Vierzehntes Kapitel

 

Ihre Hoffnungen wurden diesmal nicht enttäuscht, eher wurden ihre Erwartungen noch übertroffen. Das von den zwei kleinen Flussläufen und einigen klaren Quellen gut bewässerte Tal bot reichlich fruchtbares Land, in welche Richtung man sich auch begab. Eine ganze Hundertschaft von Siedlern hätte sich an diesem Ort niederlassen können, ohne dass sich jemand mit einer jener armseligen Parzellen hätte begnügen müssen, die Emanzipisten gewöhnlich in der Kolonie zugewiesen wurden. Und auch dann wäre noch mehr als genug freies Land für weitere großzügige Farmen übrig geblieben.

Unter der üppigen Vegetation stachen ganz besonders die vielen kleinwüchsigen Frangipani-Bäume hervor, die im Frühsommer über und über mit weißen Blüten übersät waren, in deren Mitte gelbe Herzen prangten und die einen angenehmen, sanften, milden Duft verströmten. Und dieses besondere Merkmal gab zwei Tage später, als sie hinunter ins Tal gezogen waren und an einem der klaren, knietiefen Flüsse ihr letztes gemeinsames Lager aufgeschlagen hatten, den Ausschlag, als sie darüber berieten, welchen Namen sie ihrer Siedlung geben wollten.

Es gab eine ganze Menge von ebenso kuriosen wie wohlklingenden Vorschlägen, unter denen die Namen Valley of Hope und New England mit zu den Favoriten gehörten. Aber als es schließlich zur Abstimmung kam, sprach sich die überwiegende Mehrzahl der Siedler für den ebenso schlichten wie passenden Namen Frangipani Valley aus. Den Flusslauf, der sich im Westen durch das Tal wand, tauften sie Emu Creek, weil sich dort mehrere Emus immer wieder zur Tränke einfanden. Dem etwas breiteren der beiden Flüsse gaben sie wegen der vielen rund gewaschenen Steine im Flussbett, über die das klare Wasser hinwegrauschte, den Namen Stony River.

»Und jetzt sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir die Aufteilung des Tals in einzelne Farmen vornehmen wollen, ohne dass es dabei zu Streit kommt«, sagte Silas Mortlock und schnitt damit das wohl wichtigste Thema ihrer abendlichen Beratung an.

»Wir können uns morgen früh bei Sonnenaufgang mit unseren Wagen doch in einer Reihe nebeneinander aufstellen und dann ein kleines Wettrennen zu den besten Plätzen veranstalten«, schlug Douglas Brown scherzhaft vor.

Gelächter erhob sich. Die Siedler waren sich wieder so nah und einander wohlgesonnen wie nie zuvor. Denn jeder wusste, dass es in ihrem Frangipani Valley gutes Land im Überfluss gab, sodass keiner Angst zu haben brauchte, zu kurz zu kommen.

»Ja, weil du mit deinen stämmigen Braunen dabei bestimmt ganz vorn liegen und das beste Stück Land ergattern würdest! Während jedem anderen, der so wie ich Ochsen vorgespannt hat, nur die zweite und dritte Wahl bleibt!«, antwortete Vernon Spencer mit gutmütigem Spott. »Nein, wenn du schon ein Wettrennen haben willst, bin ich eher dafür, dass sich jeder vier Markierungspfosten nimmt und dann zu Fuß auf den Weg macht, Little Brown!«

Die Vorstellung, welch komische Figur der kurzbeinige Farmer bei solch einem Wettrennen abgeben würde, sorgte erneut für allgemeine Heiterkeit. Dann jedoch kehrte eine ernsthaftere Stimmung in die Versammlung zurück. Und eine der ersten Übereinkünfte bestand darin, dass jede Familie Anspruch haben sollte, einen Zugang zu ausreichend fließendem Wasser zu erhalten. Auch wurde einstimmig beschlossen, dass niemand das Recht hatte, einen Wasserlauf umzuleiten oder zu stauen, um sich für Zeiten der Trockenheit Vorteile zu verschaffen. Zuwiderhandlungen sollten streng bestraft werden.

Zum Schluss einigten sie sich darauf, das Los darüber entscheiden zu lassen, in welcher Reihenfolge die Inbesitznahme des Landes vonstatten gehen sollte. Jedes Familienoberhaupt schrieb seinen Namen auf einen flachen Stein und warf ihn in einen

Holzeimer, der mit einem Tuch abgedeckt wurde. Einer der flachen Flusskiesel trug auch den Namen Emily McGregor. Andrew sollte für sie Land abstecken, das er treuhänderisch verwalten und ihr übergeben würde, wenn sie volljährig war - oder den Bund der Ehe einging.

Amy, die sechsjährige Tochter von Rosalyn und Frank Täte, wurde auserkoren, mit verbundenen Augen einen Stein nach dem anderen aus dem Eimer zu holen. Und dann sollte Silas Mortlock unter den scharfen Augen von Henry Blake und Douglas Brown den jeweiligen Namen ausrufen.

Der vierte Stein, den die kleine Amy aus dem Holzeimer griff, war der der Chandlers. Drei Steine später hörte dann auch Emily ihren Namen.

»Hoffentlich will keiner von den beiden anderen, die vor mir an der Reihe sind, ausgerechnet direkt neben der Chandler-Farm sein Land abstecken!«, sagte Emily bang, hoffte sie doch, ihr Land in unmittelbarer Nähe von der Heimstätte ihrer Pflegeeltern abstecken zu können.

»Ich glaube nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen musst«, antwortete Abby. »Das Tal ist so groß, dass niemand darauf versessen sein wird, dem nächsten Nachbarn schon in Steinwurfnähe auf der Pelle zu sitzen.«

Am folgenden Morgen, nach einer vor freudiger Erwartung unruhigen Nacht, zogen die Wagen in der Reihenfolge los, die das Losverfahren am Abend zuvor bestimmt hatte. Und schnell zeigte sich, dass sich jeder einen anderen Lieblingsplatz ausgeguckt hatte. Denn die Wagenkolonne löste sich wie ein weit auseinander gezogener Fächer in alle Richtungen auf. Und wer sah, dass der Platz, wo er sich gern niedergelassen hätte, schon von einem anderen Siedler in Besitz genommen war, der fuhr einfach ein Stück weiter und fand bald einen Ort, der ihm genauso gut gefiel.

Abby und Andrew zog es an das Ostufer des Stony River und sie befanden sich damit in unmittelbarer Nachbarschaft von

Megan und Timothy O'Flathery, Terence und Jessica Rigby und leider auch Henry Blake und seiner Frau Jane. Abby und Andrew lenkten ihren Wagen und den von Emily McGregor auf eine Anhöhe, die sich vielleicht eine viertel Meile vom Fluss entfernt erhob und mit Eukalyptusbäumen, Frangipanis und allerlei Gestrüpp so dicht bewachsen war, dass sie schon ein gutes Stück unterhalb der höchsten Stelle Halt machen mussten.

Sie wie auch die anderen Siedler wussten, zumeist aus eigener Erfahrung, wie wichtig es war, für das Herz ihrer Farm, die Heimstätte, einen möglichst hoch gelegenen und doch ausreichend ebenen Ort zu finden, um im Fall sintflutartiger Regenfälle vor jenen katastrophalen Überschwemmungen sicher zu sein, die in der Kolonie schon so manchen Siedler innerhalb weniger Tage um die Früchte jahrelanger Arbeit gebracht hatten.

»Hier werden wir unser Haus errichten!«, verkündete Andrew, der diesen Hügel schon im Auge gehabt und sich mit Abby besprochen hatte, noch bevor sie am Tag zuvor ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Zum Glück war ihnen keiner von den drei Siedlern, die vor ihnen hatten losziehen können, zuvorgekommen - wohl weil der Baumbestand und das umgebende Dickicht zu viel harte Rodungsarbeit erforderlich machten, bevor man damit beginnen konnte, hier ein Farmhaus zu errichten. Aber Abby und Andrew dachten anders. Zwar gab es in der Umgebung genügend andere Erhebungen, die zum Teil nur sehr wenige Bäume aufwiesen, doch diese Anhöhe hier war höher als alle anderen im Umkreis vieler Meilen. Und da sie ja sowieso viele Bäume fällen mussten, um aus den zugeschnittenen Stämmen ein Farmhaus zu errichten, brauchten sie diese nicht erst von einem der südlichen Waldstücke mühsam zu ihrem Bauplatz zu ziehen, sondern konnten gleich vor Ort die gefällten Bäume für den Hausbau verwenden.

Nachdem sie ihren Wagen im Schatten mehrerer hoher Gummibäume abgestellt hatten, holten sie die tags zuvor zurecht-geschnittenen, armlangen Markierungspflöcke hervor und steckten ihre Farm bis hinunter zum Fluss ab. Und für Emily McGregor taten sie an der Südgrenze ihres Landes dasselbe. Eine halbe Meile nördlich von ihnen sahen sie Megan und Timothy O'Flathery, wie auch sie Pflöcke in den Boden rammten. Und in südlicher Nachbarschaft schritten Terence und Jessica Rigby ihr Land ab. Noch ein Stück weiter flussabwärts, dort wo der Stony River einen weiten Bogen nach Osten machte, ließen sich Jane und Henry Blake nieder. Damit lagen zwischen den Grenzen der Chandler-Farm und der Blake-Farm nicht einmal zwei Meilen.

»Dass Henry Blake sich für seine Farm ausgerechnet Land in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ausgesucht hat, ist ja nicht gerade das, was ich mir gewünscht habe«, sagte Andrew recht verdrossen. »Mir wäre es lieber gewesen, er hätte sich drüben am Emu Creek niedergelassen.«

»Mir auch. Aber manche Dinge sind nun mal nicht zu ändern«, erwiderte Abby mit einem Achselzucken. »Zudem wird jeder von uns zu sehr mit dem Aufbau seiner Farm beschäftigt sein, um noch viel Zeit und Kraft zu haben, um anderen Ärger zu machen.«

Andrew lachte auf und nahm sie in den Arm. »Über einen Mangel an Arbeit werden wir uns wahrlich nicht beklagen müssen. Mein Gott, all das Land zu roden und wenigstens einen Teil noch rechtzeitig unter den Pflug zu nehmen, damit die Saat früh genug für eine erste Ernte im nächsten Sommer in die Erde kommt, und dazu noch möglichst schnell ein winterfestes Dach über dem Kopf zu errichten, das wird reinste Sträflingsarbeit!«

Abby nickte. »Weißt du noch, was der Gouverneur King, der erste Gouverneur der Kolonie, im Jahre 1800 jedem Sträfling als tägliches Arbeitspensum vorgeschrieben hat?«

»Aber natürlich!«, antwortete Andrew. »Er musste pro Woche den Baumbestand von einem Acre5 fällen, fünfhundert Pfähle von fünf Fuß Länge spalten oder achtzehn Bushel6 Weizen dreschen. Und das gilt auch heute noch.«

»Ich fürchte, dieses Pensum und vermutlich noch mehr werden wir uns nun freiwillig aufladen müssen, wenn wir hier nicht kläglich scheitern wollen«, sagte Abby.

Andrew drückte sie an sich. »Wir werden nicht scheitern, mein Liebling. Wir haben noch nie harte Arbeit gescheut, und wir werden hier etwas aufbauen, worauf auch noch unsere Kinder stolz sein werden!«, sagte er voller Zuversicht.

Nachdenklich und mit einem Gefühl von Stolz, aber auch mit einem Anflug von Beklommenheit blickte Abby an der Seite ihres Mannes über das Land, das sie ausgewählt hatten, das sie nun roden und urbar machen mussten - und das zu ihrer neuen Heimat werden sollte.

Würden sie hier das Glück und den Frieden finden, der ihnen am Hawkesbury verwehrt geblieben war?