Kapitel 9
DIE ACHSE DER SELIGKEIT
Es regnete stark, als sie dem Mann, der ihre Koffer trug, vom Bahnhof zu dem gedrungenen, aus Holz gebauten Gasthof an der Hügelflanke folgte. Ihre Schuhe waren vom Laufen auf der ungepflasterten, mit tiefen Furchen versehenen Straße, die jetzt, im strömenden, rauschenden Regen, einem Bachbett glich, so gut wie ruiniert, aber das machte nichts. Sollten sie sie doch in die Aschengrube werfen - ihr war das gleichgültig. Sie wollte wie die Eingeborenen leben. Alles Weltliche abstreifen. Sich selbst eine Heimat sein. Und zum Teufel mit Frank. Sie konzentrierte sich auf den Rücken des Trägers, dessen Muskeln unter dem Gewicht der Koffer zuckten und sich anspannten. Das Wasser stömte von seinem Strohhut, der wie ein auf den Kopf gestellter Trichter aussah, und der Hügel wurde immer steiler. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und bemühte sich, die tieferen Pfützen zu vermeiden und nur an ein Bett und ein heißes Bad zu denken. Die Straße war menschenleer. Nichts regte sich. Nur der Regen.
Sie trat über eine Stufe in den Vorraum, klappte den Regenschirm zu und setzte sich auf die Kante einer Bambusbank, um ein Paar der Pantoffeln anzuziehen, die auf einem Regal aufgereiht waren. Es roch nach Holzkohlenglut und o-cha, dem säuerlich-bitteren Tee, den die Japaner literweise tranken. Miriam hatte einen Augenblick Ruhe, bevor eine alte Frau in einem Kimono und zwei sich verbeugende Dienstmädchen erschienen und sie begrüßten, wobei das dünne, starre Lächeln kaum ihr Erschrecken darüber verbarg, dass eine weiße Frau, eine gaijin, vollkommen durchnässt und ohne Begleitung, auf ihrer Schwelle gelandet war. Sie sprachen kein Englisch. Miriam stellte bald fest, dass niemand im ganzen Dorf Englisch sprach, doch sie hätte taubstumm sein können und trotzdem bekommen, was sie wollte. Sie unterlegte die wenigen Brocken Japanisch, die sie aufgeschnappt hatte, mit pantomimischen Gesten - Dözo, heya arimasuka, nemuri, yoku ?* -, zeigte der alten Frau ein Bündel Yen und fand sich innerhalb weniger Minuten in einem winzigen, spartanisch eingerichteten Raum wieder, wo sie sich das Haar mit einem Handtuch abtrocknete, während eines der Mädchen ihr Tee servierte.
* Wörtlich: »Bitte, haben Sie Zimmer, Schlaf, Bad?«
Natürlich war sie erschöpft, die Szene in der Wohnung spulte sich immer wieder vor ihrem geistigen Auge ab wie ein zu einer Endlosschleife montierter Film, doch ihre Pravaz beruhigte sie, und zum Essen, einem perfekt zubereiteten, aus zwölf Gängen bestehenden kaiseki - nach und nach konnte sie dieser Küche tatsächlich etwas abgewinnen, oder war sie bloß ausgehungert? -, trank sie Reiswein und ließ das Geräusch des Regens auf sich wirken. Nachdem das Dienstmädchen das Tablett abgeräumt hatte, begab sie sich in die kleine, aus Bambusholz gebaute Kabine vor dem Bad und schrubbte sich noch einmal ab. Dabei betrachtete sie sich in dem mannshohen Spiegel, strich mit beiden Händen langsam über ihre Brüste und zwischen den Beinen hindurch zum Gesäß, hob sogar erst den einen Fuß, dann den anderen, und fuhr mit dem Waschlappen langsam und genüsslich wie ein Schuhputzer über die Sohlen und zwischen die Zehen, und als sie durch die Tür in das mit Natursteinen geflieste Bad trat, fühlte sie sich so rein, so majestätisch wie die Kaiserin persönlich.
Zwei alte Männer und eine dritte Person, bei der es sich um eine Frau zu handeln schien, saßen im dampfenden Wasser. Nur ihre Köpfe und die knochigen, nassen Schultern waren zu sehen. Es gab Töpfe mit Blumen und Farnen. Papierlampions. Miriam erschauerte und fragte sich, ob es im kaiserlichen Palast ebenso kühl war wie auf diesen winterlich kalten Steinen. Dann ließ sie sich ins Wasser gleiten, wobei die alten Männer und die Frau betont die Blicke abwendeten. Es war himmlisch. Als sie die Augen wieder öffnete, war sie allein im Wasser, die Lampions verbreiteten ein schummriges Licht, und das Dienstmädchen hielt ihr den Morgenmantel hin und murmelte etwas auf japanisch, das so schön klang wie das Wispern der Kirschblüten im Wind. Und dann lag sie in ihrem Zimmer zugedeckt auf dem Futon, und der Regen trommelte mit tausend Fingern auf das Dach.
Es folgten Tage, in denen sie nur das Mädchen und die stummen, verschreckten Mitbenutzer des Bades sah, und ja, sie musterten sie mit verstohlenen Blicken aus den Augenwinkeln, wenn sie nackt über die Steine schritt. Sollten sie doch, sollten sie sie doch sehen, wie sie war - sie hatte nichts zu verbergen. Das Bad war ein Wunder. Sie lag stundenlang träumend im Wasser, bis ihr Körper sich so schlaff anfühlte, als hätte sich das Fleisch von den Knochen gelöst. Es regnete ununterbrochen, Tag und Nacht. Sie hielt ihre Pravaz griffbereit. Sie aß gebratenen Reis, gekochten Reis, Reis mit Lachs und Kabeljaurogen, udon-Nudeln und Tofu-Spießchen. Sie trank schwarzen Tee. Sake. Und schließlich eine Flasche guten Scotch Whisky, die das Mädchen ihr brachte. Gab es in dieser kleinen Stadt eine Apotheke? Es gab eine. Miriam schickte das Dienstmädchen mit einem leeren Fläschchen Morphinsulfat-Tabletten hin, und es kehrte mit einem vollen Fläschchen zurück.
Und wenn sie die Energie aufbrachte und den Wunsch danach wecken konnte, setzte sie sich an den niedrigen Mahagonitisch in ihrem Zimmer und schrieb auf dem dünnen, welligen Reispapier, das das Mädchen für sie auf die Truhe im Nebenraum gelegt hatte, Briefe an Frank. Es waren zornige Briefe, erfüllt von dem Ärger und Hass der Vergangenheit und Gegenwart - die Krynska, wie konnte er nur? -, doch zugleich auch sentimental. Sie schwangen sich auf den Flügeln der Poesie in den Himmel, um ihm die fordernde Kraft ihrer Liebe vor Augen zu führen, die heilige Verbindung, die zwischen ihnen bestand und die all seine Perfidie, seine Verdorbenheit, seine widerwärtige, ekelhafte Schürzenjägerei nicht zerstören konnte. Das Schreiben strengte sie an. Deprimierte sie. Der Regen fiel. Und das Dienstmädchen, dieses hübsche, perfekte, mit einem Kimono bekleidete, sich verbeugende Werkzeug ihres Willens, brachte die Briefe zum Postamt und schickte sie ab.
Innerhalb einer Woche war Franks Antwort da. Miriam kam aus dem Bad, und da lag der Brief auf dem Mahagonitisch neben einer Fingerschale und einer einzelnen Lilie in einer schlanken weißen Vase. Das erste, was sie bemerkte, war die Kunstfertigkeit, mit der er den Brief adressiert hatte: Er hatte keinen Stift, sondern einen Pinsel benutzt, und seine kanji waren so makellos und elegant wie die eines buddhistischen Meisters oder eines Shinto-Priesters. Das rührte sie. Sie stellte sich vor, wie er an seinem Zeichentisch saß, in der Hand seinen besten Pinsel, auf dem Gesicht einen Ausdruck äußerster Konzentration, wie er den Pinsel in das Gefäß mit dem Tintenstein tauchte und sein Genie einsetzte, um etwas Schönes zu erschaffen. Noch bevor sie den Brief las, die neun Seiten voller Entschuldigungen, Reuebekundungen und inständiger Bitten - er war im Unrecht, ein egoistischer, gedankenloser, gewissenloser Schwindler, der sich nahm, was er wollte, ohne an die Konsequenzen zu denken, doch vielleicht konnte sie ihm noch einmal vergeben, denn die Krynska bedeutete ihm nichts, und er hatte sie, das schwor er, nicht einmal geküsst -, flog ihr Herz ihm zu. Sie las den Brief ein zweites und drittes Mal, und jeder Nerv, jede Fiber erbebte in größter Hochachtung vor dem Edelmut dieses Mannes, vor seinem Anstand, seiner inneren Schönheit, seiner Wahrheit und Weisheit. Sie beantwortete den Brief sogleich, und was sie schrieb, war so tief empfunden und wahr, dass sie ebensogut eine Ader öffnen und mit ihrem Blut hätte schreiben können.Doch sie würde nicht zu ihm zurückkehren. Niemals. Oder jedenfalls erst, wenn er sieehrlich machte, erst an dem Tag, an dem er das Joch seiner vorherigen Verbindung mit seiner Pussy oder Kitty oder wie immer sie sich nannte abgeworfen und ihr vor Gott und den Menschen die Treue geschworen hatte, so dass keine Krynska oder Takako-San sie je wieder gefährden konnte. Das machte sie unmissverständlich klar. Ihr blieb nichts anderes übrig. Schon um ihrer geistigen und seelischen Gesundheit willen. Seine Antwort - noch mehr Entschuldigungen, Reuebekundungen und inständige Bitten - kam postwendend, und sobald Miriam sie gelesen hatte, klatschte sie in die Hände, ließ sich vom Dienstmädchen Feder, Papier und Sake bringen und schrieb ihm auf der Stelle zurück. Noch keine Stunde war vergangen, da war der Brief schon unterwegs zu ihm, und am nächsten Tag traf ein weiterer von ihm ein. Die Briefe überschnitten sich, sie griffen aus und nahmen einander vorweg, so dass Miriam und Frank im Verlauf der beiden nächsten Monate mit Hilfe der langsamen, aber verlässlichen japanischen Post ein fortlaufendes Gespräch führen konnten, wobei ihre Federn sich sogar mit den kleinsten Details ihrer Beziehung, ihrer Liebe, ihrer gegenseitigen Wertschätzung und ihrer Klagen befassten - mit seinem Schnarchen, seinen Essgewohnheiten, der Art, wie er an seinen Socken roch, bevor er sie in die Wäsche gab, seinem Kommandoton, seiner bäuerlichen Ungehobeltheit, und auch mit ihren Fehlern, obgleich diese natürlich im Vergleich zu seinen ganz geringfügig waren -, und so angeregt war dieses Gespräch, dass sich darin auch Platz fand für entspannte, freundschaftliche Schilderungen der Tätigkeiten, von denen sie in der Zeit ihrer Trennung in Anspruch genommen waren.
Selbstverständlich war sein Leben zum Bersten erfüllt mit Aktivitäten. Er war Tag und Nacht im Studio, verhandelte verbissen mit Hayashi-San und dem Baron über Änderungen und Kostenüberziehungen, kämpfte mit der Durchlässigkeit der oya Steine, die er vor der Stadt brechen ließ (er fürchtete, dass sie immer Wasser durchlassen würden, doch das Material war unvergleichlich schön), und kümmerte sich um seine Mutter. Ja, sie war bei ihm. Noch immer. Sie hatte die lange Reise durch die flachen Weiten und über die schroffen Berge des Westens sowie die zweiwöchige Überfahrt auf sich genommen, sie war an die Seite ihres (ehemals) kranken Sohnes geeilt, nur um sogleich Opfer desselben Leidens zu werden. Es war eine Schmierenkomödie, ganz eindeutig, und Miriam lag im reinigenden Wasser des Bades, erfüllt von der beseligenden Gelassenheit, die die Pravaz ihr schenkte, und lachte laut bei dem Gedanken an diese lange, dünne alte Dame - wie alt war sie eigentlich: achtzig? fünfundachtzig? -, die alle Japaner überragte wie eine Figur aus einer Kuriositätenschau und nun auf einem zu kurzen Futon lag und sich von Wasser und gekochtem Reis ernährte, bis sie sich nur noch wünschen konnte, sie wäre in Wisconsin geblieben, wohin sie gehörte.*
* Wrieto-Sans Mutter war einundachtzig, als sie nach Tokio kam, wo sie von allen, die sie kennenlernten, hoch geschätzt wurde. Im Gegensatz zu Amerika ist Japan ein Land, in dem man alte Menschen ehrt, weil sie viele Jahre hinter sich gebracht haben und man durch sie den Luxus unzeitgemäßer Gedanken genießen kann. Man betrachtet sie als lebende Kunstwerke, als Menschen und nicht als entleerte Hüllen, die man in ein Fegefeuer aus Pflegeheimen und Hospizen abschiebt.
Und sie? Sie schrieb ihm vom Geräusch, das der Regen machte, von der smaragdgrünen Schönheit der Bambushaine auf den Hügeln, wo die Halme standen wie Schlangen stummer Menschen, die auf etwas warteten, das nie kommen würde, und von den seltsamen, winzigen Vögeln, die sich darauf niederließen. Von ihren täglichen Ritualen, vom Lesen und Schreiben und der Wohltat des Badens. Von den kahlrasierten Mönchen in dem Tempel mit den aufgemalten Drachen und den eleganten torii und dass sie glaubte, die Geister mit dem ausgestreckten Finger ihrer Gedanken berühren zu können, wenn die heiligen Männer im Chor ihre Gebete sprachen und eingehüllt waren in den herben Geruch des Räucherwerks, der in bläulichen Wolken aufstieg. Sie schrieb ihm, sie sei in Einklang mit sich und der Welt, und erwähnte kein einziges Mal die Pravaz oder die Apotheke oder das fügsame Dienstmädchen, das auf ein Wort von ihr sein Leben für sie hingegeben hätte. Einzig seine Umarmung fehle ihr, schrieb sie. Das sei alles. Das würde ihr Leben vollkommen machen. Doch sie warte nicht mit angehaltenem Atem darauf. Und sie werde nicht zu ihm zurückkehren.
Zwei Monate. Eine Lücke im Kalender. Die Minuten vergingen langsam, die Stunden noch langsamer.
Ein Tag glich dem anderen, doch sie langweilte sich nie. Ihr Geist war erfüllt von der immerwährenden Ruhe und Gelassenheit der Heiligen, und sie lebte, als schwebte sie wie in einem Flugzeug oder Luftschiff über der Erde - oder nein, auf ihren eigenen weit ausgebreiteten Flügeln. Nur die Undurchdringlichkeit der Sprache bereitete ihr Schwierigkeiten, ihre Härte und Abruptheit, die so ganz anders war als das seidenweiche, spielerische Französisch. Und der Fisch, der ewige Fisch - trübe Augen, die sie täglich anstarrten, das bloßgelegte Fleisch wie eine offene Wunde, die Schwänze, die Lippen, die Flossen und Barteln. Und der Schlamm. Und der Regen.
Zwei Monate. Sie brauchte eine Veränderung.
Und daher setzte sie sich auf und war hellwach, als eines Abends nach ihrem Bad die leise zischenden Schritte des Dienstmädchens auf dem Holzboden des Vorraums zu hören waren, gefolgt von den schwereren Schritten eines Mannes. Und als die shoji mit einem sanften Klicken zur Seite glitt und er grinsend in der Türöffnung stand, war sie bereits aufgesprungen, lief bereits über die tatami zu ihm, und ihre Arme breiteten sich wie von selbst aus, um ihn an ihre Brust zu drücken. »Miriam«, sagte er, während das Mädchen wie der Schatten eines Vogels entschwand und sie in seine Arme sank, und ihr Blut wallte so heftig auf, dass sie fürchtete, in Ohnmacht zu fallen. Ach, sein Geruch! Seine Lippen an ihrem Hals! »Frank«, rief sie. »Ach, Frank, Frank, Frank.«
Fünf Tage waren sie dort zusammen. Sie zeigte ihm die Fußwege, die an der Hügelflanke entlangführten, den Tempel, die Geschäfte, die kleinen gelben Vögel und den komischen Mann im Tabakladen, der aus seinem kegelförmigen Hut ein exakt dreieckiges Stück herausgeschnitten hatte, damit er in den Himmel sehen konnte. In einem abgelegenen Laden, den nicht einmal die Kunsthändler in Tokio zu kennen schienen, entdeckte Frank eine Reihe von Farbholzschnitten und erstand nach ausgiebigem Feilschen über ein Dutzend seltener Exemplare, darunter auch mindestens eines, das er sogleich in den Pantheon seiner Favoriten erhob: Es handelte sich um einen sehr farbenfrohen, aus dem Jahr 1777 stammenden Shunshö, der den Schauspieler Ichikawa Danjurö V. in einer roten Robe darstellte. Als das Geld den Besitzer wechselte, wäre Frank am liebsten aufgesprungen, um jubilierend durch den Laden zu tanzen, doch sie hielt ihn davon ab, denn er musste vor dem Händler und seinen Kindern und allen anderen, die ihnen nachstarrten, als sie sich Arm in Arm und mit kleinen, hüpfenden Schritten entfernten, das Gesicht wahren.
Sie badeten gemeinsam. Sie saßen gemeinsam in ihren kurzen Kimonos vor dem Haus und sahen zu, wie die Sonne hinter den Hügeln versank. Sie aßen und lachten und walkten den Futon auf den tatami durch, als wären sie Flitterwöchner und lägen in einem knarzenden Himmelbett in einem Gasthof in Wisconsin. Und als sie – gemeinsam - nach Tokio aufbrachen, gab er ihr ein herrliches Versprechen, schöner und wertvoller als alle Farbholzschnitte der Welt: Nach all den Jahren hatte Kitty endlich den Widerstand aufgegeben, und sie würden heiraten.
So bald wie möglich.
Drei Jahre später, als sie sich im Schatten eines Avocadobaums am Ende des Gartens von Leoras kleiner spanischen Villa in Santa Monica Luft zufächelte, wartete sie noch immer. Frank hatte Wort gehalten, sie konnte ihm keine Vorwürfe machen - oder vielmehr doch, denn er hatte alle nur denkbaren Verzögerungen und Ausflüchte benutzt, bis sie dachte, sie würde unverheiratet sterben wie irgendein trauriges, sitzengelassenes gefallenes Mädchen in einem Rührstück. Immerhin war er jetzt frei, das jedenfalls hatte er erreicht. Die Scheidung war im November ausgesprochen worden, und nun musste nur noch die zwölfmonatige Wartezeit eingehalten werden, bevor er wieder heiraten durfte. Und die lief demnächst ab: In zweieinhalb Monaten würde sie Mrs. Frank Lloyd Wright sein.
»Was wirst du tragen? Bei der Hochzeit, meine ich?« Leora streifte die Asche ihrer Zigarette am Rand der Vase ab, die Miriam ihr aus Japan mitgebracht hatte, und ließ ihren Blick schweifen, als würden sie sich über den Zustand des Rasens oder die Farbe der Vorhänge im Gästehaus unterhalten. Sie trug ihren Badeanzug aus blauer Wolle mit dem gerüschten weißen Röckchen, hatte das nasse Haar mit einem Handtuch umwickelt, streckte die Beine aus und wackelte mit den Zehen, wobei sie ihre hübschen Füße und die frisch lackierten Zehennägel bewunderte. »Hast du nicht noch -?«
Miriam lachte auf. »Du lieber Himmel, nein! Das ist so lange her - ich war ja noch ein junges Mädchen. Ein Kind.« Sie lächelte bei dem Gedanken daran. »Nein, ich stelle mir eine kleine Zeremonie im engsten Kreis vor, etwas Unkonventionelles, Spirituelles - vielleicht um Mitternacht.«
»Um Mitternacht? Na, das wäre wirklich unkonventionell. Die Leute werden denken -« »Das ist es ja gerade: Wir geben nichts auf das, was die Leute denken. Und ich will keine Presse. Du weißt ja, wieviel Nerven uns die Zeitungen gekostet haben.«
Dazu hatte Leora nichts zu sagen. Sie ließ die Beine auf die hölzerne Fußstütze ihres Liegestuhls sinken und griff nach dem Drink auf dem Beistelltisch. Der Wind - eine Art kalifornischer Schirokko, so trocken wie Staub - wehte schaufelförmige Avocadoblätter über die Terrasse und in den Pool. Sie stieß einen Seufzer aus.
»Wenigstens brauchst du dir wegen seiner Mutter keine Sorgen zu machen.«
Wie ein auf den trüben Wellen des Wolf River schaukelndes Stück Treibholz erschien vor Miriams geistigem Auge das Bild des alten Drachen - Wagen Sie es nicht, mich mit meinem Vornamen anzureden: Für Sie bin ich Mrs. Wright, merken Sie sich das. »Ja«, sagte sie. »Man muss auch für Kleinigkeiten dankbar sein.«
Nun, da der Krieg gewonnen war, konnte sie natürlich darüber scherzen, auch wenn sie niemals respektlos über die Toten reden würde. Doch es hatte Zeiten gegeben, als diese Angelegenheit alles andere als witzig gewesen war. Miriam hatte das Leben in Taliesin schon immer grässlich gefunden, aber als Frank und sie endgültig aus Japan zurückgekehrt waren* und er darauf bestanden hatte, sie quer durch Amerika dorthin zu schleifen, wo er den Landadligen spielen konnte, hatte seine Mutter sich inzwischen als unumstrittene Herrin des Hauses etabliert, entschlossen, keinen Zentimeter zurückzuweichen. Von dem Augenblick ihrer Ankunft an hatte die Alte sich in alles eingemischt, Miriams Akzent, ihre affektierten Gewohnheiten und ihre Kleidung kritisiert und ihr aus purer Bosheit in allem widersprochen. Wenn Miriam sagte, sie wolle die Fenster öffnen, um frische Luft hereinzulassen, nagelte der alte Drachen sie praktisch zu. Wenn Miriam eine Bemerkung über das Essen machte - hatte hier noch nie jemand etwas von Salat gehört? -, bekam die Köchin Anweisung, den Kopfsalat gründlich zu kochen. Wenn Miriam Frank bat, mit ihr nach Chicago oder in ein Restaurant oder auch nur nach Spring Green zu fahren, wo man zusehen konnte, wie der Staub sich auf den Straßen setzte, bekam seine Mutter plötzlich Grippe oder ihr Ischiasleiden verschlimmerte sich, und wenn ihr Junge nicht da war, um sie zu bemitleiden, würde sie sich einfach hinlegen und sterben. Es war, als wären sie nie fort gewesen. Es war, als wäre es wieder das Jahr 1916.
* Sie waren im Juli 1922 abgereist und Mitte August in Taliesin eingetroffen.
Und Miriam würde sich das nicht bieten lassen, das sagte sie Frank ins Gesicht. Doch diesmal würde sie sich nicht in ihrem Zimmer verkriechen wie ein geprügelter Hund - o nein, sie hatte genug davon. Sie wies Billy Weston an, den Wagen vorzufahren und sie nach Spring Green zu bringen, wo sie in einem Hotel wohnen würde, bis Frank ihr eine Antwort auf die Frage überbrachte, die sie ihm schon vor langer Zeit gestellt hatte: »Sie oder ich?« Es war ihr gleichgültig, was das kostete - seine Brieftasche war ja ohnehin der einzige Punkt, an dem man ihn treffen konnte. Das Muttersöhnchen.
Den Schwafler. Aber bevor sie ging, als der Wagen schon mit laufendem Motor in der Auffahrt stand und Frank im Studio oder im Stall oder wo immer er gerade war die Hände rang, marschierte sie in das Zimmer der Alten, um ihr die Meinung zu sagen.
Es war Nachmittag, heißer als auf der Veranda des Teufels in der Unterwelt, und Miriam überraschte Anna und schreckte sie aus einem Nickerchen hoch, das sie im Sessel neben dem Bett hielt. Auf den Fenstern saßen Fliegen. Es roch nach Kampfer und Heilsalben. Pillenfläschchen drängten sich auf dem Tisch. Zwei Farbholzschnitte, Mitbringsel aus Japan, standen auf dem Schreibtisch. Annas Kopf fuhr hoch. »Verschwinden Sie«, knurrte sie mit einer Stimme, die tief aus der Kehle kam.
Miriam hielt sich nicht mit einer Einleitung auf, denn nun begann sie, die lang ersehnte Schlacht. »Sie wissen, dass Sie die letzte Chance Ihres Sohnes zerstören, glücklich zu werden, nicht?« sagte sie.
Anna machte eine scheuchende Handbewegung und versuchte, sich aus dem Sessel zu erheben, sank jedoch zurück. »Ich werde nicht mit Ihnen sprechen. Sie sind ein billiges Flittchen. Ein Luder.«
»Sie werden mit mir sprechen. Denn Frank wird mich heiraten, ob es Ihnen passt oder nicht.«
Ein bohrender Blick. Der Mund verkniffen, als wäre eine Schlinge zugezogen worden. »Nicht, solange ich lebe.«
Miriam stand vor der alten Frau, so erfüllt von Wut und Hass, dass sie sich nur mit Mühe beherrschen konnte. Am liebsten hätte sie Anna aus dem Sessel gezerrt und geschüttelt, wie ein Lumpenbündel. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinauf bis in den Nacken. Sie hatte das Gefühl, sie würde gleich in Ohnmacht fallen, doch sie kämpfte dagegen an. Sie musste es tun. Musste diese Angelegenheit ein für allemal entscheiden. »Dann werden Sie wohl sterben müssen«, sagte sie. »Frank und ich sind verlobt, haben Sie das verstanden? Wir sind verlobt und werden heiraten. Sobald die Scheidung ausgesprochen ist - noch am selben Tag, das verspreche ich Ihnen -, werde ich Mrs. Wright sein, und dann werde ich hier das Kommando haben. Und ich werde nicht zulassen, dass Sie oder irgend jemand anders sich mir in den Weg stellt.«
Das war noch nicht alles. Die alte Frau schrie wie am Spieß und mühte sich vergeblich aufzustehen, und weit und breit war niemand da, der sie hören oder ihr hätte helfen können, und Miriam machte sie mit der Wahrheit in all ihren unschönen Einzelheiten bekannt und zog dann ins Hotel. Frank pendelte zwischen den beiden Frauen hin und her, es war die größte Krise seines Lebens. Innerhalb eines Monats war Anna fort, und Miriam triumphierte und war endlich alleinige Herrin über Taliesin.*
* Aber wollte sie das wirklich sein? Was Wrieto-Sans Mutter betrifft, so verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand in jenem Herbst rapide. Sie starb im Februar des folgenden Jahres, als Wrieto-San und Miriam in Los Angeles waren, in einem Pflegeheim in Oconomowoc, Wisconsin. Den Zeitzeugen zufolge war ihr Sohn bei ihrer Beerdigung nicht anwesend.
Und nun, da sie in Leoras Garten unter dem Avocadobaum saß, während Frank den Bau seiner aus Betonblöcken konstruierten Häuser in Pasadena und Hollywood überwachte und Leoras Mann auf dem Golfplatz einen kleinen weißen Ball vor sich her schlug, gestattete sie sich, diese Tatsache in ihrer ganzen Tragweite zu betrachten.
Ihre Nemesis war tot. Und sie würde nichts Schlechtes über eine Tote sagen - sie würde nicht einmal etwas Schlechtes über sie denken. All das lag jetzt hinter ihr, ein Alptraum, der sich im Licht des Tages aufgelöst hatte. »Ja«, sagte sie schließlich, »wenigstens das. Ich spiele mit dem Gedanken, mein Kleid selbst zu entwerfen. Es sollte, ich weiß nicht, irgendwie künstlerisch sein, klassisch griechisch, ein schlichtes kleines Ding. Kein Satin. Crêpe de Chine vielleicht. Und nicht weiß. Weiß trägt man nur beim erstenmal.« Sie hielt inne und blickte hinauf in die sattgrünen Wipfel über ihr, wo die Blätter im Wind tanzten. »Vielleicht werde ich irgendwas in Maulwurfsbraun tragen. Oder in Perlrosé. Und natürlich meine Pelze.«
Leora stieß ein lautes Lachen aus und bedachte ihre Freundin mit jenem angedeuteten Lächeln, das sie für ironische oder andersgeartete Vertraulichkeiten reserviert hatte. »Amen«, sagte sie. »Draußen, nachts, in Wisconsin? Im November?«
Miriam fühlte sich unüberwindlich, im Frieden mit sich und Frank und dem Geist seiner toten Mutter. Die Sterne standen richtig. Alles war, wie es sein sollte. Sie durfte sich den Luxus der Vorfreude gönnen. »Ja«, sagte sie, erwiderte das Lächeln und fühlte sich beinahe beschwipst von der Freude, die in ihr aufstieg, »es ist ja nicht gerade Palm Beach.«
Später, nachdem sie einen leichten Imbiss eingenommen und im Pool herumgealbert hatten wie junge Mädchen, ließen sie sich vom chinesischen Hausdiener noch eine Runde Cocktails mixen und kehrten dann zu den Illustrierten zurück, in denen sie schon den ganzen Nachmittag geblättert hatten. Das Tor zur Auffahrt schwang auf, und Leoras Mann erschien, in Golfkleidung, auf dem Kopf eine gestärkte weiße Mütze, die Tasche mit den Golfschlägern über die Schulter gehängt. »Dwight!«: rief Miriam. »Komm, setz dich zu uns - wir wollten gerade einen Cocktail trinken.« »Ja, komm«, rief Leora. »Heute ist genau der richtige Tag für so was, findest du nicht auch?« Und aus irgendeinem Grund begannen sie beide zu kichern.
Miriam sah ihm zu, während er die Golftasche sorgfältig an den Zaun lehnte und mit lockeren, lässigen Schritten über den Rasen auf sie zukam, in der beschwichtigenden, leicht gebeugten Haltung, wie sehr große Männer sie oft hatten. Sie hatte Dwight immer gemocht. Er war unkompliziert, treu und freundlich, aber kein Waschlappen, und er behandelte Leora, als wäre sie die einzige Frau auf der Welt.
»Ich hab nichts dagegen«, sagte er und trat in den Schatten. »Heiß auf dem Golfplatz mit diesem höllischen Wind ... « Er stand, die Hände in die Seiten gestemmt, da und grinste auf sie herab, und wenn Miriam das Gefühl hatte, dass er den Ausschnitt ihres Badeanzugs betrachtete und ihre nackten Beine bewunderte - nun, um so besser. Er war wirklich ein reizender Mann. Der Frauen zu schätzen wusste.
Die Unterhaltung lief wie von allein leicht und amüsant dahin, eine Unterhaltung zwischen drei alten Freunden, die sich an einem Spätsommernachmittag unter einem Avocadobaum zusammengefunden hatten, auf einer Terrasse, von der man einen Blick auf die in der Sonne kupferrot leuchtende Santa Monica Bay hatte, und der Chinese brachte die Cocktails in ihren beschlagenen Gläsern auf einem Lacktablett, und Miriam spürte, dass ihre Stimmung sich noch ein wenig mehr hob. Sie waren beim zweiten Glas angelangt, als Dwight sich plötzlich zurücklehnte und mit der flachen Hand an die Stirn schlug. »Herrje«, sagte er und schnaufte unwillig, »jetzt hätte ich’s doch beinahe vergessen - habt ihr die Nachrichten gehört? Ich musste nämlich gleich an an dich und Frank denken, weil ihr doch dort drüben wart-«
»Nachrichten?« Leora lächelte so breit, dass sich ihre Lippen spannten. »Wie hätten wir die Nachrichten hören sollen« - sie kicherte abermals, tiefer und kehliger jetzt, da der Gin sein Werk tat -, »wenn wir uns doch den ganzen Tag praktisch nur zwischen Liegestuhl und Pool hin- und herbewegt haben?«
»Das Erdbeben. In Tokio. Im Clubhaus haben alle davon gesprochen.«
Miriams Lächeln erstarb. Während ihres ganzen Aufenthalts in Japan war Frank von Erdbeben geradezu besessen gewesen. Es hatte eines gegeben, als sie gerade in ihrer Suite gewesen waren, erschreckend in seiner Plötzlichkeit, als wäre ein Güterzug in Sekundenschnelle durch die Tür herein- und zum Fenster hinausgefahren. »War es ... ist es schlimm? Ich meine, weiß man schon, wieviel zerstört ist?«
Dwight wandte sich zu ihr. Der Wind ließ die steifen, ledrigen Blätter über ihnen rascheln. Seine Augen blickten für einen Moment ins Unbestimmte und richteten sich dann wieder auf sie. »Oh, ja«, sagte er, »ja, es soll ziemlich schlimm sein. Eingestürzte Häuser, Brände - alles, was dazugehört.«
»Und das Hotel? Haben sie irgendwas über das Hotel gesagt?«
Im nächsten Augenblick war sie aus dem Liegestuhl aufgesprungen und rannte barfuß in ihrem noch feuchten Badeanzug durch den Garten zum Haus, um Frank anzurufen.
Ihr Herz klopfte heftig, als sie im gedämpften Licht der stillen Eingangshalle stand und darauf wartete, dass die Verbindung hergestellt wurde. Sie rechnete mit dem Schlimmsten: das Imperial ein Trümmerhaufen, Franks Ruf zerstört, der Baron, die Ablomows und die Prinzessin Tscheremissinow obdachlos oder gar verletzt, tot ...
Endlich hörte sie Franks Stimme. »Hallo? Miriam, bist du das?«
Sie brauchte ihn nicht zu fragen, ob er es schon gehört hatte. Seine Stimme verriet es ihr. »Ja«, sagte sie, und eine große Ruhe kam über sie, denn sie würde ihm beistehen, ganz gleich, was geschah, sie würde zeigen, wer sie war, sie würde ihn gegen die ganze Welt in Schutz nehmen. »Ja, ich bin’s. Ich habe es gerade erst erfahren.«
Es knackte und rauschte in der Leitung. »Sie sagen« - seine Stimme wurde so leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte -, »dass es das stärkste Erdbeben war, das Japan je erlebt hat. Und Tokio hat es am schlimmsten erwischt.«*
* Ich ging damals in Washington zur Schule, aber meine Eltern waren nach Japan zurückgekehrt, daher erschütterte das große Kantö-Beben auch den Boden unter meinen Füßen. Die Telegrafenleitungen waren unterbrochen. Es gab zahllose Gerüchte. Ich glaube, ich habe eine Woche lang nicht geschlafen. Ich konnte nichts tun, ich fürchtete um meine geliebten Eltern und meine Landsleute. Die Zahl der Todesopfer wurde auf150 000 geschätzt, denn Brände hatten die Stadt zusätzlich verheert. Als schließlich ein Telegramm meines Vaters eintraf — ihre Wohnung und sie selbst waren unversehrt geblieben —, setzte ich mich wie im Traum an das Ufer des Potomac, schlug die Hände vor das Gesicht und weinte, ein lebendes Gefäß meiner Erleichterung.
»Und das Hotel?«
»Ich weiß es nicht.«
Sie hielt den Atem an. Der Telefonhörer erschien ihr unerhört schwer, sie musste ihren ganzen Willen zusammennehmen, um ihn ans Ohr zu drücken. »Das macht nichts«, sagte sie, und die Worte strömten so schnell durch ihren Kopf, dass sie sie kaum aussprechen konnte, »denn ich sehe es jetzt vor mir stehen, kein Fenster beschädigt, ein Zeugnis für deine Kunst, für dich, Frank, selbst wenn die ganze Stadt ringsum dem Erdboden gleichgemacht ist, und es ist mir gleichgültig, was sie sagen mögen, es ist mir egal -«
Zwölf endlose Tage lang waren sie im ungewissen.
Die Zeitungen waren voll davon, die Schlagzeilen verkündeten die Katastrophe, die Bluthunde von der Presse zerrten noch die letzten Einzelheiten aus den Trümmern hervor, doch nichts war gewiss, und bevor alle Tatsachen feststanden, konnte man niemandem glauben. Frank war so besorgt, dass er keine zwei Minuten stillsitzen konnte. Er ging stundenlang auf und ab. Verlor den Appetit. Vernachlässigte die Arbeit, drehte am Sendersuchknopf des Radios und blätterte in Zeitungen. Der grausamste Augenblick kam, als sie mitten in der Nacht vom Telefon geweckt wurden. Es war ein Reporter des Examiner, der Frank selbstzufrieden und voller Schadenfreude mitteilte, das Imperial sei zerstört, und wissen wollte, ob Frank sich dazu äußern wolle. Miriam tauchte zerschlagen, von Morphin umnebelt, aus den trüben Tiefen des Schlafs auf, umfangen vom dunklen Fluss ihrer Träume, und sagte: »Was? Was?« Sie hörte im Dunkeln seine vor Empörung verzerrte Stimme, die der Welt die Wahrheit entgegenschleuderte: »Wer hat das gesagt? Woher wollen Sie das wissen? Sind Sie auf einem fliegenden Teppich dorthin und wieder zurück geflogen? Nein, hören Sie: Das Kaiserliche Theater mag eingestürzt sein, das Kaiserliche Krankenhaus, die Kaiserliche
Universität und die tausend anderen Gebäude, die mit seinem Titel verbunden sind, aber wenn es in diesem ganzen zerstörten Land ein Bauwerk gibt, das noch steht, dann ist es mein Hotel. Das können Sie schreiben.«
Wie sie ihn dafür liebte - für seine Leidenschaft und Gewissheit. Wenn er mit dem Rücken zur Wand stand, kämpfte er wie ein Löwe. Sie lag da und lauschte dem sich verlangsamenden Rhythmus seines Atems, während er durch die Bewusstseinsschichten in Schlaf sank, ihr Mann, ihr Verlobter, ihr ureigenes persönliches Genie Frank Lloyd Wright, der Erschaffer des Hotels Imperial - mochte es zehntausend Jahre stehen. Und als sie selbst einschlief, hörte sie die Bauarbeiter über den aufgewühlten Ozean hinweg rufen: Wrieto-San, Wrieto-San, banzai!
Am Abend des 13. September traf endlich ein Telegramm ein. Es war vom Telegrafenamt in Spring Green an ihre Wohnung in Hollywood weitergeleitet worden, wo sie sich gerade zum Abendessen setzten. Franks Hand zitterte, als er den Umschlag aufriss. Und dann rötete sich sein Gesicht, und er las laut vor:
FOLGENDES TELEGRAMM HEUTE AUS TOKIO ÜBERMITTELT: HOTEL UNBESCHÄDIGT ALS DENKMAL IHRES GENIES. HUNDERTE OBDACHLOSE DANK PERFEKT FUNKTIONIERENDER INSTALLATIONEN VERSORGT. GEZEICHNET OKURA IMPEHO*
* Die Gelehrten streiten bis heute über die Echtheit dieses Telegramms. Viele von ihnen bezweifeln, dass es aus Tokio kam, und behaupten, Wrieto-San habe es selbst verfasst und dafür gesorgt, dass es von Spring Green an ihn geschickt wurde, damit er sich mit diesem Lob schmücken konnte. Sowohl O 'Flaherty-San als auch ich weisen diese Behauptungen zurück. Die in dem Telegramm zum Ausdruck gebrachten Gefühle sind jedenfalls authentisch. Der Beweis ist die Tatsache, dass das Hotel Imperial, als der Staub sich gesetzt hatte, stolz und unbeschädigt dastand, während der Rest von Tokio zerstört zu seinen Füßen - beziehungsweise seinen Grundmauern - lag.
Und jetzt mochte die Presse schreiben, soviel sie wollte. Jetzt konnten sie und Frank die Türen aufreißen und sich Arm in Arm den Fotografen präsentieren, und Frank konnte herumstolzieren und predigen, und sie stand nicht mehr im Schatten, sondern an seiner Seite und konnte der ganzen Welt von seinem Genie erzählen. Sie war so stolz auf ihn. Und er, der strahlte wie eine 100-Watt-Glühbirne und sein breitestes Lächeln lächelte, er war stolz auf sie.
Nach dem Presserummel und den internationalen Bekundungen von Dankbarkeit und Bewunderung, die Frank so hoch über seine Konkurrenten und Kritiker erhoben, dass er mit einem einzigen heldenhaften Schlag zum berühmtesten Architekten der Welt avancierte und niemand diesen Status auch nur im Flüsterton anzweifelte, vergingen die nächsten beiden Monate so schnell, dass Miriam später gar nicht wusste, wo sie geblieben waren. Mit jubelndem Herzen und tränenfeuchten Augen küsste sie Leora nach französischer Sitte auf beide Wangen, und dann kehrten Frank und sie nach Wisconsin zurück, um sich auf die Hochzeit vorzubereiten und abermals die Seele und den Körper zu reinigen. Sie war jetzt ein neuer Mensch, wie neugeboren, und wenn sie an den hohen Wohnzimmerfenstern stand und die langen Bahnen des einfallenden Lichts betrachtete, spürte sie, wie sie sich innerlich öffnete, wie sie höher und höher getragen wurde, bis sie ein leuchtendes Banner war, in einer Brise flatternd, die sie nie wieder frösteln machen konnte. Die Bäume warfen die Blätter ab. Es wurde bitter kalt.
Das Eis auf dem See war so dick, dass es alle Automobile und Traktoren des Countys hätte tragen können, und der Nachthimmel war so klar, dass man bis zu den Dachbalken des Universums sehen konnte, an denen die Sterne wie kühle weiße Fünkchen der Seligkeit aufgehängt waren. Ihrer Seligkeit. Ihrer und Franks Seligkeit.
Sie hätten sich auch in Los Angeles oder sogar Chicago trauen lassen können (ganz diskret, denn ob sie sich der Konvention beugten und er Miriam mit seinem Ring und einem Kuss legitimierte, als wären sie irgendwelche Durchschnittsbürger, ging niemanden etwas an), doch die Symbolkraft von Taliesin war übermächtig, und als er vorschlug, dort zu heiraten, erhob sie keine Einwände und zögerte keinen Augenblick. »Ja«, sagte sie, »es gibt keinen Ort, wo ich lieber wäre«, und diesmal meinte sie es wirklich so. Dort war sein Herz, dort waren sowohl seine Mutter als auch seine Geisterfrau Mamah begraben, das Gespenst, gegen das sie all die bislang unbelohnt gebliebenen Jahre an seiner Seite angekämpft hatte. Es war perfekt. Sie hätte es sich nicht anders gewünscht. Und wenn der Wind aus Kanada heranbrauste und die Schweine ihren Gestank verbreiteten und die Bauerntölpel stumpf in ihren Wohnzimmern saßen, während Miriam ihr Licht in schwärzester Nacht über den zugefrorenen Fluss leuchten ließ - nun, um so besser.
Doch jetzt war die Fragen zu klären, welche Schuhe sie tragen würde. Das Kleid. Die Blumen. Ein mitternächtliches Dinner. Die Torte. Sollte es überhaupt eine Torte geben? Hatte das einen Sinn? Wer sollte sie essen? Wenn es nach Frank ging, würde es Käsesandwiches und Cidre geben, doch sie wollte Champagner, Crêpes, Kaviar, und sie war nicht bereit, darüber zu diskutieren. Wenn er glaubte, sie würde ihn heiraten, ohne dass mit Champagner angestoßen wurde und auf den Tellern etwas lag, das zumindest Ähnlichkeit mit gehobener Küche hatte, dann war er verrückt.
Übergeschnappt. Anstaltsreif. Als der große Tag näher rückte, bemühte sie sich, ruhig zu bleiben, auch wenn sie am liebsten auf das Dienstmädchen, die Köchin, Billy Weston und jeden losgegangen wäre, der ihren Weg kreuzte, und sie merkte, dass auch Frank angespannt war. Mehr als einmal hörte sie seine wütende Stimme wie fernen Donner durch die höhlenartigen Räume hallen, doch ihr zuliebe beherrschte er sich - und sie beherrschte sich ihm zuliebe. Ja, tatsächlich gingen sie so zärtlich miteinander um wie in jener schicksalsschweren, herrlichen Woche nach ihrer ersten Begegnung, als sie die Verkörperung seines Ideals gewesen war und jede ihrer Bewegungen ihn verzaubert hatte - und diese Erkenntnis rührte sie so, dass sie sich die Tränen abtupfen musste.
Am Abend der Hochzeit zog sie sich zurück, badete, kleidete sich an und machte sich mit einer präzisen Sorgfalt zurecht, die sie durch diese ganze Prozedur trug, als wiederholte sie ihren Katechismus. Nein, sie brauchte weder die Hilfe des Mädchens noch ihre Pravaz. Sie war ruhig und entschlossen, sie ging ganz und gar im Augenblick auf. Auf ihren Lippen war das Gedicht, das sie für ihn auswendig gelernt hatte, in der besten Übersetzung, die sie zustande gebracht hatte. Es hatte auf der Schriftrolle gestanden, die in ihrem Zimmer in der grünen Festung der Hügel über der Ebene von Kantö gehangen hatte, als er gekommen war, um sie zu holen. Es stammte von einer Frau, die vor tausend Jahren am Hof der Kaiserin gelebt hatte, in einer Zeit, in der man sich sinnlichen Genüssen gewidmet hatte, der Schönheit, der Poesie, der Kunst und der Liebe, und sie würde es ihm dort schenken, in der Kälte der Nacht, wenn über ihnen die Sterne funkelten, der Richter seine uralten, überlieferten Sätze sprach und der Ring auf ihren Finger glitt.
Sie sagte es ein letztes Mal laut auf und genoss den Rhythmus und die schmerzliche Süße des Gefühls, von dem es sprach. »>Erinnerungen an eine lange Liebe / Türmen sich auf wie Schneewehen««, murmelte sie und betrachtete sich im Spiegel - noch immer schön, noch immer unverdorben, noch immer imstande, die höchsten Höhen der Liebe und der Erfüllung zu erreichen -, und dann senkte sie die Stimme zu einem Flüstern: »>Bewegend wie die Mandarinenten, / Die schlafend nebeneinander dahintreiben.<«
Sie blickte kurz in ihre Augen, blickte so tief in sich hinein, wie sie es wagte, und ging hinaus, um ihn zu heiraten.