Kapitel 3

JETZT KOMMT ANGST

 

Ob es Norma und ihrem kleinen Pinscher von einem Mann passte oder nicht, war vollkommen bedeutungslos: Sie würde zu Frank Lloyd Wright in die East Cedar Street 25 ziehen. Sollten die anderen doch an ihren verkniffenen, jämmerlichen, kleinbürgerlichen Vorstellungen von Schicklichkeit ersticken. Sie würde leben. Sich verwirklichen. Unter Riesen wandeln. Zufällig liebte sie ein Genie, das alles in den Schatten stellte, einen Wagnerianischen Helden, der alle anderen um mehr als Haupteslänge überragte, einen Tannhäuser, einen Siegfried - und er liebte sie, sie und keine andere -, und wenn sie dachten, sie würde sich mit irgendeinem armseligen kleinen Zimmer in irgendeiner grässlichen Wohnung zufriedengeben und, von ihrem Schwiegersohn nur geduldet, leben wie eine Karmeliterin, dann hatten sie sich gründlich getäuscht. Sie ließ die Taschen dorthin bringen, die Schrankkoffer, mit denen sie von Frankreich hierhergereist war, ihre Kleider, ihren Schmuck, ihre objets d’art, und Mitte Januar hatte sie sich eingerichtet und war wieder Herrin eines eigenen Hauses.

Es war wie ein Wunder. Als wäre sie wieder in den Flitterwochen und als wäre dieses kleine Haus das Schiff, das sie beide über den weiten Ozean zum Meer der Seligkeit tragen würde. Die Nächte waren erfüllt von beglückender Liebe, die Morgen waren sonnendurchflutet (oder jedenfalls fühlte es sich so an), und während er in seinem Studio war und mit seinen huschenden Handlangern Entwürfe zeichnete, beschäftigte sie sich damit, das Haus eine Spur gemütlicher zu machen - oder jedenfalls ein bisschen weniger nüchtern. Das war das Wort, das sie benutzte, als sie mit Leora telefonierte: »Er wirkt so nüchtern, beinahe puritanisch - als wäre ein weiches Kissen ein verbotener Luxus oder so.« Sie wählte Vorhänge für die Fenster sowie Kissen für das Sofa und die flachen, harten Stühle aus. Sie bestellte Tischwäsche und Briefpapier mit Franks und ihren ineinander verschlungenen Initialen und dem Wappen ihrer Familie. Porzellan, Besteck - und Teppiche, Herrgott, Teppiche. Und was seine Lieblingsgerichte anging: »Ich sage dir, Leora, ich gebe mir große Mühe, wirklich - wir haben schon zwei Köchinnen verschlissen -, aber das einzige, was er zu mögen scheint, ist so fade und in jeder Hinsicht so reizlos, dass ich mir nicht vorstellen kann, es könnte in Frankreich irgend jemandem einfallen, dieses Zeug an die Schweine zu verfüttern, nicht mal dem schmutzigsten Bauern mit einem Dialekt, der sich anhört, als hätte er ihn gerade erst erfunden. Nein, ganz im Ernst. Wirklich. Er muss umerzogen werden. Er braucht eine gute Dosis Kultur, etwas, das über seine Zeichnungen und seine Häuser hinausgeht, die wirklich exquisit sind, das will ich nicht bestreiten, ganz und gar nicht ... «

Gegen Ende der zweiten Woche, als auf die gnadenlose graue Kälte des Januar der unerbittliche arktische Wind folgte, mit dem der Februar Einzug in die trostlosen Schluchten von Chicago hielt, hatten sie ihren ersten Streit. Die Köchin hatte auf ihre Anweisung und unter ihrer Anleitung ein hervorragendes tartare de saumon avec sauce moutarde als Vorspeise bereitet, gefolgt von bisque de homard, salade d’endive sowie einem spektakulären flambé de ris de veau, und zum Lachs hatte sie ihnen einen überaus duftigen Sancerre eingeschenkt, zum Bries dagegen einen Margaux, den sie selbst beim Weinhändler bestellt hatte - es hatte sie übrigens erhebliche Mühe gekostet, in dieser kulinarischen Provinz einen ausfindig zu machen -, doch Frank war alles andere als beeindruckt gewesen. Um die Wahrheit zu sagen: Er hatte seinen Teller irgendwann beiseite geschoben, als wäre er etwas, das er auf der Straße gefunden hatte, und war wortlos in die Küche gegangen und gleich darauf mit einem Glas Wasser und einem Apfel zurückgekehrt. Unter ihren befremdeten Blicken hatte er den

Apfel geschält, zerteilt, Stück für Stück in den Mund gesteckt und schließlich mit dem Wasser hinuntergespült.

»Ich habe den ganzen Nachmittag in der Küche verbracht«, sagte sie leise und bemühte sich, jede Strenge aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Und Madeline hat sich die allergrößte Mühe gegeben.«

Er sah sie scharf an. »Sag Madeline, dass sie entlassen ist.«

»Entlassen? Aber wir haben sie gerade erst eingestellt. Und sie ist hervorragend, wirklich hervorragend - nun ja, aus Montreal, aber -«

»Muss ich mich wiederholen? Sie ist entlassen. Wenn dies das Beste ist, was du zustande bekommst, werde ich Nellie Breen aus Taliesin kommen lassen.« Er spießte mit dem Schälmesser eine Scheibe Bries auf und musterte das tropfende Stück. »In Paris mag das hier der letzte Schrei sein, aber bei uns isst man so was nicht. Diese Innereien -«

»Das ist Kalbsbries«, korrigierte sie ihn und spürte, dass ihr ganz heiß wurde. So eine Frechheit, so eine Beleidigung. Er war ein Bauer, ja, ein ungehobelter Bauer. »Du bist ein Bauer. Das ist das Problem. Weißt du eigentlich, wie unkultiviert du bist?«

»Und wir nehmen bei den Mahlzeiten keine alkoholischen Getränke zu uns.«

Mit einemmal war sie wütend, so wütend, dass sie kein Wort herausbrachte. Statt dessen lachte sie, ein bitteres, schneidendes, sarkastisches Lachen.

Er war aufgestanden, und jeder Zentimeter seiner eins siebenundsiebzig oder wie groß er auch sein mochte, war durchdrungen von Zorn. »Und das Rauchen«, knurrte er.

»Es ist, als würde man in einem Tabaklagerhaus leben, das jemand in Brand gesteckt hat. Es ist eine widerwärtige Angewohnheit. Passt ganz und gar nicht zu einer Dame.

Ich werde das nicht dulden.«

Und nun begann der Kampf, denn auch sie war aufgesprungen und zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. »Hinterwäldler!« rief sie. »Dorftrottel!«

Er sah sie mit einem Blick an, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ - er war ebenso zu einem Mord imstande wie irgendein Finsterling in den Gassen der Southside -, und er machte auch tatsächlich einen Schritt auf sie zu, als würde er es wagen,

Hand an sie zu legen. Soll er doch, dachte sie und blieb in Erwartung seines Angriffs steif stehen. Soll er doch. Aber er beherrschte sich - sie sah, wie die Vernunft in ihm die Oberhand gewann, es war, als wäre ein Schalter umgelegt worden. Er hatte Angst vor ihr, nicht wahr? Dieser Kleingeist, dieser Feigling. »Du widerst mich an«, sagte er schließlich. Und dann machte er auf dem Absatz kehrt, fuhr herum, ging zur Tür hinaus und verschwand hinter dem schwarzen Vorhang der Nacht, ohne einen Gedanken an seinen Mantel, den Hut oder den Schal, der stets um seinen Hals geschlungen war, es sei denn, er saß bei Tisch oder lag im Bett.

»Geh doch!« schrie sie und rannte zur Tür, in der erhobenen Hand den Teller mit dem Bries, den sautierten champignons de laforet und der Sherrysauce, die sie persönlich zubereitet hatte. »Geh doch, du Scheißkerl!« Und dann flog der Teller ihm hinterher und beschrieb über dem mondbeschienenen Vorgarten eine tropfende Parabel, bis er auf dem Bürgersteig zerschellte und das, was darauf gewesen war, den Vögeln und Eichhörnchen und Kreaturen der Nacht zum Fraß diente.

Natürlich versöhnten sie sich wieder - in einer wilden Liebesnacht, die geradezu wie ein im freien Fall ausgefochtener Kampf zwischen zwei erbitterten Feinden begann und in beseligender Hingabe endete -, doch zuvor fuhr er ohne sie nach Wisconsin. Für drei ganze Tage. Und kein Wort von ihm. Nichts. Es war, als hätte er nie hier gelebt, als hätte sie ihn nie kennengelernt, als wäre dieses mit seinen Dingen angefüllte Haus nur ein Denkmal, ein von irgend jemandem erbautes Mausoleum. In der ersten Nacht tat sie kein Auge zu, ließ die Szene immer wieder in ihrem Kopf ablaufen und wünschte, sie hätte mehr Beherrschung und weniger Feuer und Wut an den Tag gelegt, denn sie

liebte ihn, wie sie nie jemanden geliebt hatte, dessen war sie absolut sicher, da gab es nicht den Hauch eines Zweifels, und nun, da er fort war, verspürte sie einen Schmerz, der in ihr widerhallte wie ein Verzweiflungsschrei aus dem ausgehöhlten Stamm eines verdorrten Baumes.{6} Der nächste Tag war das reinste Fegefeuer, eine Abfolge schier unerträglicher Minuten und quälender Stunden. Sie ließ ihre Wut an Madeline und den diversen Lieferanten aus, die ihre Waren brachten, und sie würde ihn nicht in seinem Studio anrufen wie irgendein von seinem Kerl verstoßenes Flittchen, nein, das würde sie nicht. Gegen Ende des zweiten Tages war sie sicher, dass er sie mit einer anderen Frau betrog, mit seiner Sekretärin, seiner Frau - Kitty, so hieß sie, Kitty, und warum sie nicht einfach Schlampe nennen und Schluss damit? Sie rief Leora an und schluchzte durch die Drähte, sie rief Norma an, um ihr mitzuteilen, ihre Mutter sei am Ende, und schließlich brach sie, obgleich sie dagegen ankämpfte, zusammen und rief im Studio an. Wo ein weibischer Jünger ihr mit flötender Stimme mitteilte, der Meister - Mr. Wright - sei nach Taliesin gefahren, um die dortigen Arbeiten zu beaufsichtigen. Wann er denn zurückerwartet werde? Tja - eine lange, genau berechnete Pause -, das könne er nicht sagen. Danach blieb ihr nur noch ihre Pravaz. Und selbst dann weinte sie sich noch in Schlaf.

 

* Miriam besaß wohl eine Tendenz zur Dramatisierung, aber vielleicht hat O 'Flaherty-San an dieser Stelle auch ein wenig dick aufgetragen.

Beim Frühstück am Morgen nach ihrer Versöhnung war er zärtlich, sanft und zärtlich, und sie saßen einander in satter Zufriedenheit gegenüber, sie brauchten keine Worte, und die Stille wurde nur von gemurmelten Liebenswürdigkeiten unterbrochen:

Möchtest du noch eine Tasse Tee, Liebes? Sahne? Soll ich dir noch ein Ei kochen? Schatz, wenn es dir keine Mühe macht, würdest du mir bitte das Salz reichen? Als er sich erhob, um zur Arbeit zu gehen, klammerte sie sich an ihn, und sie küssten sich so leidenschaftlich, dass nicht viel gefehlt hätte, und er hätte sie gleich hier auf dem Teppich genommen. Und als er nach Hause kam, führte sie ihn sogleich ins Schlafzimmer. Sie entließ Madeline, einzig und allein, um ihm einen Gefallen zu tun, stellte sich abends, spärlich bekleidet, an den Herd und machte ihm Bratkartoffeln mit Zwiebeln und ein Steak au jus, das sie lediglich mit einer Prise Salz und ein wenig Pfeffer würzte. Er redete ununterbrochen und schien nicht einmal Luft zu holen, und nach dem Abendessen setzte er sich an den Flügel und spielte für sie, bis sie sich in die neuen weichen Kissen sinken ließ wie eine Königin, wie Kleopatra persönlich. Er gehörte ihr, er gehörte ihr, er gehörte ihr, und die Welt war wieder ein schöner, guter Ort.

Der zweite Streit kam am Ende dieser Woche, und es war Frank, der ihn begann - auch diesmal -, denn er hatte schlechte Laune, das sah sie schon, als er durch die Tür trat.

Die Kissen gefielen ihm nicht, das war der Anlass. Es sehe aus wie in einem Bordell, sagte er, und sie erwiderte: »Wenn das hier ein Bordell ist, was bin dann ich?«

Darauf wusste er keine Antwort, und sie erkannte, was für ein Kleingeist er war, was für ein Waschlappen, und kaum hatte er Cape und Hut abgelegt, da fing er von dem Briefpapier und dem Service an, das sie bestellt hatte. »Das ist vulgär, Miriam. Dein Wappen? Und was ist mit meinem? Glaub nur nicht, dass die Familie Lloyd Jones nicht älter ist als, als ... wie immer deine Familie heißt.«

»Mein Vater war ein Hicks. Und wir können unsere Familie zurückverfolgen bis zu den ersten Siedlungen in Virginia. Wenn der Bürgerkrieg nicht gewesen wäre, hätten -«

»Ein schlichtes rotes Quadrat«, sagte er. »Damit ist mein Briefpapier seit Jahren bedruckt, und daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Hast du mich verstanden? Ich bin nicht bereit, darüber zu diskutieren.«*

 

* Wrieto-Sans Wahl war auf das Quadrat gefallen, weil es in seinen Augen Redlichkeit und Solidität symbolisierte und natürlich auch auf die rechtwinkligen Muster seiner frühen und mittleren Schaffensperiode verwies. In Japan dagegen hält man den Kreis für die ideale Form, denn er ist ganz und gar harmonisch und hat nicht die scharfen, individualistischen Ecken des Quadrats. Wrieto-San jedoch war durch und durch Individualist, ein Einzelmensch, wie man bei uns sagt - wie der einsame Cowboy in den Western. Mir persönlich gefällt der Gedanke, dass ihn japanische Einflüsse zu den kreisförmigen Mustern seines letzten großen Werks, des Guggenheim-Museums in New York, inspiriert haben.

 

Sie kochte vor Wut: wie er ihr das Wort abschnitt, wie er sie kommandierte. Was glaubte er eigentlich, wer er war? »Ach ja? Und worüber bist du bereit zu diskutieren?

Über Taliesin? Erzähl mir von Taliesin und warum ich dort nicht willkommen bin. Wegen dieser toten Frau? Glaubst du, ich werde ihr Andenken beschmutzen - ist es das?«

Er wandte das Gesicht ab - ein sicheres Zeichen dafür, dass er log - und sagte: »Nein, ganz und gar nicht. Wir bauen es gerade wieder auf, und du würdest dich dort nicht wohl fühlen: all der Schmutz und das Durcheinander, es gibt zuwenig Platz, und außerdem könnte ich dir wegen der vielen Arbeit nicht genug Aufmerksamkeit widmen.«

»Und was ist mit deiner Mutter?«

»Meine Mutter? Was hat die damit zu tun?« Er wurde lauter. »Du nimmst es ihr wahrscheinlich übel, dass sie mich geboren hat, was? Weil du nicht dabei warst.« Er beugte sich über die Lampe in der Ecke und zerrte an der Schnur des Zugschalters.

Das Licht beschien sein Gesicht, als er sich zu ihr wandte, und alles daran war wild und animalisch - er sah aus wie ein Tier, das man außerhalb seines Baus gestellt hat: hasserfüllt, ganz und gar hasserfüllt.

»Aber sie ist dort willkommen, nicht?«

»Nun, ich ... Natürlich. Das weißt du doch. Ich baue Räume für sie und meine Tanten - und für dich, für dich auch.«

»Und für deine Kinder? Deine Kinder sind auch dort, oder? Catherine, Llewellyn, David, Frances? Eine große, glückliche Familie. Und wo schlafen sie? Leiden sie unter den Bauarbeiten?« Er sah sie an, und nun ging sie auf ihn zu und sagte es ihm ins Gesicht:

»Du bist ein Lügner, Frank. Ein Lügner. Und ein Ghul, jawohl, denn lieber als ich ist dir eine ... eine Leiche! Eine Erinnerung! Etwas, das tot ist!« Sie wandte sich von ihm ab, und ihre Hand suchte nach etwas, nach irgend etwas Greifbarem, einer seiner verdammten Statuen, irgend etwas - doch er packte sie am Handgelenk.

»Kein Wort gegen sie!« sagte er und drückte fester zu.

Sie fuhr herum und entwand sich seinem Griff, da war eine Vase, und es war ihr vollkommen gleichgültig, aus welcher Dynastie sie stammte und welcher geniale chinesische Künstler sie in welchem goldenen Zeitalter gebrannt hatte - waren sie nicht alle golden? -, ja, sie war in ihrer Hand, und dann war sie es nicht mehr, sondern zerbarst an der Wand. »Na los«, sagte sie, »schlag mich«, doch sie war bereits außer Reichweite, tat drei, vier Schritte und kam dann so schnell auf ihn zu, dass er zurückwich.

»Tot, Frank, kalt. Aber ich bin lebendig, eine Frau aus Fleisch und Blut!« Ihre Hände packten den Kragen ihres Kleides, und mit einem einem einzigen wilden Ruck zerriss sie es bis zur Taille, so dass ihre Brüste freilagen und die kühle Luft des Raums spürten. »Sieh mich an. Sieh meine Brüste an. Du hast sie oft genug gestreichelt. Du hast an ihnen gesaugt wie ein Baby. Da waren sie gut genug für dich. Und jetzt ist dir eine Leiche lieber?«

Er war erbleicht. Er wich vor ihr zurück. »Miriam«, sagte er flehend.

»Nein! Nein! Eher bringe ich mich um! Willst du das? Ja? Willst du zwei Leichen?«

Am nächsten Morgen - der Himmel mochte wissen, wo Frank die Nacht verbracht hatte - erschienen zwei seiner Assistenten, der mit dem Maulwurfshaar und ein anderer Handlanger mit verkniffenem Mund, und sahen sie an, als wäre sie eine der Gorgonen. Sie waren gekommen, um Mr. Wrights Sachen zu packen und in sein Studio

zu bringen. Was für Sachen? wollte sie wissen, doch eigentlich wusste sie es bereits. Und sie unternahm keinen Versuch, sie aufzuhalten, nein, keineswegs. Wenn er sich, Schuft, der er war, davonmachen und sie sitzenlassen wollte, einsam und mittellos, so würde sie ihn nicht daran hindern. Sie fuhr mit dem Taxi zu Marshall Field’s, obgleich sie dieses Kaufhaus hasste, und als sie in die East Cedar Street 25 zurückkehrte, erinnerten dort nur noch die Möbel an Frank - selbst seine Zahnbürste war verschwunden. Wieder beschloss sie, nicht im Studio anzurufen, und wieder verstieß sie gegen ihren Vorsatz. Wie sie vermutet hatte, war er in Taliesin, wo man ihn nicht erreichen konnte.

Diesmal kehrte er nicht zu ihr zurück. Und obwohl es jede Minute eines jeden Tages an ihr zehrte, blieb sie in dem leeren Haus. Jedesmal wenn sie auf der Straße ein Geräusch hörte - das Scharren einer Schuhsohle auf dem Bürgersteig oder eine Stimme, die eine Begrüßung rief -, war sie sicher, dass er es war, dass er wieder da war, doch jedesmal wurde sie enttäuscht. Immer und immer wieder. Die Tage vergingen, und sie stählte sich - schließlich besaß sie eigenes Geld. Und sie hatte ihre Pravaz und ein Rezept von einem ausgesprochen fortschrittlichen Arzt, dessen Adresse sie im Telefonbuch gefunden hatte. Dies war jetzt ihr Haus, und sie würde es, verdammt noch mal, nicht verlassen.

Selbstverständlich schrieb sie ihm - täglich, manchmal auch zwei- oder dreimal täglich. Sie rief ihn auch an, und wenn es ihr gelang, ihn zu erreichen, schien er nicht recht bei der Sache zu sein - und schuldbewusst, das auch -, und da er so tat, als wäre nichts, als wäre er einzig und allein mit den Bauarbeiten in Taliesin beschäftigt, konnte man ihr ja wohl keinen Vorwurf daraus machen, dass ihre Stimme ein akzeptables Maß an Lautstärke überstieg, denn schließlich war sie, wie sie ihm ins Gedächtnis rief, nur ein Mensch und keine bloße Erinnerung. Oder doch? Dann wurde der Ton seiner Briefe, der mitfühlend, fürsorglich, freundlich gewesen war - aber auch distanziert, als schriebe er an eine Tante oder Schwester, die zu einer Mission im Ausland unterwegs war -, mit einemmal entschiedener, als hätte er schließlich erkannt, dass eine Versöhnung zwischen ihnen unmöglich war. Indem Brief, der sie am meisten verletzte, der sie aus seinem Haus und in ein Abteil erster Klasse in einem Zug nach Albuquerque* trieb, erging er sich in zärtlichen Erinnerungen, besonders als er sich über ihren Charme ausließ und darüber, wie erregend es sei, sie zu kennen und zu lieben, und wie schrecklich er sich fühle, weil er sie verlassen habe. Dennoch war es ohne jeden Zweifel ein Abschiedsbrief. Weil er ein Kleingeist war. Weil die Liebe - jedenfalls die Liebe zu ihr - nach und nach unvermeidlich zum Ruin führen musste. »Die Vernunft ist verschwunden!« schrieb er und verlieh mit seiner überspannten Interpunktion der Apostrophe noch mehr Nachdruck. »Die Nächstenliebe ist verschwunden -Jetzt kommt Angst - Hass - Rache - Strafe - Dann Reue - Scham - Erniedrigung - Untergang, Es ist die breite Straße - hört mich, ihr strebsamen Seelen! Sex ist der Fluch des Lebens!«

 

* Warum Albuquerque? Das scheint niemand zu wissen. Wie wir gesehen haben, war es Miriams Muster, immer weiter nach Westen zu gehen, obgleich doch der Osten, sollte man meinen, das adäquatere Ziel gewesen wäre. Vielleicht - doch dies ist bloße Spekulation - hatte sie einen Rest des großen amerikanischen Pioniergeistes in sich, ein persönliches Gefühl der offenkundigen Bestimmung.

 

Während der ganzen trübseligen Reise durch das Land brütete sie über dieser hässlichen Behauptung: Sex, der Fluch des Lebens. So hatte er am Heiligabend nicht gedacht, als er zweimal hintereinander und am nächsten Morgen schon wieder mit ihr geschlafen hatte, der Geburt Christi und den heiligen Gesängen des Chors der himmlischen Heerscharen zum Trotz. Oder in den darauffolgenden Wochen, als er sie in seinem Haus untergebracht hatte, als wäre sie eine Haremsdame, und über sie hergefallen war, wann immer ihn das Verlangen überkommen hatte, also zu jeder Tages- oder Nachtzeit, denn er war geil wie ein Ziegenbock, der lüsternste Mann, dem sie je ausgesetzt gewesen war - dergleichen hatte sie nicht einmal in Frankreich oder Italien erlebt. Und nun war Sex also plötzlich der Fluch des Lebens. Er verdrehte alles, dieser Heuchler, er stellte es so hin, als wäre es ihre Schuld, er reduzierte die gewaltige Größe dessen, was sie miteinander geteilt hatten, auf eine vulgäre Funktion zur Erlangung sexueller Befriedigung, als wären sie Affen im Dschungel oder etwas ähnlich Verkommenes. Nun, das würde sie nicht unwidersprochen lassen. Und so schrieb sie zurück, Seite um Seite, und ihre Gefühle brannten in ihren Fingerspitzen und ihrem Füllfederhalter, und die Tinte versengte das Papier.

Sie nahm ihn heftig unter Beschuss, natürlich tat sie das, aber sie drückte auch die Größe ihrer Liebe aus - und es handelte sich, daran erinnerte sie ihn, nicht um eine bloße Verliebtheit, sondern um eine reife und spirituelle Liebe, die im Widerspruch zu den kleinlichen Konventionen einer von kleinlichen Regeln beherrschten Gesellschaft stand.* Sie würde nicht nach Taliesin kommen, nicht einmal, wenn er sie darum bäte.

Sie konnte es nicht. »Denn dort geht ein Geist um, der nicht von einem Menschen gestört werden darf, der Dich zutiefst liebt.« In diesem Stil ging es weiter - sie zitierte alle möglichen schauerlichen Anspielungen auf Friedhöfe, Eiben und dämonische Liebhaber und machte ihm dann Vorhaltungen. Konnte er, ausgerechnet er mit seiner hochentwickelten Sensibilität und kreativen Brillanz, nicht sehen, dass diese Sehnsucht nach einem Geist falsch war, billig, nichts weiter als eine bloße Sentimentalität, ein armseliger, zweitklassiger Ersatz für echte Liebe und Treue? Und sie fragte ihn bescheiden und aufrichtig, ob er nicht dankbar ein armes, liebendes Herz als Geschenk entgegennehmen könne, das er auf unvorstellbare Weise verletzt habe. Er war derjenige, der Unrecht getan hatte - konnte er das nicht sehen? Konnte er nicht erkennen, was sie ihm da anbot, obwohl sie von einer gnadenlosen, nach billigen Moralvorstellungen lebenden Gesellschaft verurteilt und verstoßen worden war, weil sie sich der »Sünde« schuldig gemacht hatte, ihn zu lieben? Während sie schrieb - versunken und aufgewühlt, wütend und von Liebe überfließend zugleich-, spürte sie, dass ihre Kraft zurückkehrte.

 

* Siehe Fußnote Seite 103.

 

»ICH WERDE SIEGEN!« rief sie. »Du wirst sehen! Wenn der Pulverdampf sich verzogen hat, werde ich wieder ein Regenbogen sein und - im Namen des Unsterblichen - ein Feueraltar, den Du in die Hölle verbannen wolltest. Ich werde einen Kranz aus Rosen flechten und Dir um den Hals legen. Du wirst ihn als Sklavenjoch bezeichnen und verfluchen, doch das macht nichts. Du fürchtest Dich vor dem Licht, das ich Dir bringe. Du kauerst in Finsternis. Komm, nimm meine Hand, ich werde Dich leiten.«

Und ihr letztes Wort, in dessen Knappheit und Zurückhaltung ganze Welten von Liebe, Schmerz und leidenschaftlichem Bedauern mitschwangen, lautete schlicht: Miriam.

Und dann traf sie, von allen Sünden gereinigt, auf dem Hochaltar des Westens ein: Albuquerque, Santa Fe, Taos. Morgens ging sie barfuß. Sie betete zum Himmel. Trank eau naturelle und aß ungesäuertes Brot. Hüllte sich in durchscheinende Gewänder und ließ Jesus und Mary Baker Eddy ihre Seele heilen. Die Zeit war ein Berg. Wasser floss, Wind wehte. Sie sah, wie die Adler sich im Aufwind über dem Sangre-de-Cristo-Massiv in die Höhe schraubten, als bärgen sie in ihren Schwingen alle Macht des Universums -vielleicht waren es auch Geier, doch das spielte keine Rolle. Sie war da. Sie lebte dem Augenblick.

Nach und nach wurden seine Briefe sanfter. Schuldgefühle nagten an ihm: Er hatte sie verführt und verlassen, obgleich sie, von der Gesellschaft geschmäht, alles für ihn aufgegeben hatte. Das begriff er nun und bat sie um Vergebung. Er schickte ihr Geld.

Er brauchte sie. Er sehnte sich nach ihr. Er flehte sie an, zu ihm zurückzukehren - nicht bloß nach Chicago, sondern nach Taliesin, wo sie die Herrin des Hauses sein sollte. Und sie? Sie ließ ihn im ungewissen, sie genoss ihre Macht, ihre Hand über dieses ganze weite ungezähmte Land hinweg nach ihm auszustrecken und ihn um so fester in ihrem Griff zu halten. Was machte es schon, dass es eine rein fleischliche Liebe war? Er brauchte sie. Und er würde ja sehen, was sie ihm darüber hinaus geben konnte, über den Fluch des Sex hinaus - ja, sie warf ihm seine eigenen Worte direkt vor die Füße. Sie würden, schrieb sie ihm, gemeinsam durch die Welt gehen, Hand in Hand, Schritt für Schritt, und in ihrer Erhabenheit die Götter selbst herausfordern.

Im Juli kehrte sie nach Chicago zurück. Und Ende August war sie in Taliesin.