Kapitel 3
WIE ES SO BRENNT
Frank schloss Svetlana ins Herz, als wäre sie sein eigenes Kind, und im ersten Monat des neuen Jahres schien es Olgivanna, als bemühte er sich geradezu, das Mädchen zu verziehen - endlose Ausflüge in den Zoo, Konzerte, Schlittschuhpartien auf dem Michigansee, Frankfurter Würstchen, Popcornkugeln, kandierte Äpfel am Spieß -, aber das war ja gerade Teil seines Charmes. Er machte keine halben Sachen. Er lebte leidenschaftlich gern, er war in sie und in ihre Tochter verliebt, er war aufrichtig und unbefangen - allerdings schien es ihn zu irritieren, dass man Svetlana natürlich für seine Enkelin hielt, wenn sie zusammen unterwegs waren. Er sei kein Großvater, protestierte er (dabei war er es sehr wohl - sein Sohn John hatte eine drei- oder vierjährige Tochter, das wusste Olgivanna), doch selbst wenn er in einer Illusion lebte, wenn er beglückt neben ihr herstolzierte wie ein jugendlicher Liebhaber, warum sollte man es ihm verwehren? Svetlana hätte durchaus seine Tochter sein können - hätte es sein sollen, eine bezaubernde, langgliedrige Schönheit von sieben Jahren, die viel mehr von ihrer Mutter als von Vlademar hatte und es genoss, derart umsorgt und verwöhnt zu werden, sich huckepack von ihm tragen zu lassen oder neben ihn auf den Klavierstuhl zu klettern, auf die Tasten zu hämmern und mit ihm zusammen »Shine On, Harvest Moon« oder »Sweeter Than Sugar« zu singen, ihre Stimme piepsig und zaghaft, während sein sanfter Tenor unbeirrt die Melodie hielt.
Es war Olgivanna klar, dass er sich um eine Rolle bewarb - Daddy Frank, so nannte ihre Tochter ihn, er musste nur ins Zimmer treten, da sprang sie gleich auf, warf sich in seine Arme und rief: »Daddy Frank! Daddy Frank!« -, und sie wusste das zu würdigen, dieses Ungestüm seiner Hingabe und seines Verlangens. Er war eine Naturgewalt, genau das war er, eine Lawine der Bedürfnisse und Emotionen, die alles mit sich riss. Und auch sie war verliebt, war verrückt nach ihm, nach dem Vergnügen, das er an ihr hatte, dem Vergnügen, das er ihr schenkte (Vlademar war nichts im Vergleich zu ihm, gar nichts, ein Weichling, so anziehend wie ein Spüllappen, und sie würde zeit ihres Lebens verkünden, sie habe, bis sie Frank kennenlernte, nicht gewusst, was Liebe wirklich sei - der körperliche Akt, die Vereinigung zweier Körper über das Verschmelzen der Seelen hinaus.) Außerdem war sie auf der Suche nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, nach einem Sinn, einem Modus vivendi, ja, aber ebenso nach Schutz und Geborgenheit, und er bot ihr ein Paar breite Schultern, als sie diese am dringendsten brauchte: Ihre Ersparnisse schmolzen dahin, ihr Mann tat wenig, um dem abzuhelfen, und es war ihr unangenehm, in Abhängigkeit von anderen zu leben, nur ein Gast in jener überfüllten Wohnung in Chicago, bei Leuten, die sie von Anfang an nicht sonderlich gemocht hatte. Als er sie also einlud, noch einmal nach Taliesin zu kommen, aber diesmal mit ihrer Tochter und nicht nur für ein Wochenende, sondern um dort einzuziehen, Teil des Lebens von Taliesin zu werden, Teil seines Lebens, zögerte sie keine Sekunde.
Diesmal kannte sie die Strecke schon. Zwar erschien ihr die Landschaft trostloser als zu Weihnachten, als noch das tristeste Farmhaus durch einen Kranz an der Tür oder eine Kerze im Fenster belebt worden war, doch dafür war diesmal Svetlana dabei und leistete ihr Gesellschaft. Sie aßen ihre belegten Brote, Milch für ihre Tochter, Kaffee für sie, und Svetlana plapperte mit ihrem Teddy (»Iss dein Brot, Teddy; pack deine Sachen, wir verreisen!«) oder saß konzentriert über ein Malbuch und einen Kasten Buntstifte gebeugt, die Frank ihr geschenkt hatte. Ihr ganzes Hab und Gut steckte in einem einzigen Überseekoffer, der im Gepäckwagen irgendwo hinter ihnen stand (es war nicht viel - ein paar Kleider, Bücher, Briefe, zwei Porzellanpuppen, ohne die Svetlana offenbar nicht leben konnte -, denn sie hatten die ganze Zeit unter Georgeis Regime gelebt, und Georgei predigte Askese*).
* Milde ausgedrückt. Üblicherweise gestand er seinen Anhängern nicht mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht zu, und die verbleibenden zwanzig Stunden verbrachten sie im Dienst ihres Meisters, in einer festen Abfolge von harter körperlicher Arbeit, »heiligen Tänzen« sowie spirituellen und psychologischen Übungen, die sie aus dem »Tod im Leben«, dem Zustand des verschlossenen Bewusstseins, erwecken sollten. Man hätte das durchaus Sklavenarbeit nennen können, doch letztlich unterschied es sich kaum von dem, was Wrieto-San von seinen Schülern erwartete, auch wenn wir im Schnitt ein, zwei Stunden länger schliefen. Außerdem tanzten wir nicht. Zumindest mussten wir es nicht.
»Wie ist es denn da, Mama?« fragte Svetlana alle paar Minuten, und dann versuchte Olgivanna, sich Taliesin in Erinnerung zu rufen - es war nicht das château in Fontainebleau; es war ein weitläufiger, im Präriestil erbauter steinerner Bungalow am Rande von Spring Green, Wisconsin, und was Kultur und Unterhaltung betraf, so würden sie dort auf sich selbst gestellt sein. »Es wird dir gefallen«, sagte sie. »Bestimmt. Es ist wie - ich weiß nicht -, wie ein Schloss, nur ohne Türme und Zinnen.«
Die Buntstifte flogen über das Papier, gutes, festes Zeichenpapier, das nicht so leicht zerriss. Svetlana malte erst fertig, was sie angefangen hatte - Rot für den Schornstein des abgepausten Hauses, Schwarz für den Rauch -, dann sah sie auf.
»Was sind denn Zinnen?«
»So was wie oben auf dem Turm von Rapunzel.«
»Oder wie in Frankreich.«
»Genau, wie in Frankreich. Aber dieses Haus - Daddy Franks Haus - hat weder Türmchen noch Zinnen.«
»Was hat es denn dann?«
Sie wollte sagen, dass es Seele hatte, Charakter, Atmosphäre, Schönheit, dass es eines jener Häuser war, in denen man sich schon wohl fühlte, wenn man einfach nur drinnen war und hinausblickte, doch statt dessen sagte sie: »Es hat einen See.«
»Zum Schlittschuhlaufen?«
»Ja. Und im Sommer« - sie versuchte es sich vorzustellen, die Felder zum Leben erwacht, die Stalltüren weit offen, das Vieh auf der Weide, Glühwürmchen in der Nacht, darüber die Sternbilder, an den Dachsparren des Himmels aufgehängt - »können wir schwimmen. Und mit dem Boot rausfahren. Und angeln.«
»Gibt es da auch Enten?«
»Bestimmt. Und Gänse.« Sie mutmaßte jetzt, eilte sich selbst voraus, während der Zug durch den klirrenden Frost über der offenen, weiten Landschaft rollte, fünfundzwanzig, dreißig Grad unter Null, die Flüsse wie Stein, die Bäume unter Schock, kein Lebewesen, das sich in dieser lieblosen Weite regte. »Und Schwäne. Schwäne, die ganz dicht herangeschwommen kommen und dir Mais aus der Hand fressen. Erinnerst du dich noch an die Schwäne in Fontainebleau, diese schwarzen?«
Jetzt hörte Svetlana auf zu zeichnen, zwei Buntstifte - der grüne und der braune - ragten wie Stacheln zwischen den Fingern ihrer Linken auf, während der rote über dem Schornstein des breiten Dachs schwebte, unter das sie die zwei Strichmännchen gezeichnet hatte, nur zwei: Mutter und Tochter in den gleichen dreieckigen Röcken.
Einen Moment lang blickte sie abwesend drein, vielleicht sah sie die beiden Schwäne, Lionel und Lisette - so hatten sie sie doch genannt, oder? -, vielleicht war sie auch einfach nur müde. Jedenfalls fragte sie: »Sind wir bald da?«
Frank und Kameki erwarteten sie auf dem Bahnsteig, Atemwölkchen vor dem Mund, den Hut tief in die Stirn gedrückt, den Kragen hochgeklappt. Sie stemmten sich gegen den Wind, suchten die Fenster des Zuges ab, der mit kreischenden Bremsen die Geschwindigkeit verlangsamte, dann drehte Kameki sich zur Seite, um sich mitgewölbten Händen eine Zigarette anzuzünden, und Frank setzte sich in Bewegung, seine stramm anliegende Reithose und glänzenden Stiefel vom Rand seines schweren Capes umflattert und umwogt. Er war direkt vor ihr, so nah, dass sie ihn hätte berühren können, doch aus irgendeinem Grunde sah er sie nicht, und der Zug glitt an ihm vorüber, um schließlich mit einem Ruck zum Stehen zu kommen. Svetlana konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie sprang auf den Sitz, hämmerte gegen das Fenster und rief immer wieder seinen Namen, bis er endlich aufblickte, sie entdeckte und seine Miene sich veränderte. Jetzt winkte Olgivanna, und ihr Herz schlug höher.
Doch irgend etwas stimmte nicht, das merkte sie schon beim Aussteigen. Frank war so forsch und energiegeladen wie immer und half mit gewohnt herzlichem, breitem Lächeln erst ihr, dann Svetlana aus dem Zug, doch zugleich wirkte er irgendwie distanziert. Er sah sie nicht an, jedenfalls nicht sofort, und das war seltsam. Statt dessen beugte er sich zu Svetlana hinunter, reichte ihr etwas, einen Lutscher, und fragte sie, ob sie eine schöne Reise gehabt hätten, doch Svetlana, die das Malbuch unter den einen, den Teddy unter den anderen Arm geklemmt hatte, war plötzlich schüchtern und flüsterte nur: »Ja.«
Ein scharfer Wind fegte über den Bahnsteig, trieb welke Blätter und Papier vor sich her, darüber der aufgewühlte Himmel, und Olgivanna hatte einen Moment lang Gelegenheit, die menschenleeren Straßen und verrammelten Häuser des Ortes - des Dorfs, des Weilers - auf sich wirken zu lassen, in dem sie die nähere Zukunft und vielleicht noch eine längere, weit längere Zeit verbringen würde, bis Frank sie schließlich doch ansah. Die Lokomotive ließ mit einem langen, bebenden Zischen Dampf ab, und Kameki eilte davon, um sich des Gepäcks anzunehmen. Und nun begrüßte Frank sie endlich, doch er umarmte sie nicht und küsste sie nicht, sondern drückte ihr nur fest die Hand, sein Handschuh an ihrem, als wäre sie eine Geschäftsfreundin oder entfernte Verwandte ... und nach wie vor hatte er nichts gesagt, kein Wort, weder Hallo noch Willkommen, noch Schön, dass du da bist.
Dann ließ er ihre Hand los und beugte sich mit einer raschen Bewegung vor. »Ich erkläre dir das später«, sagte er leise, und sein Atem wurde sogleich vom Wind davongetragen. »Es ist wegen der Nachbarn. Wegen der Presse. Wir dürfen kein Aufsehen erregen.«
»Daddy Frank«, rief Svetlana und zupfte an seinem Schal - sie hatte sich wieder gefangen, sich auf die Kälte, den Moment der Ankunft und den Ort eingestellt, den sie keines zweiten Blickes würdigte -, »können wir zu den Schwänen gehen?«
Er zuckte zusammen, als er den Kosenamen hörte - Daddy Frank, Daddy -, und sein Blick sprang von Svetlana zu ihr und wieder zurück. Der Qualm der Lokomotive wurde vom Wind verwirbelt und herübergetrieben, stechend, widerwärtig. Sie bekam etwas ins Auge und zwinkerte. »Schwäne?« wiederholte er. »Was für Schwäne?«
»Ich habe Svetlana gesagt« - sie betupfte sich mit einem Taschentuch das Auge -,
»dass wir uns die Schwäne auf dem See ansehen werden - und die Enten.«
»Ach so, ja, die Schwäne. Natürlich, Schätzchen, das machen wir. Aber erst im Sommer. Jetzt ist der See zugefroren. Das gefällt dir doch bestimmt?«
»Können wir Schlittschuh laufen gehen? Heute? Jetzt gleich?«
Aber Frank war abgelenkt - gerade stiegen zwei Männer im Mantel aus dem Zug, hinter ihnen eine Bohnenstange von einem Jungen, der sofort nach seinem Hut griff und ihn fester auf seinen Kopf drückte -, und er antwortete nicht. Seine Augen huschten immer wieder von Olgivanna zum hinteren Ende des Bahnsteigs, wo Kameki eben den Koffer in Empfang genommen hatte, der Gepäckträger die Tür zuschob und der Schaffner zweimal warnend pfiff, und nachdem er gesagt hatte: »Ja, ja, Svet, sicher, sobald wir richtig angekommen sind«, schlug er vor, im Auto zu warten, wo sie vor dem Wind geschützt sein würden.
Der Wagen* - lang und schnittig, mit Segeltuchverdeck; war der neu? Hatte er sie im Dezember in diesem Wagen abgeholt? - stand mit laufendem Motor am Straßenrand, Billy Weston am Steuer. Erst als sie drinnen saßen, die Tür hinter sich zugezogen hatten und Billy davongeeilt war, um Kameki mit dem Koffer zu helfen, kam die Umarmung, auf die sie gewartet hatte - und ein Kuss seiner kalten, kalten Lippen.
»Gott, wie schön, dich zu sehen, wie schön, dass du da bist - und du auch, Svet, es wird dir bestimmt hier gefallen -, aber du musst das verstehen, du weißt ja, wie die Leute hier sind, da wird nach Kräften getratscht, und die Reporter sitzen schon mit gespitzter Feder da ... du weißt, was ich durchgemacht habe -«
* Der Packard? Ich weiß, dass Wrieto-San 1929 eines dieser Automobile besaß, einen Tourenwagen, den er mit nach Arizona nahm, doch ich bin mir nicht sicher, um welches Modell es sich bei diesem Wagen handelte. Vielleicht war es ja auch der Cadillac, in dem er 1926 nach Minnesota geflohen war, um der Strafverfolgung wegen Verstoßes gegen den Mann Act zu entgehen. Wrieto-San wechselte seine Automobile jedenfalls so, wie andere Menschen ihre Socken wechseln.
Sie sagte nichts. Und sie konnte sich nicht vorstellen, was das alles sollte. Hatte sie ihn womöglich falsch verstanden? Nahm er gerade seine Einladung zurück? War all das Gerede von Liebe nur eine Phantasie gewesen? Sie wich seinem Blick aus und betupfte ihr Auge - ein Rußpartikel, ein Körnchen Kohlenstaub.
»Deshalb haben wir uns eine Geschichte ausgedacht, wobei mir das alles ja eigentlich völlig egal ist, du weißt, was ich von diesen Klatschweibern halte, die sich in alles einmischen, sich das Maul zerreißen und versuchen, das Leben anderer Menschen zu kontrollieren - also, was ich sagen will: für diese Leute bist du meine neue Haushälterin.«
Sie konnte sich einen bitteren Unterton nicht verkneifen. »Eine Serbin. Eine der vielen verarmten Immigrantinnen, meinst du wohl? Eine Putzfrau?«
»Nur bis deine Scheidung über die Bühne ist - und ich Miriam, na ja, offiziell verlassen kann.« Svetlana saß neben ihr und tat, als wäre sie taub. Sie schlug rhythmisch mit den Füßen gegen den Sitz, vor und zurück, vor und zurück, dann begann sie ein Muster in die Eisgardine am Fenster zu ritzen.
»Und dann«, sagte er, »dann heiraten wir, und die können sich alle zum Teufel scheren.«
Olgivanna hätte nicht sagen können, ob ihnen irgend jemand die Schwindelei abnahm.
Es waren immer Leute aus dem Dorf da, aus der näheren Umgebung und den umliegenden Ortschaften - aus Helena, Spring Green, Dodgeville, Arena, Arbeiter, Farmer, Frauen, die im Haushalt halfen -, und während die meisten von ihnen kaum ein Wort mit ihr persönlich redeten, hatten sie außer Hörweite zweifellos einiges zu sagen. Aber sie war die Haushälterin, das war die Sprachregelung, und wer das überpüfen wollte, konnte sie bei Wind und Wetter draußen finden, wo sie Holz für Herd und Kamin hackte, die Schweine fütterte, auf den gefrorenen Feldern das Areal abschritt, wo sie beim ersten Frühlingshauch den Gemüsegarten anlegen würde, sich mit den Gegebenheiten vertraut machte. Am Ende der ersten Woche hatte sie mehr oder weniger das Kommando übernommen, teilte den Haushaltshilfen ihre Arbeit zu und betätigte sich auch selbst in der Küche, sofern es ihr gelang, sich an Mrs. Taggertz vorbeizuschmuggeln, die jeglichem Übergriff auf ihre Domäne erbitterten Widerstand entgegensetzte - insbesondere, wenn er von einer Frau kam, deren Status Anlass zu Spekulationen gab, was immer der Hausherr über sie erzählen mochte.
»Und der Vater Ihres Kindes«, sagte Mrs. Taggertz etwa beiläufig über die Schulter, während sie auf dem Schneidebrett Fleisch klopfte, Kuchenteig ausrollte oder zur genüsslichen Bekräftigung ihrer Autorität ein Getöse mit ihren Töpfen und Pfannen veranstaltete, »wie hieß der noch mal?« Stille. »Er ist noch in Chicago, habe ich gehört?« »Ja«, antwortete Olgivanna in der Hoffnung, es dabei belassen zu können.
Aber Mrs. Taggertz wollte es nicht dabei belassen. Mrs. Taggertz war in Angriffsstimmung. »Und besteht irgendeine Hoffnung auf Versöhnung? Denn, also, so ein Kind braucht doch seinen Vater - besonders ein Mädchen, und besonders, wenn es in dieses gewisse Alter kommt, Sie wissen doch, was ich meine?« »Nein«, erwiderte sie, und plötzlich fiel ihr irgend etwas Dringendes ein, was im Garten oder am anderen Ende des Hauses erledigt werden musste. »Keine Hoffnung, nicht die allergeringste.«
Und dann, in fast entschuldigendem Ton: »Leider.«
Aber Frank liebte die Gerichte, die Olgivanna nach alten Rezepten zubereitete - nichts Extremes natürlich, aber mal etwas anderes, etwas mit Geschmack, wie er betonte - serbische Spezialitäten wie pasulj und prebanac (mit hausgemachter Wurst anstelle der Krakauer) oder das Nuss-Hefebrot, das alle in Begeisterung versetzte, und so musste sich Mrs. Taggertz zumindest gelegentlich zurücknehmen. Außerdem gab es fast jeden Abend Plätzchen, mit Melasse, Schokostreuseln, Dörrpflaumen und Rosinen, Pfeffernüsse nach einem Rezept, das Dione von ihrer Mutter hatte, und Nobu Tsuchiuras Bohnenkuchen.* Es war ein wunderbares Gefühl, warm und wohlig, abends, wenn Mrs. Taggertz nach Hause gegangen war, mit Dione, Sylvia Moser, Nobu und ihrer Tochter in dieser Küche zugange zu sein, ein Abenteuer - als wäre sie wieder mit ihren Schwestern vereint.
* Amanatto, aus (roten) Azukibohnen. Ich persönlich mag chitose am liebsten, aus süßen Bohnen hergestellte Teigtaschen mit rosafarbenem und weißem Zuckerguss, der für den Sonnenaufgang beziehungsweise den Schnee auf dem Fuji steht. Meine Mutter hat jedes Jahr zu Setsubun Unmengen dieser Teigtaschen zubereitet, auch noch, als wir in Washington lebten, und mein Bruder und ich durften uns damit den Bauch vollschlagen, bis wir nicht mehr konnten. Was schneller passierte, als man vermuten würde - Bohnenpaste ist erstaunlich sättigend, besonders wenn sie perfekt gesüßt worden ist.
Und obwohl Frank den größten Teil der Woche in Chicago verbrachte, um sein neues Büro zu leiten, oder mit dem Santa Fe California Limited nach Los Angeles fuhr, um an den Häusern, die er dort gebaut hatte*, Nachbesserungen vorzunehmen, bemerkte sie seine Abwesenheit weniger, als sie es erwartet hätte. Sie war beschäftigt. Ungemein beschäftigt. Auch wenn sie gar nicht die Haushälterin war, sondern mehr als das - die Hausherrin, Mrs. Wright in spe, Verwalterin des Projekts Taliesin -, so hätte sie es doch gut sein können, und es dauerte keinen Monat, bis Frank Mrs. Dunleavy gehen ließ, die breitschultrige Farmersfrau, die während des ganzen letzten Jahrs (ohne Entlohnung, wie sich herausstellte, oder vielmehr mit einer anfänglichen Zahlung und dem kurzlebigen Versprechen, weitere würden folgen) diese Funktion wahrgenommen hatte. Es gab immer etwas zu tun, und natürlich halfen alle mit, selbst Svetlana, denn hier war niemand nur zu Gast, und Frank hatte hundert Ausbesserungsmaßnahmen gleichzeitig zu erledigen, winters wie sommers, alles war im Fluss.
* La Miniatura, in einer Schlucht in Pasadena erbaut, war besonders problematisch. Was auch für die Flachdächer dieser vier einzigartigen, von der Maya-Kultur inspirierten und aus Betonblöcken konstruierten Häuser galt, allesamt architektonische Wunderwerke. Mit Lecks war zu rechnen gewesen - Wrieto-San beteuerte immer wieder, es liege allein am Klima, neun Monate dörrende Sonne, dann drei Monate Monsunregen -, doch er kümmerte sich persönlich um Dichtungsbleche für Mrs. Alice Millard, die Herrin von La Miniatura.
Ihre Scheidung wurde im zweiten Monat - im März - rechtskräftig, doch sie nahm es kaum wahr, weil sie sich einer neuen Ordnung unterworfen hatte und Vlademar ohnehin nur noch eine Erinnerung war, ein gebeugter, zu dünner kleiner Mann, der morgens nach seinen Socken rief, Wo sind meine Socken, und Bring mir einen Kaffee, Olgivanna, sonst sterbe ich. Er war Architekt. Er war in Chicago. Und sie würde Svetlana gemäß dem in den Scheidungspapieren festgelegten Besuchsrecht zu ihmbringen. Mehr nicht. Das war alles. Doch Frank war begeistert - »als nächstes kommt Miriam dran«, sagte er, »das Pendel muss noch einmal ausschwingen, dann sind wir beide frei«, und sie feierten die Neuigkeit mit einem gemeinsamen Abend, versammelten alle vor dem Kaminfeuer, während draußen der Wind in den Baumwipfeln heulte, tranken heißen Kakao und Kaffee, aßen Plätzchen und sangen, ums Klavier geschart, die alten Lieder, bis es spät war und Olgivanna sich bei ihm im Bett wiederfand, unter der Gänsedaunendecke an seine Schulter gekuschelt, während im Kamin die rotglühenden Kohlen leuchteten.
Der Frühling wehte in diesem Jahr schon früh aus dem Süden herauf, eine Reihe immer wärmerer Regengüsse spülte den Schnee weg und ließ früher, als er es je erlebt hatte, den Rhabarber austreiben - Rhabarberkuchen, gab es etwas Besseres? -, und es dauerte nicht lange, bis die Blumenbeete ein einziges Farbenmeer waren, die Obstbäume blühten und in den langen, nackten Furchen der Felder die Gerste spross.
Er strotzte vor Energie, von morgens bis abends, stand vor Tagesanbruch auf und saß schon vor dem Frühstück am Schreibtisch, überarbeitete die Entwürfe für den Wolkenkratzer der National Life Insurance Company und den Nakoma Country Club, schrieb einen Artikel pro Monat für Architectural Record und fand trotzdem noch die Zeit, die Bauarbeiten auf dem Anwesen zu überwachen, auf die Felder oder in den Garten zu gehen und mit der Mistgabel zu graben, bis ihm neue Ideen kamen und er wieder an seinen Schreibtisch hastete, so dass seine Schüler erschrocken von ihren Zeichentischen aufblickten, bis er ihnen einen Scherz zurief, und noch einen und noch einen. Er war von solchem Elan erfüllt - Ursache und Triebfeder war die liebe Olgivanna -, dass er immer wieder von seinem Stuhl aufspringen musste, um den Jungs zu zeigen, was er gemacht hatte, einen Blick auf ihre Zeichnungen zu werfen und vielleicht hier und da ein bisschen zu dozieren. Das Abendessen und die dabei geführten Gespräche waren eine wahre Wonne, ebenso die Sonntagabende, wenn sie sich alle feinmachten und im Wohnzimmer oder, an milden Abenden, unter den großen Doppeleichen im Hof zusammensaßen und musizierten oder einander aus Whitman, Thoreau oder Emerson vorlasen: Wer ein Mensch sein will, muss Nonkonformist sein.
Seit Jahren schon - länger, als er denken konnte - wälzte er einen großen Stein den Berg hinauf, einen Felsbrocken, der wie ein Schneeball mit jeder Umdrehung schwerer wurde und in den Miriams Gesicht eingeprägt, nein, eingemeißelt war, so dass es, jedesmal wenn er den Stein ein Stück weitergerollt hatte, wieder vor ihm erschien.
Miriam. Miriam mit ihren Krämpfen, Kopfschmerzen und Wutanfällen, die mit den Fäusten auf ihn losging, alles in Bewegung, ihre Perlenkette schlug ihr um den Hals, ihr protziger Ring blitzte wie eine Waffe, und sie kreischte und zeigte ihm die Zähne, als wollte sie ihn mit Haut und Haar verschlingen. Der Psychiater - wie hieß er noch gleich,
Dr. Hixon - hatte eine Affektstörung bei ihr diagnostiziert, was immer das bedeuten mochte, jedenfalls hatte ihm der Mann versichert, dass mit Gewalttätigkeiten zu rechnen sei. Im Moment herrschte Ruhe, aber wo immer sie gerade sein mochte, in Los Angeles, San Diego, Hollywood, er spürte, wie ihre Hitze aus dem Boden aufstieg, weißglühendem Magma gleich, das alles zu entzünden vermochte, und jedesmal wenn das Telefon läutete, wurde ihm flau im Magen. Er hatte nun schon seit Monaten - sechs oder sieben waren es mittlerweile - nichts mehr von ihr gehört. Und jetzt war Olgivanna hier - und Svet und Richard und Dione und Kameki -, und es ging wieder vorwärts in seinem Leben. Manchmal dachte er einen ganzen Tag lang nicht an Miriam, doch sie war immer da, lauerte tief in seinem Innern.
Und dann eines Abends Ende April läutete das Telefon - einmal nur, eher einkomisches, jäh unterbrochenes Summen als ein richtiges Läuten, was er auf einen Fehler in der Verdrahtung zurückführte, denn er hatte das Telefon im Schlafzimmer mit einem Summer in der Küche verbunden, eine einfache Vorrichtung, um einfache Wünsche zu vermitteln, so ähnlich wie im Hotel.* Sie hatten gerade ihr Abendessen beendet, Olgivanna, Svet und er - die anderen waren in die Stadt gefahren, bis auf Kameki und Mel, den neuen Fahrer** -, und da sich ein Gewitter zusammenbraute und er dachte, dass es ein Erlebnis sein würde, es über die Hügel näher kommen zu sehen, hatten sie in dem separaten kleinen Esszimmer oben am Hang gegessen. Die Köchin war nach Hause gegangen. Olgivanna hatte das Essen selbst aufgetragen, und es war, als wären sie eine ganz normale Familie, Vater, Mutter, Kind, zu einer ganz normalen Mahlzeit um den Tisch versammelt. Während sie aßen, frischte der Wind auf, und Zweige schlugen gegen die Fenster, doch sie fühlten sich sicher und geborgen - sollte der Sturm nur wüten, sie hatten es behaglich. »Siehst du, Svet«, sagte er, eine Gabel voll montenegrinischer Bohnen in der Hand, »das ist einer der Vorteile der organischen Architektur: durch die natürliche Linienführung und die Ausblicke in alle Richtungen ist man drinnen und draußen zugleich. In diesen Lebkuchenhäuschen in Chicago gibt es das nicht. Da würde man nicht mal bemerken, dass ein Gewitter aufzieht.«
* Mag er auch der bedeutendste Architekt der Welt gewesen sein - auf dem Gebiet der Elektrik war Wrieto San nicht sonderlich bewandert. Die Hälfte der elektrischen Leitungen in Taliesin war nur behelfsmäßig verlegt, und wir erlebten immer wieder, wie vor unseren Augen eine Birne in der Fassung verschmorte oder wie der Versuch, ein Radio oder eine Lampe an die Steckdose anzuschließen, mit einem scharfen Knall und dem Gestank durchgeschmorter Kabel endete.
** Nachname nicht ermittelbar. Mehr als seinen Vornamen hat niemand mehr von ihm in Erinnerung.
»Glaubst du, es blitzt? Ich habe Angst vor Blitzen.«
»Natürlich«, sagte er. »Es blitzt bestimmt. Aber du brauchst keine Angst zu haben.
Hier schlägt der Blitz nicht ein. Solange du drinnen bleibst, kann er dich nicht treffen.« Die Wolken wurden länglich, trieben in Fasern und Streifen mit dem Wind, und am Horizont zuckte der erste Blitz. Sie wandten alle drei den Kopf und sahen ihn am Himmel zerren.
»Und solange du dich vom See fernhältst«, warf Olgivanna ein. Sie war ganz in Blau gekleidet, trug ein Kostüm - Rock und gegürtete Jackenbluse -, das er selbst für sie entworfen hatte, schlicht und elegant zugleich. Und modisch außerdem. Er hatte etwas Ähnliches in einem Katalog - und an zahlreichen Frauen in Chicago - gesehen und sie damit überrascht, hatte das Schnittmuster bei einer Schneiderin abgegeben und das Paket dann im Zug mitgebracht. Olgivanna hatte Farbe bekommen - sie war den ganzen Nachmittag draußen gewesen, hatte den Küchengarten zum Pflanzen umgegraben, denn es würde dieses Jahr keinen Frost mehr geben, das hatte er ihr hoch und heilig versprochen, kein Frost mehr dieses Jahr -, und er sah, dass sie feine schwarze Ränder unter den Nägeln hatte und ihre Hände von der Arbeit hart geworden waren. Sie sah gesund aus. Zufrieden. Und schwanger. Im zweiten Monat.*
Das hatte sie ihm erst am Morgen gesagt - im Bett, bevor Svetlana aufgewacht war -, und er war noch ganz erfüllt von dieser Neuigkeit. Morgen, hatte er ihr gesagt, wenn alle da sind, morgen feiern wir.
* Man fragt sich, ob Wrieto-San je auch nur einen Augenblick nachdachte, bevor er etwas tat. Dass er erst die Geschichte von Olgivanna als seiner Haushälterin in die Welt setzte und sie dann fast umgehend schwängerte, spricht nicht gerade dafür.
Er war kurz ins Schlafzimmer gegangen, um etwas zu holen - das Buch, das er gerade las, seine Brille -, als das Telefon zu summen begann. Er nahm ab, doch die Leitung war tot. Verwirrt, ja leicht verärgert ging er in die Küche und musste feststellen, dass der Summer dort sich nicht mehr abschalten ließ, egal, wie oft er auf den Knopf drückte. Wo war bloß der Schraubenzieher? Er würde einen Schraubenzieherbrauchen, um das Ding von der Wand abzumontieren, und eine Zange außerdem.
Einen Moment lang stand er einfach nur da, während sich das Summen in seine Ohren bohrte, und sah sich unentschlossen nach einem Werkzeug um - irgend etwas, ein Buttermesser, die Kante einer Münze -, dann wühlte er in der Schublade und hatte gerade nach dem Messer gegriffen, als ein Windstoß gegen die Fensterscheibe fuhr, er aufblickte und sah, dass Rauch aus den Schlafzimmerfenstern quoll.
Rauch. Dunkle Zungen, die vom Wind zerfetzt und in den Hof getrieben wurden. Es war, als wäre die Lokomotive aus dem Bahnhof übers Land gedampft und hätte hier in seinem Schlafzimmer angehalten, während der Heizer unermüdlich weiter Kohle in das rotglühende Feuerloch schaufelte. Aber das war unmöglich, es war absurd, die Wahnvorstellung eines wirren Geistes - der Kamin, es muss der Kamin sein, dachte er, ja natürlich, ein Windstoß hat die Kaminklappe zugeschlagen, doch noch während er sich in Trab setzte, wusste er, dass kein Kaminfeuer brannte, denn es war den ganzen Tag warm gewesen, zu warm für die Jahreszeit, die Luft schon schwer von dem nahenden Gewitter, kein Grund also, gutes Eichenholz zu verschwenden, das gesägt, gespalten und gestapelt werden musste.*
* Von Schülern.
Als er das Schlafzimmer erreichte, loderten an der Wand hinter dem Bett die Flammen, die Vorhänge waren zum Leben erwacht, zuckende rote Bänder, und die Bettwäsche bäumte sich, um Feuer mit Feuer zu vereinen. Zwei Sekunden, nicht mehr, dann war er wieder im Korridor und schrie: »Feuer!«, und jetzt war Olgivanna da, kreidebleich, die Augen schreckgeweitet, und Kameki, der völlig aufgeregt in die falsche Richtung rannte. Ob der Schlauch im Hof wohl lang genug war? - Nein, nicht annähernd. In den Ställen standen Eimer, und nun war auch Mel da, sie bildeten eine Eimerkette im Korridor, um Wasser gegen die Wand zu kippen, das Zischen des Dampfes, der Gestank von Verbranntem, dann der nächste Eimer und der nächste, keine Zeit für den Wasserhahn oder die Verlängerung des Schlauches, sie tauchten die Eimer in den Gartenteich, wieder und wieder, durch den Korridor hin, durch den Korridor zurück, zum langgezogenen Zischen des Dampfes ...
Er dachte an nichts in diesen ersten Minuten, nicht an die Kunstschätze unten oder an das Schreckgespenst jenes ersten Feuers, das ihm das Herz aus der Brust gerissen und es hartgebrannt hatte, nicht an Olgivanna oder Svet - da war sie, mühte sich mit dem schweren Eimer ab, Daddy Frank, hier kam der nächste -, nicht an seine eigene Sicherheit oder sonst etwas auf dieser Welt, nur an die Flammen in den Vorhängen, an der Wand, auf dem Bett. Nachdem er den ersten Eimer geleert hatte, sprang er zu den Flügelfenstern, zog sie zu und verriegelte sie, während der Wind das Dach attackierte, über den Hügeln die Blitze zuckten und die Flammen die Wand hinaufkletterten. »Die Kaminklappe«, rief er Olgivanna zu, und schon war sie zur Stelle und knallte die Klappe unter heftigem Knirschen der Scharniere zu, so dass dem Feuer die Luft genommen wurde, bis schließlich beim zwanzigsten oder dreißigsten Eimer, er hatte den Überblick verloren, das Zischen etwas anders zu klingen begann, wie das ersterbende Wispern, wenn ein Lagerfeuer gelöscht wird, und die Flammen zurückgingen und in sich zusammenfielen.
»So«, rief er keuchend, sein Haar zerwühlt, die Hemdsärmel geschwärzt, die Hände von Verbrennungen gerötet, da er die Bettwäsche um die Flammen gefaltet und auf den Boden geworfen hatte, um darauf herumzutrampeln, »das war’s!« In diesem Moment kam Olgivanna hereingestürmt, einen Eimer in jeder Hand, und nach einem flüchtigen Blick auf ihn wuchtete sie erst den einen, dann den anderen Eimer hoch und kippte das Wasser auf die leblose schwarze Wand und das verkohlte Bettgestell, zwei weitere Eimer zur Sicherheit. Er streckte die Hand aus, um sie zu bremsen, während das Wasser die Wand hinab- und in die Ritzen zwischen den Dielen rann.
»Wir haben es geschafft, Olya, wir haben es geschafft«, sagte er. »Ich glaube, wir -«
Doch jetzt hörte er plötzlich ein neues Geräusch, ein Knistern oder Kratzen in der Zimmerdecke über dem Bett, als würde es die Latten da oben jucken oder als hätte sich ein Eichhörnchen einen Weg in den Dachstuhl genagt und wollte wieder hinaus. Hinter ihm drängten Svet, Mel und Kameki mit nicht mehr benötigten Eimern Wasser und suchendem Blick ins Zimmer, während der Wind über das Dach pfiff und an den Fensterscheiben rüttelte. Kameki, schwer atmend, in Hemdsärmeln und Hosenträgern, rief leise aus: »Was zum Teufel -?« Das Kratzen wurde lauter. Keiner rührte sich. Und dann hörten sie ein jähes, langgezogenes Fauchen, wie wenn das Gas im Backofen auf ein brennendes Streichholz reagiert, und er wusste, dass das Schlimmstmögliche eingetreten war: Das Feuer war in den toten Raum zwischen Zimmerdecke und Dach gelangt, und der Wind fachte es durch jede Ritze und Spalte an. »Das Dach!« war alles, was er herausbrachte, ehe er aus dem Haus stürzte, nach einer Leiter, mehr Wasser, der Feuerwehr rief - holt die Feuerwehr!
Der Wind hatte jetzt Orkanstärke, riss ihm die Tür aus der Hand und schleuderte ihm Staub ins Gesicht, während er durch den Hof preschte, um die Leiter aus der Garage zu holen. Mel und Kameki folgten ihm. »Nein«, brüllte er, »nein - Wasser! Holt Wasser!« Er hielt die Leiter in beiden Händen und rannte schon wieder, rannte immer noch, jetzt lehnte die Leiter am Dach, und er kletterte hinauf: Es war an einem halben Dutzend Stellen eingebrochen, die Zedernschindeln entflammbar wie Zunder - es war Zunder, zehn Jahre abgelagertes Holz, rindendünn geschnitten. Ein Alptraum: auf den Schindeln von einem Flammenherd zum nächsten zu springen, seine Schuhsohlen von der Gluthitze versengt, während die Wassereimer die Leiter hinauf- und hinuntergereicht wurden - lächerlich, sinnlos, genausogut hätte er Tränen in einen speienden Vulkan tropfen lassen können-, und schon nach wenigen Minuten stürzte mit lautem Krachen das Dach über dem Schlafzimmer ein, auf das der Zerstörung geweihte Bett, den unrettbar verlorenen Boden.
Über ihnen verfinsterte sich der Himmel zur Nacht, das Gewitter rückte näher, dem Wind auf den Fersen, und die Blitze tanzten über den Bäumen. Er kämpfte gegen die Flammen an, schlug sie hier zurück, während sie dort vom Wind erneut geschürt wurden, seine Augenbrauen waren dahin, die Schuhe versengt, die Socken schwelten, und obwohl jetzt Leute kamen, Nachbarn, die herbeiliefen, um zu helfen, zu gaffen, zu tratschen, musste er den Rückzug antreten, vom Wohnbereich des Hauses nach hinten zurückweichen, wo sich der Arbeitsbereich befand - sein Studio und die Zimmer für Schüler und Gäste -, und auch der würde dran glauben müssen, das sah er jetzt, keine Hoffnung, nicht die allergeringste. Die Flammen gewannen an Boden. Er bekam kaum Luft. Der Qualm wurde dichter, und das Feuer loderte, heißer als jedes Freudenfeuer am Unabhängigkeitstag, und es nährte sich von allem, was ihm kostbar war. »Kommen Sie runter!« rief jemand. »Es ist sinnlos. Kommen Sie runter!«
War es eine göttliche Heimsuchung? War es der Gott des Jesaja, der Schicksalsgott, der rächende Gott, der ihn erneut für seine Hybris strafte, für seine zu vollkommenen Schöpfungen, den Funken, der ihn selbst gottähnlich machte? Er wäre an diesen Überlegungen wohl kaum vorbeigekommen, wenn er Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, doch er hatte keine Zeit, jedenfalls nicht jetzt, erst als alles vorbei war, und da war er schon wieder einen Schritt weiter und schätzte sich glücklich. Denn genau in diesem Moment, nach zwanzig Minuten des Schreckens, das Haus ein Inferno und die Temperaturen so hoch, dass von den Fenstern nur noch kleine Lachen geschmolzener Kieselerde geblieben waren, seine Möbel und einzigartigen Kunstwerke zerstört, krachte ein Donnerschlag, der Wind drehte jäh, und Regen fiel wie göttlicheVergebung.
Die Ruine schwelte noch tagelang, und der Gestank von Verbranntem hing dünn in der Luft, ein säuerlicher Geruch, als wären tausend Fässer Essig in Flammen aufgegangen und nicht Herz und Seele des Hauses, das sie geliebt hatte, als hätte sie es selbst erbaut. Der Geruch quälte sie, wenn sie neben Frank in dem zu schmalen Bett in einem der Gästezimmer lag. Alles war jetzt dem neuen, vom Wiederaufbau geprägten Leben angepasst, die Nacht erdrückte sie mit ihrer undurchdringlichen Dunkelheit, die Decken beengten sie wie zu feste Bandagen, und sie schlief mit dem säuerlichen Gestank in der Nase ein und wachte im Morgengrauen wieder damit auf. Selbst der Geruch des Frühstücksspecks, der aus der provisorischen Küche herüberwehte, wurde davon überlagert, die umgegrabene Erde war versauert, die Blumen waren ruiniert. Ihr war morgens jetzt übel, mehr als damals bei Svetlana, doch sie zwang sich aufzustehen, in die Küche zu gehen und ihren Platz neben Mrs. Taggertz zu behaupten, um sicherzustellen, dass Frank sein Frühstück ins Studio gebracht bekam, denn es war wichtiger denn je, dass er bei Kräften blieb.
Sie sorgte sich um ihn - sie konnte nicht anders. An jenem ersten Tag, dem Tag nach dem Brand, war sie bei Tagesanbruch erwacht, und da war er schon fort gewesen.
Hatte er überhaupt geschlafen? Und was war mit seinen Verbrennungen? Sie mussten gereinigt, mit Salbe behandelt, neu verbunden werden. Sie zog ihren Morgenmantel über und ging hinaus - zu der Asche, dem Gestank und den Vögeln, die unbeirrt, ja überschwenglich sangen. Die Sonne hing wie eine goldene Oblate über dem Hügel, auf dem grünen, grünen Feld grasten die Kühe, und dort in der Ruine stand er mit einem Rechen, gebeugt und traurig, alles war noch heiß, und sie fragte ihn, ob er Hilfe brauche, Trost, was auch immer, doch er winkte sie fort. Später schaute sie aus dem Fenster und sah, dass er zusammen mit Billy Weston Keramik- und Bronzescherben einsammelte, die Überreste von Marmor, der zu weißem Gekrümel zerfallen war, kalziniert durch die gewaltige Hitze. Sie legten Dinge in einen Eimer, nutzlose Dinge - es war alles kaputt, sahen sie das denn nicht? -, und fast hätte sie etwas gesagt, sich eingemischt, doch sie hielt sich zurück.
Hitze stieg flirrend über den Trümmern auf. Sie bückten sich und gruben. Sie unterhielten sich nicht, sagten kein Wort, ihr Schweigen wie ein gemeinsamer Gedanke, bestimmt waren sie jetzt in der Vergangenheit, bei dem ersten Feuer, das alles zerstört hatte. Sie kannte die Geschichte nur in groben Zügen - Frank verstummte, sobald die Sprache darauf kam-, doch sie wusste, dass damals seine Geliebte ums Leben gekommen war, seine erste Geliebte, die Frau, für die er Taliesin erbaut hatte.* Und auch Billy hatte einen Verlust erlitten, auch Billy.
* Martha (Mamah) Borthwick Cheney, 1869-1914.
Am schlimmsten jedoch, schlimmer noch als die Schaulustigen, die mit verschränkten Armen dastanden und tratschten, als wäre diese Tragödie ihre Abendunterhaltung (»Hyänen« nannte Frank sie), war die Presse. Die Reporter waren beim ersten Tageslicht da und forderten lautstark eine Stellungnahme. Es interessierte sie nicht, dass Frank seelisch wie körperlich am Ende seiner Kräfte war, dass er gerade einen Verlust erlitten hatte, wie ihn zweifellos keiner von ihnen je hatte erleben müssen, oder dass er womöglich Zeit brauchte, um sich zu erholen. Sie interessierte bloß das Wann und Wo und Wie, und ob denn so etwas nicht schon einmal passiert sei und wie er sich fühle. Unter diesen Umständen. Mr. Wright! Mr. Wright! Könnten Sie eine Stellungnahme abgeben? Er wandte ihnen sein erschöpftes Gesicht zu, nur die Augen waren noch rege, und gab ihnen, was sie haben wollten, weil er eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens war, weil er berühmt war, weil er es tun musste. Er sagte ihnen, er sei froh, dass es keine Toten zu beklagen gebe, er bedauere es, dass die vom Feuer zerstörten großen Kunstwerke bei ihm so schlecht aufgehoben gewesen seien - Kunstwerke im Wert von einer halben Million, ganz recht, mindestens einer halben Million* -, und ja, er gedenke Taliesin wiederaufzubauen. Und dann führten Billy Weston und einige der anderen Arbeiter die Zeitungsleute vom Grundstück, damit sie um die Wette in die Stadt rasen und die Geschichten, die auf den vollgekritzelten Seiten ihrer Notizblöcke bereits Form annahmen, telegrafisch durchgeben konnten: WRIGHTS BUNGALOW ZERSTÖRT; FEUER IN TALIESIN; BRAND ZERSTÖRT LIEBESNEST VON FRANK L. WRIGHT.
* Eine ziemlich überhöhte Summe, würde ich meinen. Aber Wrieto-San schätzte den Wert seiner Sammlungen immer zu hoch ein - insbesondere den der japanischen Holzschnitte (ukiyo-e) -, damit er möglichst viel Geld dafür aufnehmen konnte, um das gewaltige Heer seiner Gläubiger zu beschwichtigen.
Ein Geringerer hätte sich geschlagen gegeben oder wäre zumindest in die Knie gegangen, aber nicht so Frank. Noch ehe die Asche abgekühlt war, zeichnete er schon wieder, arbeitete von morgens bis abends und noch in die Nacht hinein, maß ab, kolorierte, radierte, und so begann unter seiner Bleistiftspitze Taliesin III** Gestalt anzunehmen, während die geschwärzten Steinmauern sich vor dem Hügel abzeichneten wie die Ruine einer römischen Villa. Wenn er sich zum Abendessen an den Tisch setzte und mit seinem nackten Gesicht zu ihr aufblickte - die Augenbrauen waren weggesengt, die welligen Haare mit Pomade geglättet, um die Stellen zu verdecken, wo sie verbrannte Strähnen weggeschnitten hatte -, sah er aus wie ein chinesischer Weiser, und er hatte immer einen Scherz auf den Lippen. Immer einen Scherz. Er kasperte für Svetlana herum, sang a cappella »O, Susanna« und verkündete, dass er gern wieder ein Klavier hätte, nachdem das alte ja zu Asche geworden sei. »Oder wenigstens ein Banjo. Wie wäre es mit einem Banjo, Svet? Ist das ein Banjo, was ich da auf deinen Knien sehe?«
** Drei Geliebte, drei Taliesins. Man kann nur mutmaßen, wie sich Olgivanna angesichts dieser Nachfolge fühlte. Da sie eine Privatschulausbildung genossen hatte, muss sie von Heinrich VIII. gewusst haben.
Auch im Hinblick auf das Feuer wusste er mit ihr umzugehen. Ganz wunderbar sogar.
Weit besser, als Vlademar es vermocht hätte. Svetlana war ein empfindsames Kind, sehr erwachsen, sie machte sich ständig Gedanken um Sicherheit und Ordnung, versuchte den Dingen auf den Grund zu gehen, und für sie war das Feuer besonders schlimm gewesen, diese Zerstörungskraft, das Chaos, wo sie doch gerade angefangen hatte, sich einzugewöhnen und zu sich zu finden. Erst hatte man sie aus der gewohnten Umgebung in Fontainebleau gerissen, dann aus dem Haus ihres Onkels in New York, dann hatte sie Chicago und Vlademar verlassen müssen, und jetzt dies - ihre Kleider, ihre Bücher und ihre unverzichtbaren Porzellanpuppen ein für allemal dahin.
Frank war eines Nachmittags, keine Woche nach dem Brand, pfeifend zum Mittagessen gekommen, es war ein düsterer, drückender Tag, der Himmel wie aus Eisen,
Donnergrollen, die Wolken ringsum von Pfeilern aus Blitzen gestützt. Und dieser Geruch, dieser Geruch hing immer noch in der Luft. »Du bist offenbar guter Laune«, sagte Olgivanna und zog Svetlana einen Stuhl zurück, während die Köchin sich am Tisch zu schaffen machte.
»Aber klar doch«, sagte er, »klar«, und zog die Augenbrauen hoch, die langsam wieder nachwuchsen, weiß und borstig, »kommt denn irgendeine andere Laune in Frage? Hm, Svet? Was meinst du?«
»Es blitzt«, sagte sie mit dünnem Stimmchen. »Schon wieder.«
»Tja, das gehört nun mal zum Leben. Elektrizität. Ohne die hätten wir nachts kein Licht. Das wolltest du doch auch nicht, oder?« Sie reagierte nicht. Mrs. Taggertz stellte ihnen Teller mit Suppe und einen Laib frisch gebackenes Brot hin, sie waren nur zu dritt, die Arbeiter aßen auf dem Mäuerchen unter den Eichen, und die Neutras, Mosers und Tsuchiuras waren fort, vom Feuer vertrieben. Ein langgezogenes Donnergrollen trommelte auf die Hügel ein.
»Pass mal auf, Svet«, sagte Frank und legte den Löffel ab, um beidhändig mit dem Brotmesser an dem Laib herumzusäbeln, »du weißt doch, dass das Feuer nicht durch einen Blitz entstanden ist, sondern durch schlecht verlegte Leitungen. Und eine Portion Pech war wohl auch im Spiel.« Er reichte ihr eine dicke Scheibe Brot. »Aber ohne den Regen würden wir jetzt nicht so gemütlich und zufrieden hier sitzen, denn dann wäre das ganze Haus abgebrannt.«
»Ich weiß. Aber ohne den Wind ... « Sie machte eine vage Geste mit ihrem Löffel. »Sicher«, sagte er. »Sicher. Ich weiß, worauf du hinauswillst, Schätzchen, und es gibt darauf keine gute Antwort. Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Das Entscheidende ist, dass man sich nicht unterkriegen lässt.« Er hielt inne, um sich seiner Suppe zu widmen, doch er war noch nicht fertig. »Weißt du, deiner Mutter habe ich das schon gesagt - ich muss zugeben, dass auch ich mich durch dieses Feuer erniedrigt fühle. Manchmal kommt es einem wirklich so vor, als gäbe es irgendeine höhere Macht, die gegen einen würfelt - und damit meine ich Gott, den Gott der Bibel, den mit dem Manna in der einen Hand und dem Höllenfeuer in der anderen. Nimm zum Beispiel die Geschichte mit Maple.«
»Wer ist Maple?«
»Maple war eine reinrassige Holstein Maplecroft, die mehr wert war als hundert normale Kühe - wir hatten sie gekauft, um eine eigene Zucht zu beginnen. Eines Tages stand sie bei einem Gewitter genau wie diesem jetzt auf der Weide, zusammen mit zwei ganz normalen Milchkühen, die kaum mehr wert waren als ihr Fell und ihre Knochen. Ich saß mit einer Tasse Tee auf der Terrasse, um zuzugucken, wie das Gewitter näher kommt, und plötzlich hat es einen gewaltigen Stoß getan - zack! So schnell ging das«, er schnipste mit den Fingern, »und der Blitz hat da drüben auf dem Feld eingeschlagen.« Er deutete aus dem Fenster. »Und natürlich ist zehn Minuten später ein Arbeiter gekommen und hat mir atemlos erzählt, dass es eine der Kühe erwischt hat. Errätst du, welche?«
»Maple?«
»Genau, Schätzchen: Maple. Und ich sage dir - du kannst natürlich deine eigenen Schlüsse daraus ziehen, aber meiner lautet: Man muss den Nacken steif halten und arbeiten, arbeiten, bis man vor Müdigkeit nicht mehr kann, und man darf niemals, niemals zurückblicken.«*
* Ich weiß nicht, inwieweit diese Moralpredigt dazu geeignet war, ein kleines Mädchen zu beruhigen, das krankhafte Angst vor Blitzen hatte, aber sie ist durch eine verlässliche Quelle belegt - durch Svetlana selbst. Und ich habe Svetlana während meiner Zeit in Taliesin als ein vollkommen ausgeglichenes (und ganz bezauberndes) junges Mädchen erlebt. Allerdings brannte sie als Siebzehnjährige mit Wes Peters durch, was Wrieto-San sehr erzürnte.
Es war erstaunlich zu sehen, wie schnell das Skelett von Taliesin III hochgezogen wurde, eine ganze Mannschaft von Zimmerern, Steinmetzen und Arbeitern aus den umliegenden Dörfern war von morgens bis abends am Werk, schuftete, während die Tage länger wurden, mit vereinten Kräften, und Frank war immer unter ihnen. Er war unermüdlich, ging vollkommen in seiner Arbeit auf, und wenn er nicht gerade mit der Wasserwaage das Balkenwerk erklomm oder eine Schnur von einer Ecke zur anderen spannte, dann saß er am Schreibtisch und arbeitete die Baupläne aus, bombardierte potentielle Kunden wie alte Freunde mit Briefen und setzte seinen ganzen Charme, seine ganze Überzeugungskraft ein, um Aufträge (Honorarvorschuss dringend erbeten) oder schlichte Kredite zu ergattern. Die Versicherung werde einen Teil der Wiederaufbaukosten übernehmen, erklärte er Olgivanna, allerdings seien leider -tragischerweise - die Kunstwerke nicht mit abgedeckt gewesen, außerdem schwebe ihm ein weit stattlicheres Gebäude vor, als Taliesin I oder II es gewesen seien - dies sei seine Chance, ein Gebäude aus einem Guss zu schaffen, die architektonischen Mängel eines Bauwerks zu beseitigen, das je nach Bedarf erweitert worden war. Wo das Geld dazu herkommen sollte, sagte er nicht, aber von Geld, von bloßem Geld hatte er sich noch nie beeindrucken lassen. O nein.
Aus Mai wurde Juni, aus Juni Juli. Sie hatte kaum zugenommen - jedenfalls nicht sichtbar, außer für Frank, wenn sie zusammen im Bett lagen und er über die Wölbung ihres Bauches strich, als handelte es sich um eines seiner Projekte, das vermessen und mit seinen Blaupausen abgeglichen werden musste -, doch bald würde ihr Zustand für jeden sichtbar sein, der Augen im Kopf hatte. Wie zum Beispiel die Köchin. Oder die Handwerker. Oder deren eifrige Frauen. Sie unterhielten sich eines Abends darüber, während Frank sie im Licht der Lampe inspizierte, beide nackt und verschwitzt, er strahlend, sie noch mit seinem Geschmack auf ihren Lippen. »Wir müssen irgendwas unternehmen, bevor die Leute anfangen zu reden«, murmelte er.
Sie fuhr ihm mit dem Finger von der Nase über Lippen und Kinn bis auf die Brust.
»Und was genau«, sie war spielerisch aufgelegt, »schwebt dir da vor?«
»Miriam«, sagte er mit einer entschuldigenden Handbewegung.
Eine Weile sagte sie gar nichts. Allein der Name - Miriam - reichte aus, um die Stimmung zu ruinieren, die Süße dieses Augenblicks zunichte zu machen, und da war wieder dieser Geruch, ein Hauch von Verbranntem. Sie folgte dem Schatten seiner Hand, der sich über die Wand bewegte. Käfer knallten gegen die Fensterscheibe wie Gewehrkugeln. So wie jetzt mit ihr hatte er auch mit Miriam hier im Bett gelegen, hatte sich ihr geöffnet, ihr seine Liebe beteuert, ja geschworen, tausendmal geschworen. Und was war Miriam jetzt? Eine Fremde. Ein Störfaktor. Ein Name, ein bloßer Name. »Wie war sie?« fragte sie, und ihre Stimme blieb ihr fast in der Kehle stecken. »War sie schön?«
»Nein«, sagte er, »nicht im Vergleich zu dir. An dich kommt keine heran.«
»Aber sie war mal schön.«
Er zuckte die Achseln. »Hör zu, Olya, das tut überhaupt nichts zur Sache. Ich will einfach nicht, dass unser Kind unehelich geboren wird, das ist alles. Wir müssen so schnell wie möglich heiraten, das siehst du doch ein, oder? Bevor es sich herumspricht. Deine Scheidung ist vom Tisch, jetzt ist meine dran. Ich gehe morgen zum Anwalt, ja? Gleich morgen früh. Mal sehen, was passiert. Wenn sie noch nichts von dir weiß - von uns -, beißt sie vielleicht an, und dann sind wir sie los.« Er hielt inne, schaute zum Fenster, zu den Käfern dort - und was taten die? Sie paarten sich, vermutete sie, wie alle Geschöpfe dieser Erde. »Sie braucht bestimmt Geld, ich kenne sie doch. Wer weiß, vielleicht lässt sie ja mit sich reden.«
»Liebst du sie noch?«
»Ob ich sie liebe? Ich empfinde schon seit Jahren nichts mehr für sie. Sie ist seelisch gestört und gewalttätig. Besonders wenn etwas nicht nach ihrem Kopf geht. Wenn sie auch nur den geringsten Verdacht hätte ... dass du hier bist, meine ich ... «
Ihr fiel ein, dass er wegen der Zeitungsberichte über das Feuer zwar geschäumt hatte »So ein Schund, die reine Sensationslust, als wäre mein Leben nur dazu da, Mr. und Mrs. Schmutzkopf im Loop beim Frühstück zu unterhalten, >Liebesnest<, so ein Quatsch« -, zugleich aber triumphierend festgestellt hatte, dass nirgends von ihr die Rede war. Keiner wusste von ihr. Es war ihrer beider Geheimnis, Architekt lebt in Sünde mit schwangerer Montenegrinerin, und wenn sie dieses Geheimnis noch etwas länger wahren könnten, würde alles gut werden, das versprach er ihr. Sie hatte darüber noch gar nicht groß nachgedacht, jedenfalls nicht bis zu dem Feuer und dem Spektakel der Zeitungsleute. Alles war ihr so natürlich erschienen, so eng verbunden mit der Erde und dem Wechsel der Jahreszeiten, weit entfernt von der Stadt, dem Gesellschaftsleben und der stumpfsinnigen Etikette. Sie musste an Georgei denken. Es war nicht mehr als - wieviel? anderthalb Jahre? - her, dass sie mit seiner Truppe nach New York gekommen war. Damals hatte sie ganz in ihm gelebt, ihr eigenes Dasein war allein ihrem Meister und seinem Vierten Weg gewidmet gewesen, ihre Seele war emporgestiegen, und die Trommeln und Flöten hatten in einer geheimen Sprache zu ihr gesprochen, die ihre Glieder antrieb, während sie tanzte, ob auf der Bühne oder im engsten Kreis, zu einer Musik tanzte, die niemand anders hören konnte, die nur in ihrem - und Georgeis - Kopf und Herzen existierte. Wie fern das alles jetzt war. Georgei. Seine Präsenz, die Faszination, die er auf sein Publikum ausübte. Er trat aus den Kulissen hervor wie ein Prophet, drängte seine gebannten Zuhörer, den Schleier zu heben und das Universum als das zu sehen, was es wirklich war, er verblüffte sie mit seiner Musik und seinen hypnotischen Fähigkeiten, doch die wahre Sensation war der Augenblick, in dem die Tänzerinnen sich von der Rampe ins Publikum warfen. Es war eine Frage blinden Vertrauens. Sie wirbelten zu dem immer schneller werdenden Rhythmus herum, stürmten mit einem Mal zum Bühnenrand vor und sprangen blindlings in den Zuschauerraum - und nur ihr Vertrauen verhinderte, dass sie zu Schaden kamen, wenn sie ausgestreckt im Orchestergraben oder einer der vorderen Reihen landeten, inmitten der Herren in ihren feinen Anzügen und der Damen in ihren Abendkleidern. Einen solchen Sprung hatte sie jetzt wieder getan. Für Frank.
»Wir werden jedes Aufsehen vermeiden«, sagte er, »so wie schon die ganze Zeit. Und man sieht ja wirklich kaum etwas.« Er berührte ihre Wange. »Weißt du, was ich machen werde? Ich werde dir ein paar Kleider entwerfen, mit viel Stoff, Rüschen vielleicht - ich weiß, ich weiß -, aber irgend etwas eben, was deinen Zustand verbirgt. So lange wie möglich. Denn wenn sich das herumspricht ... «
Aber solche Dinge sprechen sich herum. Und zwar schnell, sie sickern durch, verbreiten sich so unaufhaltsam wie Wasser aus einem Leck in der Leitung, und als man es ihr anzusehen begann, als es sich nicht mehr verstecken ließ, als die Blätter sich verfärbten und von den Bäumen fielen und aus den tiefhängenden Wolken Graupelschauer auf die neuen Fenster und Dächer von Taliesin III niedergingen, da läutete wieder das Telefon. Sie saßen gerade vor dem Kamin, Svetlana, Frank und sie, und lasen einander vor, als der Apparat ein langgezogenes Plärren von sich gab und dann noch eins. Sie schaute zu Frank auf und sah, wie sich sein Blick verschloss und seine Mundpartie verhärtete: Er dachte das gleiche wie sie. Um diese Zeit hatte das Telefon schon lange nicht mehr geläutet - seit dem Sommer nicht mehr, als er die Scheidungsklage eingereicht hatte. Damals hatte es täglich geläutet, immer wieder, und eine Flut von Briefen war gekommen - sie hatte diese Briefe gesehen, adressiert in einer typischen Mädchenpensionats-Handschrift, aus der allerdings Hast und Verzweiflung sprachen, und erfüllt von beklemmenden Liebesschwüren, in eine Ikonologie von Sex und Tod gefasst. O mein galanter Ritter - durchgestrichen - einst galanter - wieder durchgestrichen - niemals galanter Ritter, der Du mich in Dein Bett geholt und dieses Bett in eine antike Barke verwandelt hast, die über das stürmische Meer des Eros fuhr, knapp an der Insel des Thanatos und der Halbinsel der Verzweiflung vorbei, wie konntest Du mich verraten? Mein Vertrauen, meine Hitze, mein Blut, mein Herz? Wie konntest Du? Wie konntest Du?
Beim dritten Läuten legte er das Buch beiseite und stand auf, um ans Telefon zu gehen. Sie sah zu, wie er in Zeitlupe über den Teppich schlich, wie er den Hörer von der Gabel nahm. Obwohl sie auf der anderen Seite des Zimmers saß, das Grammophon lief und das Feuer sich lautstark an einem Scheit zu grünen Holzes zu schaffen machte, konnte sie die schrille Stimme am anderen Ende der Leitung hören. »Miriam«, sagte Frank, »nein, Miriam, das stimmt nicht«, und dann musste er sich den Hörer vom Ohr weghalten.
»Du Lügner! Du Heuchler!« Die Stimme schwoll in einer Ekstase der Anklage und des Hasses an. »Haushälterin?! Haushälterin?! Wenn du meinst, dass das irgendwer glauben würde, Frank, du, du -« Die Stimme zitterte, und in dem Schimpfwort, das nun folgte, ballten sich Kummer, Eifersucht und Wut. Und dann ein Kreischen, so nackt und explosiv, als würde die Frau am anderen Ende der Leitung gerade in den Hals gestochen: »Du hast diese Lüge schon verbraucht. Bei mir. Ich war die Haushälterin, Frank, ich!«*
* Das stimmt. Genau den gleichen Vorwand hatte Wrieto-San schon zehn Jahre zuvor benutzt, um Miriams Anwesenheit im Haus zu erklären, ja, er war damals sogar so weit gegangen, einen Vertrag aufzusetzen, in dem ein Monatslohn von 60 Dollar festgesetzt wurde, doch die Sache war zu durchsichtig gewesen. Binnen weniger Tage hatten die Zeitungen den Architekten wegen seiner ständigen Missachtung der Konventionen angeprangert und Taliesin als »Sündennest«, »Liebesbungalow« und dergleichen mehr bezeichnet.