Zweiundzwanzigstes Kapitel

 

Die sommerliche Abenddämmerung hatte schon ihre blaugrauen Schatten über den Hain geworfen, und ein sanfter Wind trug den milden Duft der Frangipanis durch das Tal, als Stanley endlich aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte.

Für eine Weile vergaß Emily ihre schmerzenden Glieder, die gegen die unnatürliche Haltung mit einem feurigen Stechen und Brennen protestierten. Alle verzweifelten Versuche in den vergangenen Stunden, ihre Fesseln zu lockern, ja sich von ihnen zu befreien, waren erfolglos geblieben. Hätte sie ihr altes Kleid getragen, dessen Stoff schon recht verschlissen war, hätte sie vielleicht Aussichten auf Erfolg gehabt. Aber dieser Stoff, mit dem Henry sie an den Baum gebunden hatte, widerstand trotzig allem Zerren und Ziehen.

Mit unsäglicher Freude und Dankbarkeit, weil der brutale Hieb mit dem Griffstück des Messers doch nicht tödlich gewesen war, wie sie bang befürchtet hatte, sah sie zu Stanley hinüber. Und obwohl sie wusste, wie wenig Sinn es machte, ihm mit dem Knebel im Mund etwas zurufen zu wollen, versuchte sie es dennoch.

Mehrfach warf Stanley den auf die Brust herabhängenden Kopf hin und her, als wollte er die Benommenheit abschütteln, die ihn noch umfing. Dann endlich hob er den Kopf und seine Augen suchten Emily.

Tränen traten in ihre Augen, und sein Bild verschwamm vor ihr, als sie sah, wie er sich mühte, ein Lächeln zustande zu bringen, als wollte er ihr Mut machen und wortlos zu verstehen geben, dass alles gut werden würde und sie durchhalten solle.

Wenn sie doch wenigstens miteinander hätten reden und nach Hilfe schreien können! Aber bis auf dumpfe, unverständliche Laute vermochte keiner von ihnen etwas herauszubringen.

Für eine Weile hockte Stanley am Baum, als hätte er sich damit abgefunden, abwarten zu müssen, bis man nach ihnen suchte und sie hier fand. Dann jedoch sah Emily, wie er die Arme am Stamm erst zögerlich auf und ab bewegte, als taste er den Baum mit den Innenseiten seiner Unterarme ab. Auch richtete er sich nun auf und führte die Arme hinter dem Stamm so weit nach unten, wie es ihm möglich war. Plötzlich nickte er ihr sichtlich aufgeregt zu, und auf seinem Gesicht zeigte sich sogar ein Grinsen, als wollte er ihr damit ein stummes, hoffnungsvolles Zeichen geben.

Emily verrenkte sich den Kopf, um von ihrem Platz aus zu sehen, was er da wohl ertastet hatte. Und dann glaubte sie zu wissen, was ihn in Aufregung versetzt hatte: Er musste auf der Rückseite des Stammes irgendeine scharfe Kante erfühlt haben. Vielleicht aufgebrochene Borke oder das spitze Ende eines abgebrochenen Astes.

Hoffnung und Mitgefühl erfüllten sie zugleich, als sie nun hilflos mit ansehen musste, wie sehr er sich anstrengte, um seine Handfessel an dem vorspringenden Teil des Baumes durchzuscheuern. Sein Gesicht verzog sich immer wieder vor Schmerz, wohl weil er nicht vermeiden konnte, sich dabei die Haut blutig zu scheuern. Immer wieder hielt er inne, um neue Kraft zu schöpfen und zu warten, bis der Schmerz wieder erträglich geworden war.

Emily wusste hinterher nicht zu sagen, wie lange er sich so gequält hatte. Aber eine gute viertel Stunde mindestens, wenn nicht gar eine halbe. Ihr erschien sie wie eine halbe Ewigkeit.

Dann stürzte Stanley plötzlich vornüber ins Gras, als die letzten Fasern seiner Handfessel rissen und er das Gleichgewicht nicht halten konnte. Noch im Liegen riss er sich den Stoffstreifen vom Kopf und spuckte den Knebel aus.

»Dieser verfluchte Schweinehund!«, stieß er atemlos hervor und löste die Knoten in den Stoffstreifen, mit denen er seine Füße hatte zusammenbinden müssen. »Dafür wird er büßen!«

Dann richtete er sich mit einem unterdrückten Stöhnen auf, warf einen flüchtigen Blick auf seine blutigen Unterarme und lief zu Emily hinüber, um nun auch sie von Knebel und Fesseln zu befreien.

Mit einem lauten Aufschluchzen fiel sie ihm in die Arme. Sie hatte Mühe, sich aufrecht zu halten, so sehr zitterten ihr die Beine.

Er hielt sie fest in seinen Armen, barg ihren Kopf an seiner Brust und fuhr ihr tröstend über das Haar. »Ganz ruhig, mein Schatz... Ganz ruhig... Jetzt ist es vorbei... Denk immer daran, dass es viel schlimmer hätte kommen können!... Ganz ruhig, mein Liebling. Ich bin ja bei dir... Jetzt ist alles in Ordnung... Wir werden ihn kriegen, auch wenn er noch so viele Stunden Vorsprung hat.«

Emily riss sich schließlich zusammen und wischte sich die Tränen vom Gesicht. »Lass mich deine Arme sehen!... O mein Gott!«, rief sie entsetzt, als sie sah, wie schrecklich er sich selbst hatte zurichten müssen, um sich von der Fessel zu befreien.

»Es sieht schlimmer aus, als es ist! In ein paar Tagen ist davon kaum noch etwas zu sehen«, versicherte er und entzog ihr seine Hände schnell. »Wir müssen jetzt so schnell wie möglich zum Haus und Alarm geben!«

Emily sah an sich herunter, trug sie jetzt doch nur noch ihre Leibwäsche. »Aber so kann ich Andrew und Abby unmöglich unter die Augen treten!«, sagte sie betroffen. »Und die Rigbys und Mister Brown sind auch noch bei uns! Bestimmt sitzen sie noch immer vorn unter der Veranda zusammen und reden über all die Dinge, die bei der nächsten Siedlerversammlung besprochen werden sollen!«

Ein zärtliches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Na ja, ich wüsste nichts, was reizvoller aussieht - doch, du selbst, wie Gott dich geschaffen hat, als Wassernixe da unten am Fluss herumplantschend«, scherzte er, wurde aber sofort wieder ernst. »Keine Sorge, du musst ihnen nicht so vor die Augen treten. Wir schlagen einfach einen Bogen oben um das große Queckendickicht. Dann kannst du unbemerkt von hinten ins Haus schlüpfen und dir schnell etwas überziehen. Ich werde derweil zwei, drei Minuten warten und mich dann erst vorn auf der Veranda zeigen. Auf das bisschen mehr Zeit, die Henry Blake dadurch gewinnt, kommt es jetzt auch nicht mehr an.«

Sie nickte.

Stanley gab ihr einen Kuss. »Und hab keine Angst, wenn wir gleich erzählen müssen, was vorgefallen ist - und warum wir beide hier gewesen sind. Es gibt nichts, wessen du dich schämen musst. Es macht mir auch nichts aus, ihnen zu sagen, dass wir uns hier schon oft heimlich getroffen haben. Ich bin im Gegenteil sogar ganz froh, dass die Heimlichtuerei damit ein Ende findet. Wir lieben uns und niemand wird uns deswegen Vorwürfe machen. Und wenn sie hören, was Henry Blake getan hat, werden sie sowieso mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein und keine Zeit haben, uns mit moralischen Zurechtweisungen zusammenzustauchen.«

Emily seufzte. »Dein Wort in Gottes Ohr!«

Aufmunternd nickte er ihr zu und nahm ihre Hand. »Du wirst sehen, alles wird gut. Und wenn wir dennoch einige Vorhaltungen zu hören bekommen, werden wir die auch überstehen. Seien wir froh, dass wir so glimpflich davongekommen sind. Der Schweinehund Henry Blake hatte uns völlig wehrlos in der Hand. Aber nun lass uns gehen!«

Jede natürliche Deckung des ungerodeten McGregor-Geländes ausnutzend, schlichen sie hinüber nach Bungaree, schlugen weit oben um die vielen Queckenbüsche einen Bogen und näherten sich dann dem Farmhaus von der Rückseite.

»Nur den Kopf hoch! Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird!«, raunte Stanley ihr zu, gab ihr noch schnell einen Kuss und blieb zurück, während Emily nun auf die Rückfront des Blockhauses zulief und Augenblicke später durch die Hintertür schlüpfte.

Er zählte bis hundert, dann holte er tief Luft, kam hinter seinem Versteck hervor, ging mit festem Schritt auf das Haus zu und stand kurz darauf vor den Männern und Frauen, die unter dem vorspringenden Dach noch immer in ein lebhaftes Gespräch über die Belange ihrer Siedlung vertieft waren.

»Der junge Stanley! Was für eine nette Überraschung! Soll ich Emily rufen? Ich glaube, sie sitzt noch immer über ihrer aufwändigen Stickerei. Aber ich wette, die legt sie gern aus der Hand, wenn sie hört, wer da gekommen ist«, rief Abby mit einem verschmitzten Augenzwinkern. Dann jedoch fiel ihr Blick auf seine blutigen Unterarme und sie sprang auf. »Um Himmels willen, was ist dir denn zugestoßen?«

»Henry Blake...!«, stieß er mit belegter Stimme hervor und musste sich erst hastig räuspern, um weitersprechen zu können. »Er ist drüben am Grab von Emilys Vater über sie hergefallen, und ich habe in meiner Aufregung und Hast die Dummheit begangen, den falschen Knüppel aufzuheben, um ihn niederzuschlagen und außer Gefecht zu setzen.«

»Henry Blake ist über Emily hergefallen?«, fragte Douglas Brown ungläubig.

»Ja, er... er hatte ihr gerade das Kleid vom Leib gerissen und wollte... wollte sich an ihr vergehen, als ich dort aufgetaucht bin! Wir waren verabredet, Emily und ich. Zum Glück bin ich aber um einiges früher aufgebrochen, weil ich es nicht erwarten konnte, sie wiederzusehen. Wäre ich nur einige Minuten später gekommen, hätte Henry seine fürchterliche Tat wohl... ausgeführt. Aber so ist Emily mit einem bösen Schreck und einem in Fetzen gerissenen Kleid davongekommen«, sprudelte Stanley hastig hervor, um es hinter sich zu bringen. Dabei sah er, wie Emily vorsichtig die Vordertür öffnete. Sie trug ihr altes Arbeitskleid und ihr Gesicht hatte die Blässe eines ausgeblichenen grauen Leichentuches. Wie gern wäre er zu ihr getreten, um seinen Arm schützend um ihre Schultern zu legen.

Augenblicklich redeten sie alle aufgeregt durcheinander.

»Ruhe, Leute! Lasst ihn reden!«, rief Andrew und hob die Hände, worauf die Stimmen um ihn herum augenblicklich erstarben. »So, nun mal ganz langsam und schön der Reihe nach, Stanley! Was genau ist da drüben passiert, und vor allem: Wo ist Emily?«

»Ich bin hier«, kam Emilys zaghafte Stimme von der Tür. »Mir ist nichts passiert... dank Stanley!«

»Dem Himmel sei Dank!«, stieß Abby erleichtert hervor, eilte zu ihr und nahm sie in ihre Arme.

Stanley berichtete ausführlich und mit nun fester, sicherer Stimme, was sich vor Stunden am Gedenkkreuz von Thomas McGregor ereignet hatte. Er schilderte ihnen noch einmal seinen missratenen Versuch, Henry Blake niederzuschlagen, wie dieser sie dann an die Bäume gefesselt und ihn, Stanley, mit dem Messerende bewusstlos geschlagen hatte und wie viele Stunden es gedauert hatte, bis er wieder zu sich gekommen war und sich endlich von den Fesseln hatte befreien können.

»Verdammt!«, fluchte Terence. »Dann hat dieser Dreckskerl ja mindestens drei, vier Stunden Vorsprung und dürfte damit buchstäblich schon über alle Berge sein!« Er und auch die anderen zweifelten nicht eine Sekunde lang daran, dass Henry Blake hastig einige Sachen zusammengerafft und sich aus dem Staub gemacht hatte.

»Mir war doch, als hätte ich drüben am Oberlauf vom Emu Creek einen Wagen gesehen«, erinnerte sich jetzt Douglas Brown. »Das muss Blake gewesen sein, als er sich aus dem Tal geschlichen hat.«

»Holen wir die Pferde!«, rief Andrew. »Und dann nichts wie ihm nach. Im Süden brauchen wir erst gar nicht nach ihm zu suchen. Er kann sich nur in die Berge geflüchtet haben und versuchen, in die Kolonie zurückzukommen. Denn nur dort kann er einigermaßen vor uns sicher sein.«

»Wenn er wirklich mit seinem Wagen geflohen ist, wird er uns nicht entkommen«, sagte Terence. »Zu Pferd werden wir ihn schnell einholen, auch wenn er noch so viele Stunden Vorsprung hat.«

»Sehen wir erst mal nach, ob sein Wagen noch da ist«, meinte Douglas.

»Ja, und ich muss noch mein Pferd holen«, sagte Terence.

»Gut, dann treffen wir uns bei Blakes Taverne«, schlug Andrew vor.

Stanley wollte mit den Männern die Verfolgung von Henry Blake aufnehmen, doch davon wollte keiner etwas wissen.

»Du bleibst schön hier und lässt dir von Abby die Wunden an deinen Armen auswaschen und verbinden!«, beschied Andrew ihn, um dann noch mit einem frostigen Unterton hinzuzufügen: »Und sie wird dir vielleicht noch das eine und andere ernste Wort sagen, mein Freund! Du und Emily, ihr habt euch also heimlich getroffen... Da hättet ihr auch den Mut haben sollen, offen mit uns darüber zu reden.«

»Lass es gut sein, Andrew«, sagte Abby besänftigend. »Ich werde das schon machen. Und kleine Kinder sind sie nun wahrlich nicht. Und erinnere dich doch mal daran, was wir auf Yulara getan haben, als uns das Herz brannte.«

Andrew sah sie mit gerunzelter Stirn an, lachte dann aber auf, als Abby nicht aufhörte, seinen Blick mit einem belustigten Lächeln zu erwidern.

»Schon gut«, brummte er und lief dann zum Stall, um einen ihrer Rotfüchse zu satteln. Dabei rief er Rosanna über die Schulter zu: »Bring mir das Gewehr! Vielleicht werde ich es brauchen ...«