Sieben

KIRA FLÜCHTETE AUF die andere Seite der großen Glasscheibe in den Salon. „Jetzt weiß ich, warum es illegal ist, Krähen zu halten. Sie erschrecken einen zu Tode“, keuchte sie.

„Wir haben eine offizielle Erlaubnis“, erwiderte Jason, „obwohl wir wahrscheinlich auch auf Gewohnheitsrecht pochen könnten.“ „Entschuldigung, aber haben Sie gehört, dass der Vogel mich Mommy genannt hat?“

„Sehr niedlich.“

„Sehr gruselig! In welcher Umgebung sind Sie denn aufgewachsen? Ich habe keine Ahnung, warum Sie hier überhaupt Vögel haben. Ich meine, hier wohnt doch niemand.“

„Sie weiter in der Voliere zu halten, war eine Bedingung dafür, dass die Stiftung das Haus bekommen hat“, erklärte Jason. „Wollen wir es behalten, müssen wir auch die Krähen behalten. Der Geldgeber hat einen zusätzlichen Fond hinterlassen. Von den Zinsen bezahlen wir das Futter und die Pflege der Vögel.“ „Das ist jetzt aber wirklich unheimlich. Und wer kümmert sich darum?“

Der Hauswart von Rainbow’s Edge und seine Frau, die Deerings. Sie wissen schon, das Paar, das lebenslanges Wohnrecht im Torhaus hat. Sie sind schon älter und behandeln die Vögel wie ihre Kinder. Sie machen ihnen viel Freude.

„Das ist ja schön. Aber wir sollten sie für uns arbeiten lassen ... die Vögel, meine ich, nicht die Deerings“, sagte Kira. „Das wäre doch eine nette Sache, wenn die Biester nicht durchdrehen.“ Immer noch etwas zittrig, betrachtete sie den riesigen Käfig. „Haben Sie jemals darüber nachgedacht, Schulklassen hierherzubringen? Und vor allem, haben die Jungen von St. Anthonys die Voliere jemals gesehen?“

„Ich weiß es nicht“, entgegnete Jason. „Schade, dass es hier zu eng ist für unsere geplante Nacht des Kennenlernens oder wie immer wir die Veranstaltung für Adoptionsinteressierte nennen wollen.“

Kira legte den Kopf schräg. „Die Nacht des Kennenlernens -das wäre gar nicht schlecht. Aber ich hätte gern etwas mit noch mehr Bedeutung. Vielleicht finden wir in dem Theaterstück etwas Passendes. Dafür ist Schwester Margret zuständig. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob wir die Veranstaltung noch für den Dezember einplanen können.“

„Weihnachten wäre doch eine gute Zeit, um Kinder und Eltern zusammenzuführen. Vielleicht sollte die Schwester ein Weihnachtsspiel aufführen.“

„Ich schlage es mal vor“, sagte Kira und folgte Jason hinauf zum Dachboden. „Vielleicht können wir die Jungen ja mal an einem Nachmittag nach der Hockeystunde hierherbringen.“ „Nach dem Hockeytraining werden sie todmüde sein, glauben Sie mir. Die Schwester wird die Kleinen aus dem Bus tragen müssen.“

„Schon gut“, erwiderte Kira. „Ich hatte vergessen, dass Sie an Halloween sowieso eine Geistertour machen. Dann sehen sie die Vögel ja.“

„Genau“, entgegnete Jason und machte das Licht im Dachgeschoss an.

„Oh ... du meine Güte!“, stieß Kira hervor. „Sehen Sie sich all das Zeug an.

Dass ist ja fantastisch. Ich liebe alte Sachen.“ Sie ging zu einem Kleiderständer und legte sich einen mit Goldfäden durchwebten Samtschal um die Schultern. Sofort musste sie niesen, weil er so staubig war. „Die meisten meiner Sachen kaufe ich aus zweiter Hand oder im Laden meiner Freundin. Sie bietet nur solche alte Kleidung an. Vicky bekommt viele ihrer Dinge von Dachböden. Sehen Sie nur, eine Wiege, auf die jemand Blumen gemalt hat. Da hat vielleicht vor über hundert Jahren ein Baby drin geschlafen. Und diese Puppe. Ihr Haar ist wahrscheinlich sogar echt. Und alte Bücher. Ich liebe alte Bücher. Sie sind viel schöner als neue, finden Sie nicht?“

Jason grinste. „Einiges davon ist ziemlich wertvoll.“

„Für mich ist das alles wertvoll“, erklärte Kira. „Es ist erlebte Geschichte. Die Vergangenheit irgendeines Menschen. Das hat immer einen besonderen Wert.“

Jason strich über die Konturen einer verstaubten nackten Bronze-Statue. „Die hier ist von Carl Bitter“, bemerkte er andächtig. „An meiner Familie habe ich immer gemocht, dass sie sich für Kunst und Antiquitäten interessiert hat.“

Jason hatte noch viel zu erzählen, während sie das ganze Haus durchstöberten, vom Dachboden bis zum Keller.

Kiras Respekt vor ihm wuchs. Nicht nur kannte er das Haus und seine Bewohner, er wusste auch etwas über die Möbel, den Krimskrams und sogar das Zeug auf dem Dachboden zu berichten. Schade nur, dass er sich in Bezug auf den Geist geirrt hatte.

„Sie lieben diese alten Häuser und ihre Geschichten“, stellte Kira fest, während sie die Haupttreppe hinuntergingen und er wegen seines Stocks ein paar Stufen hinter ihr zurückblieb. „Und behaupten Sie ja nichts anderes!“

Er zuckte die Schultern, als wenn er es nicht gern zugäbe. „Sie haben sich über mich lustig gemacht, weil ich mich mit der Geschichte der Häuser beschäftigt habe“, bemerkte sie. „Warum?“

„Nun ja, Sie hatten immerhin gerade den Penis eines Mannes verdorren lassen. Ich wusste nicht, was ich von Ihnen halten sollte. Ich kannte Sie einfach nicht. Ich dachte, vielleicht sind Sie das Böse. Seien Sie nicht so streng mit mir. Ich gebe es zu. Okay, mein Herz gehört Zeiten, die lange vorbei sind. Ich liebe besonders die, die wir das Vergoldete Zeitalter nennen, und die wilden Zwanziger. Und ich kann sehr leicht in die Rolle des traditionellen Macho fallen, wenn ich mich nicht vorsehe.“ „Nun ja, Sie sind ja auch in einem Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert aufgewachsen. Was erwarten Sie da anderes?“ „Jetzt geben Sie sich noch verständnisvoll, aber warten Sie nur, bis ich Sie am Haar packe und in meine Höhle zerre. Das würde Ihnen dann nicht gefallen.“

Probiers doch mal, dachte Kira. „Es ist doch keine Sünde, an der Vergangenheit interessiert zu sein. Aber es passt wohl nicht ganz zu dem Hockey-Gorilla-Image, nicht wahr?“

„Das ist ein Teil des Problems. Den Vergleich mit dem Gorilla möchte ich allerdings zurückweisen. Hauptsächlich hängt es damit zusammen, dass es um einen bestimmten Ruf geht.“ „Den es zu wahren gilt?“

„Den ich reinwaschen muss. Es ist der meines Großvaters. Er war Historiker. Und er war es auch, der Gram dazu gebracht hat, alte Dinge zu sammeln und zu erhalten. Leider war er auch ein unverbesserlicher Frauenheld und wollte sie beschäftigen, damit er sich unbehelligt seinen Amouren widmen konnte."

Kira erstarrte. „Oh nein. Arme Bessie. Das wusste ich nicht.“ „Dann lassen Sie sich bitte nichts anmerken. Es würde sie umbringen. Sie glaubt immer noch, dass niemand etwas geahnt hat. Hier ist die Bibliothek. Suchen Sie sich einen bequemen Sessel aus und holen Sie sich ein paar interessante Bücher.“

„Und dafür werde ich auch bezahlt? Toll.“

Jason lehnte seinen Stock gegen die Wand und ging freihändig hinüber zu den Regalen.

„Was tun Sie da!“, meinte sie. „Keinen Stock? Wollen Sie es wirklich riskieren?“

„Der Arzt hat gesagt, ich könne langsam anfangen, mich wieder umzustellen. Zumindest in Situationen, die ich überblicken kann, und dann erst einmal nur für kurze Zeit.“

„Was versteht er unter Überblicken?“

„Ebener Boden, nichts im Weg, worüber man stolpern kann.“ Er sah sich um. „Hier scheint alles in Ordnung zu sein.“

„Das beruhigt mich“, sagte Kira, und aus irgendeinem Grund schien ihre Besorgtheit ihn zu überraschen und zu berühren.

Das einzig Interessante, was sie an diesem Tag entdeckten, war ein Bericht über Nate Winthrops Frau Addie und die zahme Krähe, die sie stets auf ihrer Schulter begleitet hatte.

Am nächsten Tag wollten sie wieder in die Bibliothek von Rainbows Edge zurückkehren. Als Kira morgens in Jasons Wagen stieg, schüttelte er tadelnd den Kopf. „Schon wieder in Schwarz?“

Kira sah an ihrem Hosenanzug hinunter. „Ich mag Schwarz.“ „Ach, ehrlich? Sie tragen jetzt schon seit drei Tagen immerzu Schwärz.“

„Stört es Sie?“

„Sie kleiden sich zwar schwarz, aber ich bin bereit, gegen die Bank zu setzen, dass in Ihnen der reinste Farbtopf brodelt.“ „Nun übertreiben Sie aber.“

„Ich mag Farben.“

„Ich auch. Bei Bettbezügen und Kirchenfenstern.“

„Genau“, meinte Jason. „Einen Kaffee?“ Er fuhr zum Autoschalter eines Doughnut-Ladens.

„Cola Light“, erwiderte Kira. „Und einen Doughnut mit Schokoüberzug, wenn es recht ist. Um den Nährwert meines Frühstücks abzurunden.“

„Gute Wahl. Ich nehme das Gleiche.“

Schweigend labten sie sich an Koffein und Zucker, während sie nach Rainbow's Edge fuhren.

„Da wären wir“, sagte Jason, als er seinen Hummer parkte.

„Ich kümmere mich um die Geschichtsbücher.“ Kira sprang aus dem Wagen, bevor er eine Chance hatte, ihr die Tür aufzumachen.

Auch dieser Tag endete ohne besondere Überraschung, zumindest was die Geister anging, obwohl sie etwas über Addies Tod, Nates teuren Geschmack und seine noch teureren Frauen herausgefunden hatten.

Am Donnerstag fuhren sie mit der Geisterforschung fort, bestellten sich zum Mittagessen eine Pizza und aßen sie in der großen alten Küche mit der riesigen offenen Herdstelle, die mit italienischen Kacheln ausgekleidet war und in der ein alter Kupferkessel hing.

Kira fühlte sich immer mehr auf einer Wellenlänge mit dem Hockeyknaben. Ihr gemeinsames Geschichtsinteresse war schon verblüffend und machte alles nur noch faszinierender.

Gegen ein Uhr, nachdem sie nahezu jedes Buch über Rainbows Edge durchgeblättert hatten, waren sie immer noch nicht viel weiter gekommen. Das gruseligste Ereignis war ein Streich, den 1924 ein kleiner Junge gespielt hatte. Zu jener Zeit war viel darüber geredet worden, und für eine Weile war der Eindruck entstanden, dass es auf Rainbows Edge tatsächlich einen Geist gäbe - einen kleinen Jungen, der immerzu nach seiner Mutter rief.

„Wie wäre es, wenn wir den Streich genauso nachspielten?“, schlug Kira vor, als sie auf den Stufen der Veranda saßen und das Farbenspiel der Bäume im Indian Summer genossen. „Zumindest gehört er wirklich zur Vergangenheit des Hauses, und es werden keine falschen Geschichten in die Welt gesetzt.“

„Wenn wir das tun, müssten wir dann nicht auch das versteckte Treppenhaus finden, in dem der Junge eingeschlossen gewesen sein soll?“, fragte Jason. „Wir haben nie eins gesehen.“

„Wir haben auch nie eins gesucht.“ Kira warf einen Blick hinüber zum Familienfriedhof des Anwesens. „Interessant ist auch, dass in den Beschreibungen auch immer wieder die Krähen auftauchen. Alle Autoren haben es für wichtig gehalten, Addies zahme Krähe zu erwähnen. Ihr Mann, der wohl hauptsächlich für die Niederschrift der Überlieferungen verantwortlich ist, hat sehr direkt daraufhingewiesen, dass sie von der Bevölkerung für sonderbar und furchterregend gehalten wurde.“

„Das ist mir gar nicht aufgefallen.“ Jason rieb sich den Nacken. „Aber ich habe mich auch mehr mit den Büchern über das Haus als mit Geschichten über die Leute beschäftigt.“

Kira konnte Jasons Körpersprache bereits gut deuten, und wenn er sich den Nacken rieb, war das ein sicheres Zeichen für Stress oder Erschöpfung. „Bedrückt Sie, dass wir das Treppenhaus noch nicht gefunden haben“, fragte sie, „oder sind Sie enttäuscht, dass wir keine Hinweise auf einen echten Geist entdeckt haben?“ „Ein bisschen von beidem, schätze ich. Und dann ist da dieser Obelisk. Sehen Sie mal.“ Er deutete hinüber zum Friedhof, wo ein mächtiges Grabmal aus strahlend weißem Marmor umgestürzt am Boden lag und die ansonsten perfekte Idylle zerstörte.

„Den wieder aufzurichten wird richtige Arbeit“, meinte Jason. „Und erschwerend kommt hinzu, dass das ganze Ding anscheinend aus einem Stück besteht. Allein der Sockel dürfte ein Meter zwanzig mal ein Meter fünfzig sein. Wir werden es trotzdem tun und ihn wieder an seinen Platz stellen. Gram sagt, das sei im Laufe der Jahre oft versucht worden, aber niemand habe es geschafft.“

„Zu blöd, dass Sie sich hier nie umgesehen haben, bevor Sie die Einl...“

„Ersparen Sie es mir, Fitzgerald.“ „Okay. Sehen Sie mal, auf dem Obelisken sitzen sieben Krähen. Das hat etwas zu bedeuten.“

„Genug von den Krähen.“

„Man hat Krähen jahrhundertelang als Omen gesehen. Das ist schon fast eine Wissenschaft. Krähen in bestimmter Zahl können eine mystische Bedeutung haben. Wissen Sie, was sieben bedeuten?“

„Nein“, entgegnete Jason, „und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich es wissen will.“

„Sieben Krähen können bedeuten, dass ein Geheimnis gelüftet werden wird. In manchen Fällen ist es auch ein Zeichen für Hexerei.“

Plötzlich fuhr der Wind mit einem unheimlichen Geräusch durch die Bäume. Sofort stand Kira die tausendfach bemühte Kinoszene vor Augen, in der die naive Heldin mit einer Kerze in der Hand eine dunkle Treppe hinuntersteigt. Sie lachte.

„Sie haben sich das nur ausgedacht“, behauptete Jason und sah hinüber zu den Bäumen. Der Wind legte sich so schnell, wie er aufgekommen war.

Kira schüttelte den Kopf. „Nein, Weissagungen durch Krähen werden von einigen Hexen sehr ernst genommen. Mir ist sofort aufgefallen, dass Sie vier Paare halten. Vier kann bedeuten, dass ein männlicher Nachkomme geboren wird oder dass irgendetwas passiert, was mit einem Sohn zu tun hat. Gibt es irgendetwas, was Sie mir bisher verheimlicht haben?“

Jason stieß ein Lachen aus. „Nein, es sind keine Söhne unterwegs.“

Kira nickte, obwohl der seltsame Ausdruck, der dabei über sein Gesicht huschte, sie überraschte.

„Wenn wir die Krähen in der Voliere als zwei mal vier betrachten fuhr sie fort und machte dann eine Pause, um ihn ein bisschen neugierig zu machen.

„Zwei Söhne? Ich glaube kaum.“

„Nein“, entgegnete sie, „ich meine, wenn wir sie zu acht Krähen zusammenfassen, dann sprechen wir über eine Veränderung des Lebens, und zwar zum Besseren. Als würde man einen kurzen Blick ins Paradies werfen.“

„Paradies?“, spottete Jason. „Obwohl ich nichts dagegen hätte, wenn von da mal jemand vorbeikommen würde. Um uns mit einem kleinen Spuk auszuhelfen.“

„Gemeint ist aber das Paradies auf Erden“, sagte Kira. „Es geht um ein lebensveränderndes Ereignis.“

„Ja, selbstverständlich.“ Jasons Ton war sarkastisch. „Verschonen Sie mich damit. Oder warten Sie mal. Gibt es auch eine Anzahl von Krähen, die darauf hindeutet, dass man ein verborgenes Treppenhaus findet? Dann gehe ich nämlich sofort los und suche uns noch ein paar Krähen, wenn es sein muss.“

„Beruhigen Sie sich“, meinte sie. „Wir haben noch wochenlang Zeit, um dieses Treppenhaus zu finden und Addies Grabstein aufzurichten.“

„Moment mal, wie kommen Sie darauf, dass es der von Addie ist?“

„Ich habe auf dem Friedhof sonst keinen gefunden. Sie war die Frau des Erbauers dieses Hauses, und da der umgestürzte Stein der größte ist, muss es ihrer sein.“

„Das stimmt.“

„Der Friedhof ist wie geschaffen für eine Geistertour“, stellte Kira fest. „Und das Haus ist skurril genug mit all seinen Winkeln und Giebeln. Ich kann schon verstehen, warum Sie es ausgesucht haben. Allerdings verstehe ich nach wie vor nicht, warum Sie...“

Man konnte förmlich hören, wie Jason die Stacheln aufstellte.

Kira biss sich auf die Lippe. „Okay, das hatten wir schon. Machen wir weiter. Ich würde gern über die Inschriften auf den Grabsteinen ein paar Kurzbiografien über die Leute entwerfen, die darunterliegen.“

„Warum zum Teufel sollten wir das tun?“

„Um den Spukfaktor zu erhöhen“, erklärte Kira.

„Aber die Leute glauben dann doch, dass die Geschichten wahr sind.“

„Nicht, wenn wir ihnen zu verstehen geben, dass es Halloween-Storys sind, die nur auf einigen wenigen Fakten basieren“, entgegnete sie.

Jason war noch nicht überzeugt. Kira sah es ihm deutlich an. „Kommen Sie schon“, redete sie ihm gut zu. „Das macht Spaß. Nach all unseren Recherchen habe ich das Gefühl, dass wir die ehemaligen Bewohner ziemlich gut kennen. Abgesehen vom alten Nate, der das Haus gebaut und die meisten Bücher geschrieben hat. Sich selbst hat er als einen so großartigen Mann gezeichnet, hat derart mit seinen Frauen geprahlt, dass ich mir Gedanken über ihn gemacht habe. Ich glaube, Ihr Großvater ist nicht der einzige Weiberheld in der Stadt gewesen.“

„Gram hat schon immer gesagt, dass viele Gerüchte über Winthrops Selbstdarstellung im Umlauf waren.“ Jason lachte leise. „Sie haben recht. Fiktive Geschichten, die auf ein paar Fakten und Hörensagen beruhen, werden die Tour noch etwas gruseliger machen.“ Er zupfte ein orangerotes Blatt aus ihrem Haar und grinste. „Dieselbe Farbe. Ich hätte es fast übersehen.“ Sie riss es ihm aus der Hand. „Das ist nicht witzig.“

Jason grinste trotzdem. „Wir müssen das Treppenhaus finden, den Caterer buchen, einen Dekorateur engagieren. Und wir müssen einen Kran bestellen, der das Grabmal hochzieht. Aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass wir schon ein Stück weitergekommen sind.“

„Ich würde das Haus gern selbst herrichten“, erklärte Kira. „Und ich glaube, dass dafür nur Ausgaben für Blumen und Dekorationsmaterial entstehen würden und ich so der Stiftung sparen helfen könnte. Vielleicht kriege ich es sogar hin, dass uns das Material gespendet wird. Was halten Sie davon?“

„Das würde bedeuten, Sie müssten vor und auch noch nach der Veranstaltung zusätzlich Zeit investieren“, warnte Jason, „während die Deko-Leute normalerweise auch für den Auf- und Abbau verantwortlich wären.“

„Ja, und dafür verlangen sie auch eine Menge Geld. Sie sind jetzt seit wie lange mein Boss? Seit drei Tagen, und ich habe an all diesen Tagen Überstunden gemacht. Was würde sich also ändern? Und außerdem ... 'was habe ich sonst noch zu tun?“ „Einverstanden. Aber nur, wenn Sie meine Unterstützung akzeptieren.“

„Wie denn? Wollen Sie auf Leitern klettern und an Kronleuchtern durch die Gegend schwingen, wie es alle Gorillas mit Krücken tun?“ Sie stieß ihn mit der Schulter an, um ihm zu zeigen, dass es ein Witz sein sollte. Und es freute sie, als er die Geste erwiderte.

„Die ,Krücke' hatte ich ganz vergessen“, meinte er. „Mist, ich hab sie tatsächlich vergessen. Der Stock ist wohl noch in der Bibliothek.“

„Ich hole ihn. Schonen Sie Ihr Knie.“

Kira lief nach oben, ergriff den Stock, hörte etwas flattern und dachte, ein Vogel sei aus der Voliere entkommen. Aber nein, zwei Krähen waren gerade auf dem Fenstersims gelandet. Sie sahen sie an, putzten ihr Gefieder und schienen äußerst zufrieden. Seltsam.

Zwei Krähen bedeutete, dass eine Überraschung ins Haus stand, eine Wendung zum Besseren. Freude. Vielleicht war es das. Kira ging hinüber zum Fenster und legte ihre Hand mit gespreizten Fingern auf die Scheibe, weil sie dachte, damit würde sie die Vögel verscheuchen.

Aber die Krähen tippten mit den Schnäbeln an das Glas gegen ihre Fingerspitzen. „Auf Wiedersehen, kleine Krähen“, sagte Kira und wandte sich voll neuer Hoffnung für ihren Job und für die Geistertour ab und ging hinunter.

Eine Minute später übergab sie Jason seinen Stock. „Ich glaube, es ist ein gutes Zeichen, dass Sie ihn vergessen haben.“ „Das glaube ich auch.“

„Aber versuchen Sie jetzt nicht gleich wieder, Hockey zu spielen.“

„Das ist richtig blöd“, sagte er.

„Was?“, wollte sie wissen.

„Dass Sie meine Gedanken lesen können.“

„Ich wünschte, es wäre so“, erwiderte sie. „Fahren wir. In meinem Büro wartet noch ein Haufen Papierkram auf mich.“ „Okay, der Plan in Kürze“, sagte er, nachdem er neben sie in den Hummer gestiegen war und den Motor angelassen hatte. „Sagen Sie mir, ob Sie damit einverstanden sind. Kanapees und Champagner, wenn die Leute ankommen. Ein kleines Theaterstück um einen geisterhaften Streich, die Friedhofstour mit unseren makabren Geschichten an ein, zwei Grabstellen. Dann zurück zum Haus zum Kuchenbuffet und anschließend einen Verdauungsschnaps im Salon.“

„Ausgezeichnet“, erwiderte Kira. „Wie wäre es noch mit einem Quartett, das im Musikzimmer aufspielt, direkt nach dem Friedhof, dann können die Leute tanzen oder sich das Haus ansehen. Und das Treppengeländer, das hinauf zur Voliere führt, schmücken wir mit einer Lichterkette.“

„Brillant“, stimmte Jason kopfnickend zu, als wäre ihm der Gedanke auch selbst schon gekommen. „Mit dem Fenster hinter ihrem Käfig wirken die Vögel wie in ihrer natürlichen Umgebung, und der Mond und die Sterne werden den gruseligen Effekt noch verstärken.

Indirekte Beleuchtung, Musik, die vom Erdgeschoss heraufklingt, und ein Besuch bei der Voliere werden unseren geisterhaften Abend zu einem krönenden Abschluss führen.“

Kira schüttelte den Kopf. „Es ist wenig gespenstisch, eine weltklassenmäßige Geister- und Friedhofstour auf die Beine zu stellen, ohne einen einzigen Geist zu haben. Aber Sie haben wahrscheinlich recht, es wird sicher ein Erfolg. Und dann ist da ja auch noch die eigentliche Attraktion. Unser Eiswolf, der berühmte Küsser.“

Jason warf einen Blick in den Rückspiegel und bog rechts ab. „Wissen Sie, den hatte ich ganz vergessen. Wie war doch gleich sein Name?“

Es tat Kira leid, dass sie seine Küsse erwähnt hatte. Seine Lippen sahen plötzlich aus, als seien sie wie gemacht dafür. Schnell öffnete sie ihr Notizbuch, hörte auf, ihn anzustarren, und schwieg.

Als sie wieder im Büro zurück waren, hatten sie beide noch Büroarbeit zu erledigen. Ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren, schloss zwar jeder der beiden seine Tür zum Flur, aber die Verbindungstür zwischen den Büros ließen sie offen.

Manchmal sprachen sie miteinander, von Raum zu Raum. Nur eine Bemerkung, eine Erwiderung. Aber meistens arbeiteten sie in einvemehmlichem Schweigen. Es war gut zu wissen, dass er da war, dachte Kira. Um Ideen auszutauschen oder sich einfach einmal anzulächeln. Wer hätte geahnt, dass der Sportler auch ganz amüsant sein konnte!

Um vier klingelte ihr Telefon. Es war Billy.

„Zu dumm“, sagte Kira nach einem kurzen Gespräch, als sie eingehängt hatte.

„Bitte?“, fragte Jason aus seinem Büro.

„Ich hatte vergessen, dass ich zum Abendessen verabredet bin“, erwiderte sie. „Zum Glück hat Ihre Großmutter vorgeschlagen, dass ich meine Garderobe für die Veranstaltungen im Ankleidezimmer neben meinem Badezimmer aufbewahre. Man sollte immer bereit sein, hat Bessie gesagt. Und sie hatte recht. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich heute früher gehe, oder?“

„Teufel, nein. Sie haben es sich verdient. Viel Spaß.“

„Danke, den werde ich haben.“

Kira verschwand im Bad, um sich frisch zu machen und sich umzuziehen.

Als sie eine halbe Stunde später wieder herauskam, ging sie durch ihr Büro zu Jason, während sie noch mit den letzten Handgriffen beschäftigt war.

Jason sah sich um, als er Kira hörte, und wie durch Zauberhand verwandelte sie sich plötzlich in eine Göttin, die reinen Sex ausstrahlte.

Zu tief auf der Hüfte sitzenden schwarzen Seidenhosen trug sie ein langes, ärmelloses schwarz-weißes Oberteil mit einem tiefen V-Ausschnitt, den nur zwei Knöpfe davor bewahrten, ihre Brüste in die Freiheit zu entlassen. Unter dem zweiten Knopf kehrte sich das V um und entblößte ihren nackten Bauch, in dessen Mitte ihr Nabel von einem strassbesetzten Stecker geschmückt war.

Zum Glück hatte sie gerade einen großen Kamm durch die roten Locken ihres nach vom gesenkten Kopfes gezogen, als sie hereinkam, und so merkte sie nicht, wie er sie beäugte.

Jason trat gerade vom Fenster zurück, als sie aufsah und ihn mit einem Lächeln bedachte, das jeden harten Mann noch härter werden ließ - und rannte gegen seinen Schreibtisch.

„Autsch! Mist! Verflixt noch mal!“