Frank überhaupt?

Svetlanas Seil schlug wieder und wieder auf, das Geräusch drang durch die offene Tür herein. Aus der Küche ertönte ein dumpfes Scheppern, als die Köchin einen Löffel am Topfrand abklopfte. Olgivanna war so in Miriams Anblick vertieft, dass sie überhaupt nicht mehr an Pussy dachte, bis hinter ihr etwas krachend zu Boden fiel. Sie wirbelte herum und sah, dass das Baby sich im Kabel von einer von Franks Lampen verheddert hatte, das Glas war kaputt, der Fuß verbogen* - Frank würde toben, das war ihr erster Gedanke -, und schon stieß Pussy den ersten erschrockenen Schrei aus. Olgivanna geriet in Panik - der elektrische Strom, die Scherben -, ließ das Fernglas sinken, sprang auf und riss ihre Tochter hoch, sollte sie doch sehen, wer wollte. Im nächsten Moment stand sie im Korridor - Pussy schluchzte, war erschrocken, blutete aber nicht, die Lampe hatte sie wohl nicht getroffen - und rief nach Frank, ihre Stimme ein bitteres Destillat aus Zorn, Angst und Ungeduld. »Frank! Frank! Wo bist du, verdammt noch mal?«

 

* Tja - was wäre diese Lampe heute wohl wert?

 

Er war in seinem Studio und zeichnete, wie er überhaupt immer zeichnete, selbst in der größten Krise, und als sie hereinplatzte, blickte er unwillig auf. Er hatte es sich entschieden verbeten, von den Kindern, insbesondere von brüllenden, rot angelaufenen Säuglingen, bei der Arbeit gestört zu werden, denn wie sollte er ihrer aller Lebensunterhalt verdienen, wenn er ständig unterbrochen wurde, nur weil Svetlana sich das Knie aufgeschürft hatte oder das Baby Blähungen hatte?* »Was ist denn jetzt schon wieder los?« wollte er wissen.

 

* Wrieto-Sans Klagen über das Chaos, das die sechs Kinder, die er mit Catherine hatte, veranstalteten, sind legendär. Obwohl er ständig von der Heiligkeit der Familie redete - sie war ein zentrales Element seiner Philosophie, genau wie sein fester Glaube an geistige Unabhängigkeit, Pioniergeist und den Grundsatz »Leben und leben lassen« -, scheint er die Sorte Mann gewesen zu sein, die das Familienleben eher auf der abstrakten als auf der konkreten Ebene zu würdigen wusste. Doch welcher Mann wäre nicht - zumindest gelegentlich - zutiefst ernüchtert gewesen angesichts seiner besorgten Frau, der nächtlichen Schreckensmomente und des Windeleimers, ganz zu schweigen von dem ausdrucksvollen Gebrüll und den systematischen Zerstörungsakten eines heranwachsenden Kindes?

 

»Was los ist?« gab sie zurück, während Pussys Geschrei das Register wechselte und dann abbrach, als die Kleine einen hellen, säuerlich riechenden Breiklecks auf die Schulter ihrer Mutter spie. »Hast du mal aus dem Fenster gesehen? Es ist diese Frau.

Deine Frau. Miriam. Sie ist hier« - sie spürte, wie die Absonderung des Babys warm durch den Stoff ihres Kleides sickerte, es würde gewaschen werden müssen, und Pussys Kleid ebenso - »vor dem Tor. Mit, mit, ich weiß nicht - Reportern! Jedenfalls sehen sie aus wie Reporter.«

Er stand nicht vom Schreibtisch auf, bot ihr nicht an, ihr das Baby abzunehmen, machte sich nicht einmal die Mühe, den Kopf zu drehen und aus dem Fenster auf die sanft abfallende Rasenfläche hinauszuschauen, die sich zu See und Wiese und dem Tor hinunterzog, wo all die Autos standen. »Ich bin mir der Lage bewusst«, sagte er leise.

Der Lage bewusst? Sie war verblüfft. Und obwohl sie fraglos sprachbegabt war, neben ihrer Muttersprache auch das Französische und das Russische beherrschte sowie natürlich das Englische, das sie zwar mit starkem Akzent, aber fließend und bestens verständlich sprach, wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Der Lage bewusst - und trotzdem saß er einfach nur da?

Seine Miene war gefasst, sein Blick auf ihr Gesicht geheftet, während das Baby strampelte und zappelte und ein dünnes Protestgewimmer hören ließ, und langsam begriff sie, dass er sich zwang, sitzen zu bleiben, Gelassenheit und Gleichgültigkeit auszustrahlen - ihr zuliebe. Um sie nicht zu erschrecken. Er stieß einen Seufzer aus. »Miriam hat offenbar wieder etwas ausgeheckt. Sie behauptet, irgendeinen Gerichtsbeschluss erwirkt zu haben - ich habe mit Levi* am Telefon darüber gesprochen -, aber ich garantiere dir, dass sie nie wieder einen Fuß auf dieses Grundstück setzen wird, komme, was da wolle. Ich habe beide Straßen sperren lassen.

Und Billy kümmert sich um alles. Du kennst Billy ja. Er würde eher sterben, als uns auszuliefern.«

 

* Richter Levi H. Bancroft, der Wrieto-San zusammen mit dessen altem Freund James Hill in dem Scheidungsverfahren vertrat. Sowohl er als auch Richter Hill waren außergewöhnlich fähige Männer - in mancher Leute Augen ebenso fähig wie Clarence Darrow, der Wrieto-San gegen eine frühere Anklage wegen Verstoßes gegen den Mann Act verteidigt hatte (er wurde beschuldigt, Miriam im Jahr 1915 in unmoralischer Absicht in einen anderen Bundesstaat gebracht zu haben - wenn man denn den freiwilligen Geschlechtsverkehr zwischen Erwachsenen als unmoralisch bezeichnen will). Aber für Wrieto-San kam eben immer nur das Beste in Frage, und das galt auch für die Menschen, mit denen er sich umgab.

 

»Ein Gerichtsbeschluss? Was denn für ein Gerichtsbeschluss?«

»Nicht der Rede wert. Juristischer Hickhack, mehr nicht.«

»Jaja, das hast du mir auch bei den Reportern gesagt, und dann ist dieser grässliche Kerl von der Zeitung gekommen und ... Mir gefällt das nicht, Frank. Ich finde das schrecklich. Richtig schrecklich.«

»Hör zu«, jetzt kam er hinter seinem Schreibtisch hervor, ging über den Teppich auf sie zu und schloss sie und das Baby in die Arme, umfasste sie mit der Kraft eines Titanen, eines Helden, der die ganze Welt zu halten vermochte, »es gibt keinen Grund zur Sorge, nicht den allergeringsten Grund.«

Er täuschte sich.

Keine Stunde später kauerten sie wie Verbrecher in dem Garten auf dem Hügel, über Wurzelstöcke geduckt, und erzählten Svetlana und dem Baby flüsternd Geschichten, so als wäre alles in bester Ordnung, während der Sheriff, versehen mit Haftbefehlen, im Wohnzimmer, in der Blauen Loggia, in Küche, Bad und Studio herumschnüffelte.

Schon am nächsten Tag würde Miriam einen weiteren Angriff unternehmen. Und keine zwei Monate später würden sie abermals fliehen müssen, würden so überstürzt packen, dass sie die Betten nicht mehr machen und die über den Boden verstreuten Kleider nicht mehr aufräumen konnten, das halbgegessene Frühstück auf dem Esstisch wurde den Fliegen überlassen und der Garten den Krähen, Taschenratten und pulsierenden Schwärmen von Insekten mit ihren klackenden Kauwerkzeugen und unersättlichen Mündern.

Frank versuchte, das Ganze wie ein Abenteuer erscheinen zu lassen, genau wie schon ihre Reise nach Puerto Rico, aber es war ebensowenig ein Abenteuer wie die Flucht aus dem Krankenhaus, als sie kaum den Kopf vom Kissen hatte heben können. Es war kein Abenteuer gewesen, die zerlumpten Habenichtse in Coamo mit ihren schmutzigen Spreizfüßen, ihrem zahnlosen Lächeln, ihren ausgemergelten Ziegen und von Pusteln übersäten Hunden auszuhalten oder die gebratenen Bananen essen zu müssen, die wie in Öl getränkte Pappe schmeckten, wo sie doch nur zu Hause in Taliesin hatte sein wollen, das Baby neben sich, den Duft von backendem Brot in der Nase. Frank steuerte den Cadillac, diesen schimmernden Koloss, Richtung Westen übers Land und versetzte sie bei jeder Kurve in Angst und Schrecken, denn er fuhr immer zu schnell, als wäre der eigentliche Sinn des Autofahrens nicht etwa, sicher und bequem irgendwohin zu gelangen, sondern gegen jegliches Gesetz der Straße zu verstoßen, und dabei hielt er endlose Monologe. Für Svetlana, um sie bei Laune zu halten, aber auch für sie. Das musste man Frank lassen: Gesprächspausen brauchte man bei ihm nicht zu befürchten.

»Es wird dir gefallen, Svet«, sagte er immer wieder, »unser eigenes kleines Häuschen im Wald. An einem See. Dem Minnetonka. Kannst du das aussprechen? Komm, versuch’s mal. Das kriegst du hin. Und ich sage dir, das ist nicht nur so eine kleine Pfütze wie der Teich in Taliesin, sondern ein richtiger, echter See mit Fischen, mit Zander zum Beispiel. Du magst doch Zander? Und mit Bären im Wald und Wölfen und, lass mal überlegen - mit Elchen! Du wirst Elche sehen. Hunderte wahrscheinlich. Und weißt du was? Da gibt es auch ein kleines Kanu, das hat genau die richtige Größe für ein kleines Mädchen - wie findest du das?«

Bäume überwölbten die Straße, hier wieder näher beieinanderstehend, der Wald mal dichter, mal lichter auf ihrer Fahrt Richtung Westen durch Montfort, Mount Hope und Prairie du Chien, dann in nördlicher Richtung entlang des Mississippi nach La Crosse und von dort nach Minnesota. Ein Weiler nach dem anderen blieb hinter ihnen zurück, und die Farmen verloren sich zwischen Baumpalisaden. Svetlana spielte mit - »Elche? Wie groß sind die denn? Größer als Elefanten?« -, und falls sie verstört war, ließ sie es sich nicht anmerken. Aber wie hätte sie nicht verstört sein können? Wer wäre es nicht gewesen, schon gar ein Kind? Vielleicht hatte Frank das alles kommen sehen: die Gerichtsverfahren*, Miriams Inbesitznahme von Taliesin, die Zwangsvollstreckung und bevorstehende Zwangsräumung, die Sheriffs und Anwälte. Vielleicht hatte er seine Gedanken für sich behalten und vorausgeplant, diese Zuflucht, zu der sie unterwegs waren, für sie organisiert, doch es war wieder das alte Vagabundenleben, sie hatten alles, was sie für einen Monat brauchten - oder auch für zwei Monate oder drei, wer wusste das schon? -, in einer frühmorgendlichen Panik im Kofferraum verstaut, als jedes Quietschen der Scharniere, jedes Poltern und Klappern die Polizei anzukündigen schien. Die nicht kommen würde, um ihnen eine Klage zuzustellen oder über juristische Feinheiten zu diskutieren, sondern um sie beide zu verhaften und wie Anarchisten oder Bankräuber hinter Gitter zu bringen. Und was dann? Weitere Zeitungsberichte? Weitere Demütigungen?

 

* In einer wahren Prozessekstase hatte Miriam Wrieto-San auch noch wegen erzwungenen Konkurses verklagt und forderte zudem seine Verhaftung wegen Verstoßes gegen den Mann Act - die Ironie kann Miriam kaum entgangen sein.

 

Sie versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, sich Frank und den Kindern zuliebe zu beherrschen, doch sie musste ständig an ihren Garten, an die Blumen, an die Pferde, Hühner und Kühe denken. Würde das alles versteigert werden? Würden die Tomaten am Strauch verfaulen, die Hortensien verwelken, weil niemand sie goss? Es verbesserte ihre Stimmung nicht gerade, dass Svetlana in La Crosse, wo sie zum Abendessen haltmachten, eine ihrer Anwandlungen von Trotz bekam und sich weigerte zu essen, weil sie Steak nicht mochte und Schwein nicht essen wollte und Fisch sowieso hasste und Hackfleisch auch, und nein, sie wollte auch keine Wiener, nicht mal Eis oder sonst etwas. Und dann hatte das Baby auch noch Durchfall, und sie kamen mit dem Windelnwechseln gar nicht mehr nach, hoffentlich reichten sie bis zu ihrem Ziel. Und Frank, der fröhlichste, sorgloseste Mensch auf Erden, sang unterdessen unbeirrt: »Minnesota, Minnesota, wo die Fische größer sind als in Dakota!«

Falls sie schroff zu den Thayers war, die das Haus für sie angemietet hatten, tat es ihr leid, sie hatte gewiss nicht beabsichtigt, zu irgend jemandem unhöflich zu sein, weder zu der Frau, der das Haus gehörte, noch zu der Köchin, die zugleich Haushaltshilfe war und die sie von der Besitzerin übernahmen, aber ihre Nerven waren einfach zum Zerreißen gespannt, und die ersten paar Tage in der neuen Unterkunft waren eine echte Prüfung. Da waren zunächst die üblichen, mit dem Umzug einhergehenden Herausforderungen - die Eingewöhnung der Kinder, die Bestückung der Speisekammer, der Umgang mit ihrer neuen Bediensteten, der nur als Farce zu bezeichnende Versuch, aus einem fremden Haus voll fremder Dinge ein Zuhause zu machen -, und dann wurde das Ganze noch durch ihre neuen, falschen Identitäten kompliziert. Sie durfte nicht mehr Olga sein, und Svetlana durfte nicht mehr Svetlana sein. Sie waren wieder die Richardsons*, Frank und seine Frau Anna (ein guter, ausländisch klingender Name, der ihren Akzent rechtfertigte), ihre Tochter Mary und die Kleine, die nicht mehr Iovanna oder auch nur Pussy war, sondern einfach nur noch das Baby.

 

* Ich habe mich oft gefragt, ob Wrieto-San dieses Pseudonym zu Ehren von Henry Hobhouse Richardson angenommen hat, einem der Stars des Arts and Crafts Movement, dessen gewagte primitive Steinmetzarbeiten nicht nur Taliesin, sondern auch das Hotel Imperial und die Häuser in Los Angeles vorwegnahmen. Leider konnte ich Wrieto-San nie danach fragen, denn wie man sich denken kann, wäre es äußerst peinlich gewesen, ihn auch nur beiläufig auf diese Phase in seinem Leben anzusprechen, in der er der Presse ausgeliefert war, pleite und auftragslos, der »flüchtige Architekt«, der sich in seiner ganzen weißhaarigen Herrlichkeit der Obrigkeit entzog.

 

Aber so war es nun mal. Sie lebte in einem Zustand ständiger Entwurzelung, seit man sie als elfjähriges Mädchen zu ihrer Schwester nach Russland ans Schwarze Meer geschickt hatte, wo sie sich eine neue Kultur und eine neue Sprache aneignete, nur um mit Neunzehn, als die Revolution ausbrach, wieder alles hinter sich lassen zu müssen. Sie hatte kaum Zeit gehabt, sich mit Vlademar und ihrem kleinen Töchterchen in Tiflis einzurichten, da mussten sie vor der vorrückenden Weißen Armee fliehen, und unter Georgeis mutiger Führung gelangten sie zusammen mit einer kleinen Gruppe seiner Gefolgsleute via Konstantinopel in Sicherheit. In Fontainebleau fand sie ein neues Zuhause, bis Georgei seinen Unfall hatte, und dann noch einmal in Taliesin - ja, war es denn zuviel verlangt, dass sie endlich Ruhe fand und mehr als zwei Nächte nacheinander im selben Bett schlief? Dass sie irgendwo hingehörte? Ein normales Leben führte, so wie alle anderen?

Vielleicht. Aber sie war ausgesprochen anpassungsfähig, und das Haus hatte durchaus seine Reize, die Tonka Bay war vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag lichtüberflutet, die Rufe der Eistaucher hallten über das Wasser, und das Wetter blieb bis zum September schön, ein langer, träger Altweibersommer. Und als es dann in der ersten Oktoberwoche schließlich kalt wurde, kam der Frost über Nacht und ließ das Laub in beispielloser Pracht entflammen. Außerdem waren sie zusammen, nur sie vier, keine Schar hämmernder Handwerker, keine Auftraggeber, die es zu besänftigen galt.

Die Außenwelt war ihnen verschlossen, doch ihre eigene kleine Welt war dafür um so reicher. Sie gewöhnte sich an das Essen ihrer neuen Köchin (einer gewissen Miss Viola Meyerhaus, dickbeinig, altjüngferlich und von unbestimmtem Alter, die ihr blondes Haar in einer starren Schnecke auf dem Kopf trug und ausnahmslos deftige Gerichte kochte, mit Soße, Kartoffeln, Sauerkraut und Wurst, wobei sie ein wunderbares Gericht namens »Himmel und Erde« zubereitete, ein Gemisch aus Kartoffelbrei, Apfelmus, Zwiebeln, gewürfeltem Speck und Schweinebraten, das selbst Svetlana zu schmecken schien), und an deren freiem Tag nahm Olgivanna sich die Zeit, Eintöpfe und Suppen zu kochen und süße Leckereien zu backen, bis das Haus so roch, wie ein Haus riechen sollte. Sie gingen jeden Tag segeln, und abends machten sie Spaziergänge in der Umgebung und saßen danach noch stundenlang am Kamin. Frank war, ruhelos wie eh und je, auf die Idee gekommen, seine Autobiographie zu schreiben - wenn ihm die Architektur schon verwehrt sei, könne er seine Zeit doch wenigstens sinnvoll nutzen, oder? -, und sie hörte gerne zu, wenn er der Stenographin, die er unter der Auflage absoluter Verschwiegenheit angestellt hatte, das Buch diktierte.

Alles ging gut, von vereinzelten Schnitzern einmal abgesehen - beide vergaßen sie immer wieder, Svetlana »Mary« zu nennen, wenn andere Leute in der Nähe waren, außerdem war der Cadillac mit seinem Klappverdeck und den Nummernschildern aus Wisconsin fraglos ziemlich auffällig, insbesondere da die Zeitungen regelmäßig Fotos von Frank und ihr abdruckten und herumtrompeteten, welche nicht unbeträchtliche Belohnung für Informationen ausgesetzt war, die zu ihrer Festnahme und strafrechtlichen Verfolgung führen würden -, und in späteren Jahren sollte sie erkennen, dass sie zu keiner anderen Zeit in ihrem Leben dem puren Idyll so nahe gekommen war. Immer in Anbetracht der Umstände. Sie war zufrieden, glücklich und zufrieden, und wie im Frühling in Taliesin begann sie sich allmählich zu entspannen.

Eines Morgens, als sie in der Küche stand und Tee kochte, während Frank in seinem improvisierten Arbeitszimmer an den Manuskriptseiten saß, die er abends Mrs. Devine, der Stenographin, diktieren würde, während das Baby schlief, Svetlana in dem Kanu spielte (das fest am Steg vertäut war und unter gar keinen Umständen losgemacht werden durfte, ohne dass ein Erwachsener dabei war) und Viola am Herd hantierte, kam ein Mann in seinen Dreißigern mit einem pflanzlich anmutenden gelblichen Haarschopf die Hintertreppe herauf und trat ein, ohne zu klopfen. Bevor sie Gelegenheit hatte, zu protestieren oder auch nur den Mund aufzumachen, streckte er ihr die Hand entgegen, um sich für sein Eindringen zu entschuldigen und sich zugleich vorzustellen. »Ich bin Mrs. Simpsons Sohn«*, sagte er in fragendem Tonfall. »Es tut mir leid, dass ich störe, aber ich bin für einen Tag aus Minneapolis hier - ich bin Anwalt, ich weiß nicht, ob meine Mutter Ihnen das erzählt hat -,und ich wollte nur, äh, also, ich habe meine Angel verlegt, und ich bin für heute nachmittag mit einem Klienten zum Angeln verabredet. Es würde Ihnen doch nichts ausmachen, wenn ... Ich bin mir sicher, dass sie oben auf dem Speicher ist.«

 

* In seiner unbeschreiblich charmanten und charismatischen Art hatte Wrieto-San die Besitzerin des Häuschens (eine gewisse Mrs. Simpson; ihr Vorname ist uns nicht bekannt) davon überzeugt, dass sie dringend einen dreimonatigen Urlaub brauchte und ihm somit ihr Haus vermieten konnte, komplett möbliert und einschließlich der Haushälterin. Wie er das bezahlte - oder vielmehr, ob er es bezahlte -, bleibt sein Geheimnis.

 

Er hatte etwas Eifriges, Jungenhaftes - er war groß genug, um den Türrahmen mit dem Kopf zu streifen, aber ohne die Extrapfunde, die so viele Männer im mittleren Alter ansetzen, sein Gesicht nichtssagend wie Rührei, die Augen klar, der Blick fest -, so dass die Bitte unmittelbar plausibel wirkte. Er hatte hier gewohnt, war in diesem Haus aufgewachsen. Sein Angelgerät war auf dem Speicher. Es leuchtete völlig ein.

»Ach, hallo, Viola«, sagte er zu der Köchin, ehe Olgivanna eine Antwort parat hatte,

»ich hatte Sie gar nicht gesehen, tut mir leid. Geht es Ihnen gut?«

»Ja, Jimmy, sehr gut, danke. Und wie geht es Ihrer Mutter?«

Ein kurzer Blick zu Olgivanna, um zu sehen, wie weit er gehen konnte. »Sie genießt ihre Ferien - dank Ihnen, Mrs. Richardson. Sie ist nach Duluth gefahren, um meine Tante zu besuchen, aber Sie wissen ja, wie Mama ist, Viola. Jetzt ist sie schon wieder bei meiner Frau und mir und kümmert sich mit der größten Begeisterung um Buddy und Katrina.«

Frank hatte wohl die Männerstimme in der Küche gehört, denn er kam mit neutralem Gesichtsausdruck - nicht beunruhigt, noch nicht - aus seinem Arbeitszimmer und sagte: »Na, wen haben wir denn da? Mrs. Simpsons Sohn, habe ich das recht verstanden?«

Der Mann erschrak sichtlich, fasste sich aber rasch wieder, trat vor, um Franks Hand zu ergreifen, und sagte mit schrill ansteigender Stimme: »Ja, Sir. Jim Simpson, zu Ihren Diensten.« Dann erklärte er, warum er da war. »Es würde Ihnen doch nichts ausmachen, wenn ich mal kurz die Treppe hochspringe - es dauert nicht lange. Ich wollte natürlich nicht ... na ja, ich nehme an, ich habe Sie bereits ...«

Frank widersprach nicht. Einen Moment lang stand er nur da, blickte zu dem Mann auf und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. »Gehen Sie oft angeln, Mr. Simpson?« fragte er schließlich.

»Ja, schon, aber nicht so oft, wie ich gern würde. Sie wissen ja, wie es ist, man kommt zu nichts.«

»Und was wollen Sie angeln? Zander?«

»Ja, hauptsächlich.«

»Und Barsch vermutlich?«

»Ja.«

»Gibt es in diesem See eigentlich Weißfisch? Den mag ich nämlich am liebsten« - jetzt wandte er sich ihr zu -, »stimmt’s, Anna? Der leckerste Fisch weit und breit.«

»Tja, wissen Sie, Mr. - Richardson, nicht wahr? -, da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß nicht, ob ich je ... Aber ich stehle Ihnen schon viel zu lange die Zeit.«

»Na denn«, sagte Frank. »Holen Sie Ihre Angel. Ich verabschiede mich dann auch gleich.« Sie schüttelten sich erneut die Hand, wie um ein Geschäft zu besiegeln. »Ich bin gerade beschäftigt«, fügte Frank erklärend hinzu. Er zwinkerte. Grinste. »Habe zu arbeiten, wissen Sie. Mühsam nährt sich das Eichhörnchen.«

»Darf ich fragen, was Sie machen?«

»Philatelie.«

»Briefmarken?«

Frank nickte. »Genau.«

»Das klingt ... interessant. Kann man davon denn leben?« »Sie würden sich wundern.« Der Mann schaute sich rasch im Zimmer um, ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen. »Ja also, wie gesagt, ich will Sie nicht aufhalten ... «

Ein gemurmeltes Dankeschön, dann das Poltern der Schritte auf der Treppe, das Knallen einer zuschlagenden Tür, das Quietschen von Scharnieren - eine dieser Falltüren mit ausziehbarer Leiter, vermutete sie -, schließlich von oben sporadisches Rumpeln und Klappern. Frank ging wortlos in sein Arbeitszimmer zurück. Sie horchte kurz, ob sich das Baby rührte, schaute durchs Fenster nach Svetlana, die jetzt auf dem Steg saß und das Kanu mit den Füßen hin und her schaukelte, dann goss sie sich eine Tasse Tee ein, setzte sich mit ihrem Buch an den Tisch und vergaß Jimmy Simpson völlig, bis die Scharniere wieder quietschten, die Tür zuknallte und die Schritte die Treppe her- untergedonnert kamen. Im nächsten Moment war er in der Küche, sein Gesicht schwebte hoch oben durch den Raum, so als trüge er es auf einer Servierplatte vorbei, und mit einem lauten »Danke, Mrs. Richardson« und »Bis bald, Viola« war er draußen.

Die Schritte entfernten sich über die Veranda und verklangen in der Stille. »NetterKerl«, sagte Olgivanna, einfach um irgend etwas zu sagen, aber eigentlich entsprach das nicht ihrem Gefühl. Ganz im Gegenteil. Irgendwas gefiel ihr nicht an diesem Mann - und das mit der Angel und seinem Klienten, das waren doch faule Fische*. Wenn sie sich nicht täuschte - sicher war sie sich allerdings nicht, er war so schnell vorbeigegangen -, hatte er nicht einmal eine Angel in der Hand gehabt.

 

* Wieder so ein eigentümlicher idiomatischer Ausdruck. Und, was seine wörtliche Auslegung angeht, sehr relativ. Wir Japaner haben als Inselbewohner natürlich großen Respekt vor der Nützlichkeit der Meerestiere, und es würde uns im Traum nicht einfallen, einen Fisch für Sashimi, Sushi oder auch nur für die Brühe von Ramen zu verwenden, ohne entweder selbst gesehen zu haben, wie er gefangen wurde, oder aber lange und gründlich an ihm gerochen zu haben. Und obwohl dies natürlich nicht der Ort für Rügen ist, muss ich doch sagen, dass man das, was in Amerika als »frischer Fisch« gehandelt wird, in Japan nicht mal den Katzen geben würde - und unsere Katzen ernähren sich nicht sonderlich gut.

 

»O ja«, sagte Viola. »Das Salz der Erde.«

An diesem Abend war es kühl. Es war die dritte Oktoberwoche, die Bäume warfen das Laub ab, und am Himmel schrien die Gänse wie verlorene Seelen. Nach einem langen Spaziergang um den See war Olgivanna von dem kräftigen, würzigen Geruch von Violas Sauerbraten und einem Feuer aus Eichenscheiten und dem süß duftenden Holz eines vom Wind umgerissenen Apfelbaums empfangen worden, das Frank am selben Tag gehackt und gestapelt hatte. Draußen vor dem Fenster zogen sich unter einem kalten roten Sonnenuntergang rosa Wolkenbänder über die gesamte Breite des Himmels. Svetlana saß über einer Zeichnung, das Baby schlief, Frank war in seinem Arbeitszimmer. Olgivanna half Viola, sie deckte den Tisch, schob in jede gefaltete Serviette ein rotgeflecktes Blatt und verwendete einige Zeit auf ein Arrangement aus Trockenblumen und Kiefernzapfen, die sie auf ihrem Spaziergang gesammelt hatte - ganz schlicht, aber es würde Frank gefallen. Er holte gern die Natur ins Haus. Sie hatten schon einen kleinen Ausflug mit dem Cadillac zu einem örtlichen Farmer gemacht, um ihre Halloween-Kürbisse und die zugehörigen Ziermaiskolben zu besorgen, und in praktisch jedem Gefäß, das als Vase dienen konnte, stand ein Strauß Rohrkolben oder Schafgarbe oder wilde Möhre.

Während des Essens sahen sie zu, wie der See von Kupfer zu Silber zu Blei wurde, und dann begann sich das Licht im Zimmer in den Fensterscheiben zu spiegeln, und Frank ging durchs Haus und schaltete überall die Lampen ein. Danach kam Mrs. Devine, um Franks Diktat aufzunehmen, derweil die Köchin das Geschirr spülte und einräumte und Olgivanna die Kinder ins Bett brachte, das Baby im Schlafzimmer, Svetlana auf der verglasten Veranda. Dann setzte sie sich mit ihrem Strickzeug an den Kamin - sie strickte den Kindern Mützen und Schals mit einem selbstentworfenen Schneeflockenmuster - und lauschte dem Auf und Ab von Franks Stimme. Sie hörte ihm ausgesprochen gerne zu, auch wenn er sich korrigierte oder die Geduld verlor und anfing herumzuwitzeln oder ein Lied anstimmte, denn er erzählte eine Geschichte, die Geschichte seiner Kindheit, als man ihn jeden Sommer auf die Farm seines Onkel James geschickt hatte, wo er von morgens bis abends schuftete. »>Wer säen will, muss hacken««, diktierte er mit seiner klaren, kräftigen Stimme, dann hielt er inne und schaute über den Rand seiner Brille. »Neuer Absatz. Und dann weiter: >Und wer hackt, um dereinst zu ernten - der muss auch Unkraut jäten.««

Es war zehn Uhr, Mrs. Devine musste mehrmals hintereinander ein Gähnen unterdrücken, Frank dagegen war wie immer unermüdlich, in den Baumwipfeln rauschte der Wind, die Uhr auf dem Kaminsims schlug mit schläfrig-monotonem Dröhnen die Zeit, und plötzlich klopfte es an die Küchentür. Das erste, woran Olgivanna dachte, war Mrs. Simpsons Sohn - brachte er die Angel zurück? Wollte er weitersuchen? Doch dann schaute sie zu Frank hinüber, und ihr wurde eiskalt. Er war so rasch vom Stuhl hochgeschossen, dass die Blätter mit seinen Notizen heruntergefallen und zu seinen Füßen gelandet waren, und stand nun angespannt da und sah zur Küche, wo sich Viola in Hausschuhen und einer grauen Strickjacke, die das glänzende Blumenmuster ihres Kleides verbarg, schwerfällig erhob, um an die Tür zu gehen.

Eine Männerstimme ertönte aus der Nacht: »Ist Mr. Richardson zu Hause?« Und die nichtsahnende Viola antwortete: »Ja, ich glaube schon.«

Im nächsten Moment drängten ein halbes Dutzend Männer in Hut und Mantel herein, während Frank einen Schritt nach hinten taumelte, als wäre er unsicher auf den Beinen, und Olgivanna sah die Angst in seinen Augen, echte Angst, zum erstenmal, seit sie ihn kannte. Der Raum füllte sich. In der Küche, auf der Veranda standen weitere Männer. Mit hart und wächsern aussehenden Gesichtern blinzelten sie ins Licht, und sie brachten einen Geruch mit, einen strengen Geruch, nach Nacht, dem urzeitlichen Matsch an ihren Füßen, Zigarrenrauch. Mrs. Devine, die Stenographin, sog so jäh und scharf die Luft ein, dass es klang, als hätte jemand einen Reifen aufgestochen. Und Olgivanna dachte nur immer wieder: Wir sind die Richardsons, wir sind doch bloß die Richardsons. Wir sind Niemande. Wir sind harmlos. Die können uns nichts anhaben.

»Sie sind alle verhaftet!« rief einer - der in der Mitte mit dem gewaltigen Kiefer, den brutal aussehenden, riesigen glänzenden Stiefeln und diesen Augen, die alles im Zimmer verschlangen und wieder ausspien -, und sie sah, dass er eine Dienstmarke hochhielt. Ein anderer Mann stand neben ihr, zu dicht neben ihr, und hauchte ihr seine Bieroder Whiskyfahne oder was immer es war ins Gesicht, und plötzlich war sie, ohne es recht zu bemerken, aufgestanden, in der einen Hand baumelte an einem Faden die Mütze für das Baby, die andere lag am Kragen ihres Kleides. Dieser Überfall verwirrte ihre Sinne: Fremde in ihrem Haus, abscheuliche Fremde, als lebte sie noch unter der Geißel der Tscheka, als wäre sie noch in Russland und alles andere wäre nur ein Traum gewesen.

»Das ist doch lächerlich«, raunzte Frank, entschlossen, sich nicht einschüchtern lassen. »Wegen was denn? Und wie kommen Sie überhaupt dazu, hier einfach so hereinzuplatzen?«

In diesem Moment drängte sich ein großer Mann mit Hängebacken ins Zimmer, eine bedrohliche Gestalt in einem gelbbraunen Mantel, der an ihm herabhing wie eine Indianerdecke. »Jetzt haben wir sie«, brüllte er, »endlich! Wo ist das Kind?« Und bevor ihn jemand aufhalten konnte, riss er die Schlafzimmertür auf und stürzte sich mit einem Schrei auf Iovanna. »Ja, hier ist das Baby, hier drinnen ist es!«

Frank wollte ihm nach, doch der Große, der Sheriff, hielt ihn fest - »Keine Handgreiflichkeiten«, sagte er, »kommen Sie bitte ohne Widerstand mit« -, und Frank sagte: »Holen Sie diesen Mann da raus, sonst -«

Plötzlich war sie in Bewegung, bahnte sich gewaltsam einen Weg ins Schlafzimmer, wo der Mann im gelbbraunen Mantel Pussy gerade die Decke wegzog. Pussy riss die Augen auf und stieß beim Anblick dieser hässlichen, brutalen Visage den ersten erschrockenen Schrei aus. Es war der Anwalt, natürlich, Miriams Anwalt, und diese Erkenntnis brachte Olgivanna erst richtig in Fahrt. Sie stieß ihn zur Seite, ein kräftiger Stoß, und im nächsten Moment presste sie das Baby an sich, und jetzt war sie es, die schrie: »Verschwinden Sie! Dazu haben Sie kein Recht! Hören Sie auf, uns zu schikanieren!«

Aber er hörte gar nicht zu, wankte bereits autoritätstrunken aus der Tür und rief mit mächtiger Stimme: »Wo ist das andere Kind, das von Hinzenberg?«

Dann versank alles im Chaos, Svetlana wurde von einem Schlägertyp mit Pfannkuchengesicht von der Veranda hereingezerrt und heulte, brutal aus dem Schlaf gerissen, in ansteigenden Schluchzern, während Pussy kontrapunktisch mit der ganzen Kraft ihrer jungen Lungen brüllte und Frank mit den Männern an der Tür rang, derweil die Stenographin und die Köchin das Geschehen entsetzt verfolgten. Ja, schlimmer noch: angewidert. In dem ganzen Durcheinander, dem Hin- und

Hergezerre, war es Violas Blick, der ihr beinah die Fassung geraubt hätte - dabei war sie fest entschlossen, nicht in Tränen auszubrechen, weder jetzt noch überhaupt, sie würde stark sein. Doch in den Augen dieser sanften, unauffälligen Frau, mit der sie nun seit sechs Wochen zusammenwohnten, tagaus, tagein, ihrer Gefährtin, der sie vertrauten und die ihnen vertraute, stand nur Verachtung. Es war, als wäre sie beim Putzen in der Küche auf eine Schlange getreten, hätte daraufhin dem Schrubber Zähne wachsen lassen und ihn angewiesen zuzubeißen, und Olgivanna hätte ihr am liebsten alles erklärt, ihr gesagt, dass sie gezwungen gewesen waren, so zu leben, zu lügen und fiktive Identitäten anzunehmen, sich zu ducken und verstecken wie Kriminelle, obwohl sie doch unschuldig waren, unschuldig schikaniert wurden. Miriam, hätte sie am liebsten gerufen, Miriam ist die Kriminelle.

Aber neben ihr stand jetzt ein Mann, der sagte, dass sie mitkommen müsse. »Nein«, donnerte Frank. »Nehmen Sie mich mit, nur mich. Lassen Sie sie hierbleiben - wenn es sein muss, unter Bewachung, aber lassen Sie sie hierbleiben!« Svetlana riss sich los und rannte schreiend zu ihr, und Olgivanna verlor endgültig die Beherrschung. Plötzlich war es ihre Stimme, einzig und allein ihre Stimme, die alle im Zimmer hörten. »Es reicht!« schrie sie. »Sie sollten sich schämen, Sie alle! Merken Sie denn nicht, was für eine Angst Sie diesem Kind einjagen - diesen beiden Kindern?«

Der mit dem Pfannkuchengesicht trat einen Schritt zurück. Der Sheriff lockerte seinen Griff um Franks Arm, worauf Frank ihm den Arm empört entwand. Die Kinder schnappten nach Luft, das Feuer knisterte, und sämtliche Männer im Zimmer sahen betreten auf ihre Schuhe.

»So«, fauchte sie, als schüttelte sie einen Teppich aus, »wir werden uns nicht wehren, aber ich möchte, dass jeder von Ihnen diesem Kind hier« - sie drehte Svetlana mit dem Gesicht zu ihnen - »sagt, dass alles gut wird. Haben Sie mich verstanden? Gibt es in diesem Zimmer auch nur einen Mann, der nicht einen kleinen Jungen oder ein kleines Mädchen zu Hause hat? Eine Nichte? Einen Neffen?« Sie starrte sie böse an.

»Sind Sie denn Bestien?«

Gemurmel erhob sich, die rauhen Stimmen nun gedämpft, und dann war es in Ordnung. Der Sheriff kam durchs Zimmer auf sie zu, nahm den Hut ab, so dass man ein Gewirr plattgedrückter, schweißnasser Haare sah, und sagte ihr, es tue ihm leid, und wenn es nach ihm ginge, könnten sie gern bleiben. »Aber Sie müssen das verstehen, Ma’am, es ist meine Pflicht, dem Gesetz zu dienen, und diese Haftbefehle müssen vollstreckt werden.« Seine Stimme war sanft, fast liebenswürdig, und einen Moment lang dachte sie, er werde Svetlanas Kopf tätscheln. »Wir lassen Ihnen Zeit, um ein paar Sachen zusammenzupacken und Kleider für die Kinder herauszulegen, aber wir müssen die beiden in Schutzgewahrsam nehmen, verstehen Sie, zumindest bis morgen früh.«

Jetzt mischte Frank sich mit hoher, gereizter Stimme wieder ein - »Schutzgewahrsam?

Sind Sie wahnsinnig? Merken Sie denn nicht, dass diese Kinder ihre Mutter brauchen?«

-, und sie sah, wie sich das Gesicht des Sheriffs verhärtete. Es war sinnlos. Die Stimmung im Raum schlug wieder um. Frank wurde am Arm gepackt, und dann standen sie und die Kinder in Mantel und Mütze da, die Tür ging auf, und sie wurden von der Nacht empfangen, den kalten Treppenstufen, dem heißen, harten Blitz der Kameras.

 

** Wrieto-San gibt auf diesen Bildern keine gute Figur ab, er scheint nicht Herr der Lage, sondern ihr hilflos ausgeliefert zu sein. Er wirkt konfus, als hätte er gerade bemerkt, dass er Hut und Mantel eines anderen angezogen und ein Stock-Surrogat zur Hand genommen hat. Und ohne respektlos sein zu wollen, muss ich doch sagen, dass er auf diesen Bildern beklagenswert durchschnittlich aussieht, wie ein dicklicher Schuhverkäufer, der zwischen den Regalen umherirrt, oder der Besitzer eines Feinkostgeschäfts, der sich zu erinnern versucht, was er bloß mit der aufgeschnittenen Mortadella gemacht hat.

 

Dann kam die Nacht im Gefängnis, hinter Gittern, eine Nacht ohne die Kinder und ohne Frank - das hatten sie so geplant, Miriams Anwalt und die Polizei und ihre Komplizen von der Presse, um Franks Leid und Erniedrigung noch zu steigern, ihn so tief wie möglich zu demütigen -, gefolgt von der Gerichtsverhandlung, der Freilassung auf Kaution und einer neuerlichen Kameraattacke, als sie die Treppe des Gerichtsgebäudes in Minneapolis hinuntergingen. Sie hatte kein Auge zugetan. Hatte sich weder die Haare gekämmt noch ihre Kleider gebügelt, noch Lippenstift aufgetragen oder sich auch nur die Zähne geputzt. Im Gefängnis hatte es nach Ausscheidungen gestunken, nach der Gemeinschaftstoilette und dem Desinfektionsmittel, das den Gestank überlagern sollte. Die anderen Insassen - Betrunkene, Prostituierte und Morphiumsüchtige, primitive Menschen, ungebildet, ungewaschen, Pöbel - stöhnten und brabbelten die ganze Nacht hindurch, ein leises, monotones, hoffnungsloses Stimmengewirr, und sie musste ständig an die Kinder denken. Svetlana hatte schreckliche Angst gehabt und sich an sie geklammert, als die Aufseherin sie voneinander getrennt hatte, und die Kleine hatte den Kummer ihrer Schwester gespürt und gar nicht mehr aufgehört zu weinen, während sie durch den langen Korridor verschwunden war.

»Es wird ihnen gutgehen«, hatte die Frau ihr immer wieder versichert, »ich bin die ganze Nacht bei ihnen, und ich bin mir sicher, dass Sie morgen wieder frei sein werden, Sie alle«, aber es würde ihnen eben nicht gutgehen, es würde ihnen nie mehr gutgehen, nie mehr. Wie denn auch? Sie waren brutal behandelt, terrorisiert, von Fremden aus dem Bett gerissen und von anderen Fremden eingesperrt worden, aus Gründen, die nicht einmal einem Erwachsenen einsichtig waren. »Was ist denn los, Mama?« hatte Svetlana immer wieder gefragt, während sie in dem Polizeiwagen durch die dunklen gewundenen Straßen fuhren, Frank nur ein Schatten in dem Wagen vor ihnen. »Hat Daddy Frank etwas Schlimmes getan? Oder du? Wo fahren wir hin, Mama? Was ist los?«

Sie hatte keine Antwort für Svetlana - sie konnte sie nur im Arm halten, während das Auto schlingerte, das Baby zappelte und spuckte und die Scheinwerfer ihnen den Weg zu einer Art finalem Panorama der Schande und Entwürdigung leuchteten -, und auch für die Meute von Reportern am nächsten Morgen hatte sie keine Antwort. Die Vernehmung zur Anklage war eine öffentliche Demütigung, nichts anderes als das, was die Puritaner mit ihren Tauchstühlen und Stöcken bewirkt hatten, der gesamte Vorgang, von dem Moment an, wo sie vor den Richter traten, bis zur Freilassung auf Kaution, eine solche Schmach, dass es ihr schier den Atem raubte. Als sie durch die Tür des Gerichtsgebäudes ins Freie trat, war sie desorientiert. Der Blitz blendete sie. Sie war unsicher auf den Beinen. »Olga«, riefen sie, als wären sie mit ihr bekannt, ihre Freunde oder Vertrauten, als wollten sie ihr nur helfen, und sie bildeten ein Knäuel um sie wie Rugbyspieler beim Gedränge. »Olga! Olga!« Es nieselte. Der Asphalt glänzte. Frank hielt sie am Arm, und seine Anwälte standen rechts und links von ihnen und versuchten sie abzuschirmen. »Olga! Olga! Würden Sie eine Stellungnahme abgeben? Frank? Mr. Wright?«

Sie wollte sich nur noch verstecken. Sie, die Enkelin von Marco Milanoff, Montenegros größtem General und Patrioten, die Tochter von Ivan Lazovich, dem obersten Richter von Montenegro, und Militza Milanoff, ihrerseits Generalin der montenegrinischen Armee, wurde zur Geächteten, Kriminellen, Ehebrecherin erklärt, doch Frank blieb im Regen auf der Treppe stehen, um jedem, der es hören wollte, zu sagen, wie übel man mit ihm mitgespielt habe und dass die Anklage an den Haaren herbeigezogen sei. Olgivanna wurde ganz klein. Starb tausend Tode. Und er redete weiter, während der Regen dichter wurde und die Stifte über die Seiten glitten. Sie starrte auf den Boden - »Olga! Olga!« -, und er hielt sie fest, wobei er zugleich mit dem anderen Arm gestikulierte und seine Stimme an- und abschwellen ließ, und dann gingen sie weiter, hinter sich einen Zug von Reportern und hundert oder mehr Hyänen, die nicht Besseres zu tun hatten.

Und wohin gingen sie? An einen freundlichen, geschützten Ort, wo es saubere Laken gab, ein Bett mit einer Decke, die sie sich über den Kopf ziehen konnten, bis alles vorbei war? Oder zu einer lichtlosen Höhle, tausend Meter unter dem Erdboden, wo sie nie wieder jemand belästigen würde? Nein. Sie überquerten die Straße und gingen ins Amtsgericht, um sich wegen ihres angeblichen Verstoßes gegen den Mann Act zu verantworten, denn ohne es zu bemerken, waren sie von Spitzeln beobachtet worden, als sie in La Crosse die Staatsgrenze überschritten hatten, was nach der beschränkten Lesart des Gesetzes darauf hinwies, dass Frank ihr seinen Willen aufgezwungen und sie seiner Verderbtheit Vorschub geleistet hatte. Als sie begriff, was geschah - das ganze Spektakel, eine weitere Treppe, ein weiterer Gerichtssaal mit einer weiteren Reihe blasser, vorwurfsvoller Gesichter-, spürte sie, wie ihre Beine unter ihr nachgaben. Sie konnte nicht weitergehen. Sie ertrug es nicht. Diese Schmach, diese Schmach. Olga, Olga! Doch Frank stützte sie, die Tür öffnete sich vor ihnen, der Mob teilte sich, und sie stand abermals in den heiligen Hallen der Justiz: Heldenstatuen, kannelierte Säulen, Marmorböden, Leute, die sich nach ihnen umdrehten und gafften. Ihre Schritte auf den Bodenfliesen hallten wider. Dröhnten. Schrien ihre Schuld heraus.

Jetzt traten zwei Männer in dunklen Anzügen auf den Plan und führten sie trotz Levi Bancrofts Schnaufen und Händeringen in ein Zimmer in einem Seitengang - sie sah eine Flagge, einen Schreibtisch, ein halbes Dutzend Holzstühle, aber keinen Richter, keine Zuschauer, keine Presse -, während gleichzeitig zwei weitere Männer erschienen und Frank in die entgegengesetzte Richtung davonführten. »Halt die Ohren steif!« rief er ihr über die Schulter zu, und womöglich sagte er auch noch, dass er sie liebte, doch er war bereits verschwunden. Sie drückte ihre Tasche an sich. Schaute zu den Fenstern hinüber, zu der dunkel gebeizten Tür am anderen Ende des Zimmers, und der Anblick dieser Tür erschreckte sie: Sie führte zu einer Zelle, da war sie sich sicher.

»Wir sind Agenten des FBI, Ma’am, und wir würden Ihnen gern ein paar Fragen stellen«, sagte einer der Männer und stellte ihr einen Stuhl hin. Sie hielt sich sehr aufrecht, während die beiden sich schwerfällig ihr gegenübersetzten. Derjenige, der gerade gesprochen hatte, zog ein Zigarettenetui hervor und reichte es ihr, doch sie schaute nicht hin, regte sich nicht. Ein Streichholz wurde angerissen, dann roch es nach Tabak, scharf und kräftig.

Eine ganze Weile sagte keiner etwas. Der Raum war dunkel, steril, kalt wie ein Kühlschrank. Diese Männer, diese Fremden, die sie hier unter Zwang festhielten, waren nicht einmal auf die Idee gekommen, das Licht oder die Heizung einzuschalten, und der Gedanke an diese Gleichgültigkeit deprimierte sie noch mehr. Sie wollte bei ihren Kindern sein. Sie wollte freigelassen werden. Aber das Ritual musste vollzogen werden:

Die beiden waren FBI-Agenten, und sie war eine Gesetzesflüchtige, eine unerwünschte Ausländerin, die sich in ein Netz von Lügen verstrickt hatte.

Der zweite Mann räusperte sich und sagte: »Fangen wir mit Ihrem Namen an. Sie heißen Olga Lazovich?«»Ja«, erwiderte sie. »Ja.« Und dann neigte sie den Kopf und erzählte ihnen mit sehr leiser Stimme alles, die ganze Wahrheit, zuviel der Wahrheit - »Puerto Rico? Wollen Sie damit sagen, dass Sie nach Puerto Rico geflohen und dann ohne Visum wieder eingereist sind?« -, bis es ihr vorkam, als hätte sie sich selbst in Ketten geschlagen und nichts, weder Gesetz noch Gnade, noch die öffentliche Meinung, könnte sie mehr retten.

Eine weitere Nacht im Gefängnis. Hinter schwedischen Gardinen. So sagte man doch? Schwedische Gardinen* - diese ganze zweite schlaflose Nacht lang murmelte sie den Ausdruck in leisem Singsang vor sich hin, wiederholte diese absurde idiomatische Wendung panisch vor Sorge immer wieder, wie ein Gebet. Schwedische Gardinen, schwedische Gardinen. Es war kalt. Die Decke war schmal und dünn. Irgendwann

begann sie zu glauben, dass sie Frank hasste - nicht Miriam, sondern Frank. Frank hatte sie das alles zu verdanken, nur Frank allein. Frank hatte sie ruiniert. Vernichtet.

Sie in die niedersten Niederungen des Menschseins gezwungen. Sie stellte sich ihn in seiner Zelle vor, irgendwo in dem anderen Flügel des Gebäudes, wie er prahlte, sich spreizte, für seine Mitgefangenen die Fassade wahrte, der große Mann, der Meister, selbst noch im Niedergang. Und dann begann sie zu glauben, dass sie sich selbst hasste. Denn wenn sie stärker gewesen wäre, wenn sie ihm widerstanden hätte - und auch Taliesin mit seinem Frieden und seiner Schönheit, der Aussicht auf ein Zuhause, auf eine Zuflucht, auf Beständigkeit -, wenn sie nicht, von Georgei verstoßen, zu Frank gegangen wäre, wenn sie gewartet hätte, dann wäre all dies nicht passiert.

 

* Ich habe mich oft gefragt, woher dieser seltsame Ausdruck stammt. Wrieto-San jedenfalls pflegte die Zeit seines Niedergangs, die sicher zu den schmerzlichsten Phasen seines Lebens gehörte, mit dem scherzhaften Kommentar herunterzuspielen: »Da habe ich mal für eine Weile meine japanischen Wandschirme gegen schwedische Gardinen vertauscht.«

 

Im Morgengrauen kam jemand, um sie zu wecken und ihr ein hartes Brötchen und eine Blechtasse mit Kaffee zu bringen.

Man führte sie wieder ins Gerichtsgebäude.

Die Fotoapparate blitzten.

Blitzten abermals.

Und dann wurden Frank und sie zu ihrem Erstaunen - sie hatte mit dem Schlimmsten gerechnet, mit Gefängnis, Ausweisung, dem Verlust der Kinder und auch Franks - gegen eine Bürgschaft von jeweils 15000 Dollar freigelassen, gezahlt von Franks Freunden, die sich hinter ihn gestellt hatten. Vlademar kam nach einem ausführlichen Gespräch mit Frank und seinen Anwälten* zur Vernunft und zog sowohl die Strafanzeige wegen Ehebruchs als auch seine Klage zurück. Der Sheriff von Sauk hatte angeblich die Rücknahme der Anklage wegen Justizflucht in die Wege geleitet, und die Klage wegen Verstoßes gegen den Mann Act wurde einer erneuten Prüfung unterzogen, da Vlademar, der in diesem Jahr nur sechzig Dollar Unterhalt für das Kind gezahlt hatte, einen Rückzieher machte und es offensichtlich war, dass sie und Frank wie Eheleute zusammenlebten und Frank für die Kinder sorgte. Diesmal erwartete sie ein Wagen, als sie die Treppe des Gerichtsgebäudes hinuntergingen. Auf dem Rücksitz saßen die Kinder. Der Chauffeur schlug den Reportern die Tür vor der Nase zu, und dann waren sie fort.

 

* Der Chicago Tribune zufolge dauerte es fünf Stunden. Bei diesem Treffen hätte man gern Mäuschen gespielt.

 

Eins blieb noch zu tun. Frank fing davon an, kaum dass das Auto losgefahren war, und ließ nicht mehr davon ab, weder während der Begrüßung der Kinder noch beim Mittag- und Abendessen oder am späteren Abend, und seine Anwälte stimmten wie Papageien ein, wann immer sich die Gelegenheit bot. »Wir sind noch nicht über den Berg«, sagte Frank immer wieder, bis sie beim Klang dieser Worte aus seinem Munde zusammenzuckte, als würde sie mit einem Knüppel geprügelt, der aus den abgenutzten Überresten der Sprache geschnitzt war, der englischen Sprache und allihrer Regeln und Eigenschaften, und wieso überhaupt über den Berg? War das Zielnicht normalerweise, auf den Berg zu gelangen? »Und«, dies mit einem Blick zu dem jeweils gerade anwesenden Rechtsanwalt, »die Sympathien der Öffentlichkeit haben sich zwar eindeutig zu unseren Gunsten verschoben, aber wir müssen unseren Vorteil nutzen. Wenn Miriam sich der Presse bedienen kann, können wir das schon lange.

Meinst du nicht auch? Ist es nicht an der Zeit, dass wir unsere Version der Geschichte erzählen?«

Es war der Tag nach ihrer Freilassung. Sie waren bei einem von Franks Freunden, denn sie durften den Bundesstaat Minnesota nicht verlassen, bis alle Klagen aufgehoben waren. Sie hatte Kopfweh, ihr Magen rebellierte. Als sie sich im Zimmer umsah, schien in ihrer näheren Umgebung alles zu verschwimmen und die Gestalt zu verändern, bis sie nichts mehr erkennen konnte. Sie dachte an ihre Mutter, die im Gefecht so wild und unbeugsam gewesen war, dass die Türken geschworen hatten, sie, sollte sie ihnen je in die Hände fallen, zwischen zwei Pferde zu binden und auseinanderreißen zu lassen. Das wünschte sie sich jetzt: zwei Pferde, die sie auseinanderrissen. Es wäre eine Freude im Vergleich zu einer Begegnung mit der Presse.

»Es soll keine Pressekonferenz werden, nur ein Interview. Und zwar hier. Hier in diesem Zimmer. Mit nur einer Reporterin, einer Frau. Was sagst du dazu?« Sie blickte an ihm vorbei in die Tiefe des Zimmers, Palmwedel hoben sich vor dem Licht der Lampen ab wie die Finger einer riesigen, zugreifenden Hand, und das Muster des Perserteppichs dehnte sich mal aus, mal zog es sich zusammen. Sie war so erschöpft, dass sie ihre Antwort kaum im Kopf zu formulieren, geschweige denn auszusprechen vermochte.

Die Anwälte - kampfesmüde und nicht mehr ganz so präsentabel - beugten sich vor. Frank schwieg. »Nein«, hauchte sie.

Frank hatte neben ihr gesessen, hatte ihr sanft und fürsorglich über den Unterarm gestrichen, doch jetzt sprang er auf und begann, auf dem Teppich hin und her zu gehen. Das Licht der Deckenlampe ergoss sich über seine Stirn und sickerte in seine Augen, so dass sie selbst wie Lampen waren, strahlend, glühend. Er war unnachgiebig.

Er war wütend. Und sie wusste, was jetzt kommen würde, wusste, dass er versuchen würde, sie herumzukriegen. »Aber all der Unflat und die Lügen, die Miriam verbreitet hat -«

Diesmal bestimmter: »Nein.«

»Doch«, sagte Frank. »Du musst es tun.«

»Nein.«

»Doch«, wiederholte er. »Unbedingt.«

Und so erlebte sie ihre dritte schlaflose Nacht, diesmal in einem Bett von der Größe eines Tennisplatzes und mit einem Berg von Kissen, Fliederduft und Blick auf eine ruhige, mondbeschienene Straße. Sie spielte immer wieder durch, was sie sagen würde, wie sie ihren Standpunkt erklären würde, ihre Familiengeschichte, ihre lauteren Motive, ihre heilige Liebe zu Frank und ihren Kindern und nicht zuletzt zu Taliesin. Dass ihr unrecht getan worden sei. Dass eine rachsüchtige und womöglich psychisch labile Frau auf Schritt und Tritt ein falsches Bild von ihr vermittelt habe. Alles Reine ins Gegenteil verkehrt habe, so dass das Gute böse erschien, die Liebe erniedrigt wurde, der Neid dagegen erhaben wirkte und so weiter. Die ganze Nacht hielt sie lautlose Reden, die Worte pochten ihr unaufhörlich im Schädel, und ihre Augen wollten nicht zugehen, bis irgendwann das Licht durch die Fenster hämmerte, und sie murmelte immer noch lautlos vor sich hin, während sie allein auf ihrem Zimmer frühstückte, Toilette machte und sich langsam und matt erst die Haare kämmte, dann eine einfache Jettperlenkette auswählte, schließlich ein geradezu strenges Kleid und solide, respektable Schuhe anzog, Schuhe vom letzten Jahr, die alles, was sie zu sagen hatte, bestätigen und unterstreichen würden. Sie würde alles richtigstellen. Sich verteidigen. Sich jeder hochtrabenden Formulierung und bewegenden Gefühlsäußerung bedienen, die ihr zur Verfügung stand. Sie war kein niedriger Mensch. Sie stand über ihnen, über ihnen allen.

Doch als sie in das Zimmer trat und sah, wie die Frau mit ihrem verkniffenen Gesicht und ihren lackierten Fingernägeln aufstand, Stift und Block wie einen Panzer an die Brust gedrückt, da brachte sie nichts anderes heraus als: »Könnten Sie bitte - schreiben Sie bitte, dass ich keine Tänzerin bin?«