Neuntes Kapitel

 

Die Nacht verlief ruhig und brachte keine unangenehmen Überraschungen. Es blieb trocken und windstill und hungrige Dingos auf Beutezug zeigten sich auch nicht in ihrer Nähe. Aber die Nachtstunden mit einem offenen Auge und einem wachen Ohr zu verbringen, wie Terence es sich vorgenommen hatte, erwies sich angesichts ihrer Erschöpfung als hoffnungslose Zumutung an ihren Körper. Denn dieser forderte unbekümmert seinen Tribut an Schlaf.

Erst in den frühen Morgenstunden, kurz vor dem Einsetzen der Dämmerung, holte sie die empfindliche Nachtkälte des australischen Winters aus den Tiefen ihres todesähnlichen Schlafs. Es war so bitterkalt geworden, dass sie sich nicht schämten, sich wie verängstigte Kinder, die sich in einem Wald verlaufen hatten, aneinander zu kauern, um sich mit ihrem Körper gegenseitig ein wenig Wärme zu spenden.

Früh, noch vor dem Aufhellen des Himmels im Osten, erwachte auch das Lager auf der anderen Seite des Flusses zu geschäftigem Treiben. Jeder wusste, dass ihnen ein langer Tag mit zahllosen Überfahrten über den Muddy River bevorstand, und man bereitete sich noch im Dunkel auf das erste Übersetzen vor.

Andrew und Terence legten sich noch einmal kräftig ins Zeug, um das Führungsseil, das sich im Laufe der Nacht im Wasser etwas gedehnt hatte, so straff wie möglich zu spannen. Dann gaben sie das Zeichen, dass ihre Kameraden am anderen Ufer nun die erste Fahrt mit dem Floß wagen konnten.

Dass Abby es sich nicht nehmen ließ, bei dieser ersten Überquerung mit der primitiven Fähre dabei zu sein, verstand sich von selbst. Sie hatte eine unruhige Nacht verbracht, in Gedanken mit ihrem Mann und Terence Rigby gelitten, und es drängte sie nun, ihnen endlich warme Kleidung und etwas Heißes zu essen und zu trinken zu bringen.

Als Erstes wurde der Wagen von Glenn Osborne und seiner Frau Cecile auf die Plattform bugsiert und mit Stricken festgezurrt, sodass er sich nicht beim Schwanken des Gefährts in Bewegung setzen konnte. Dann traten vier der kräftigsten Männer, unter ihnen Silas Mortlock und der bärenstarke Schmied Vernon Spencer, zwischen den beiden Führungsrollen an das Seil und begannen, das schwer beladene Floß auf den Fluss hinauszuziehen.

»Legt euch nur ordentlich in die Seile, Männer!«, rief Terence ihnen fast vergnügt über das Wasser zu, als er und Andrew beobachteten, wie sehr sie sich abmühen mussten, um das Floß gegen die Strömung über den Muddy River zu ziehen. Die Fähre aus Baumstämmen ragte kaum mehr als eine Handbreit aus den schnell dahinfließenden lehmbraunen Fluten auf, und gelegentlich schwappte eine Welle über den Rand und umspülte die schweren Stiefel der Männer, gurgelte um die Räder des Wagens und floss auf der anderen Seite der Plattform wieder ab.

Die Männer benötigten eine gute Viertelstunde, um das Floß über den Fluss zu ziehen. Diese erste Überquerung gab ihnen einen Vorgeschmack auf die Strapazen, die an diesem Tag noch auf sie warteten. Es war sogar fraglich, ob sie es an einem Tag überhaupt schaffen würden, alle Wagen, Pferde, Ochsen und das andere Vieh auf das andere Ufer überzusetzen.

Abby hatte sich vorsorglich die Stiefel ausgezogen und sprang, beladen mit einem Bündel Kleidern und einem Korb mit Essen, sofort vom Floß, sowie das Gefährt in knietiefes Ufergewässer glitt.

Andrew und Terence begrüßten sie mit großer Freude und Erleichterung. Eiligst fuhren sie in ihre warme Kleidung und machten sich dann mit Heißhunger über das Essen und den heißen Tee her, während Silas und die drei anderen Männer den Wagen vom Floß und hinauf auf ebenes Land zogen. Als es wieder zurück ans Ostufer ging, um den nächsten Wagen zu holen, waren sie mit an Bord, wurde jetzt doch jede kräftige Hand gebraucht, und sie hatten sich ihrer Meinung nach lange genug ausgeruht. Abby und auch Silas Mortlock sahen das zwar anders und hatten sie überreden wollen, noch eine Weile auf der anderen Seite zu bleiben und sich zu schonen, aber darauf hatten sich Andrew und Terence nicht eingelassen.

Die Rückfahrt mit dem unbeladenen Floß ging rasch vonstatten, hängten sich doch jetzt sechs kräftige Männer an das Seil. Schon bevor sie auf der anderen Seite eintrafen, schallten ihnen ärgerliche Stimmen entgegen, die von einem handfesten und lautstarken Streit zwischen Henry Blake und dem kleinwüchsigen Arthur Watling kündeten.

Wie sich herausstellte, hatte Henry Blake den Streit heraufbeschworen. Während alle anderen mit banger Spannung die erste Überfahrt beobachtet hatten, war er auf den Kutschbock seines Planwagens gestiegen und hatte ihn aus einer der hinteren Reihen einfach vorgezogen und ihn vor das Fuhrwerk von Arthur Watling gestellt, das eigentlich als nächstes über den Fluss gebracht werden sollte. Ein typisches Beispiel seines Egoismus und seiner unkameradschaftlichen Eigenmächtigkeit.

»Blas dich doch bloß nicht so auf, du Zwerg!«, drohte Henry Blake gerade und baute sich vor Arthur Watling auf, als Abby, Andrew und die anderen vom Floß an Land sprangen. »Wenn sich hier einer vorgedrängt hat, dann bist du das gewesen! Immerhin wäre ich heute im Treck an zweiter Stelle gefahren, während du Frosch...«, er tippte ihm mit steifem Zeigefinger so hart vor die Brust, dass Arthur Watling unwillkürlich einen Schritt zurück machte, »... ein halbes Dutzend Wagen hinter mir meinen Staub gefressen hättest!«

Seine Frau Jane schüttelte dazu nur verständnislos den Kopf, wagte jedoch nicht, ihren Mann zum Einlenken zu bewegen, fürchtete sie doch, seinen Jähzorn auf sich zu ziehen. Dann musste sie mit Schlägen rechnen.

»Darum geht es überhaupt nicht!«, protestierte Arthur Watling erbost. »Mir ist es völlig gleich, wer vorn und wer hinten fährt und wer hier wann über den Fluss kommt! Was mich stört, ist, dass du immer meinst, aus der Reihe tanzen zu können! Die Wagen sind gestern nun mal anders aufgestellt worden. Und weil dir das nicht gepasst hat, hast du dich mit deinem Wagen einfach vorgedrängt!«

»Ja, sag dem Großmaul nur die Meinung!«, rief Stuart Fitzroy, und auch andere bedachten Henry Blake mit aufgebrachten Zurechtweisungen.

Silas Mortlock griff nun ein und machte dem Streit kurz und energisch ein Ende, indem er, an Henry Blake gewandt, sagte: »Bitte, nur zu, Henry! Bring deinen Wagen selber über den Fluss, wenn du nicht warten kannst, bis du an der Reihe bist. Aber keiner von uns wird dabei mit dir am Seil stehen!« Das beifällige Kopfnicken der anderen Männer bestätigte, dass niemand auf Henrys Seite war. »Also, was ist? Entscheide dich, und zwar schnell! Wir haben keine Zeit zu vertrödeln.«

Wütend presste Henry die Lippen zusammen und gab sich geschlagen. »Wirklich eine feine Gesellschaft, in die ich da geraten bin«, murmelte er ergrimmt vor sich hin, während Silas Mortlock und seine Crew sich daran machten, das Fuhrwerk von Deborah und Arthur Watling sicher auf das schwankende Floß zu bringen. Er selbst tat dazu keinen Handschlag. Doch bei der Überfahrt packte auch er mit an und leistete seinen Einsatz am Seil auf dem Floß.

Abby beobachtete ihn im Laufe des Tages argwöhnisch. Aber so unsympathisch ihr seine großspurige und selbstsüchtige Art auch war, so musste sie doch anerkennen, dass er sich nicht vor harter Arbeit drückte. Im Gegenteil, an diesem langen, mühseligen Tag weigerte er sich mehrmals, sich am Seil ablösen zu lassen. Es war, als wollte er damit wieder gutmachen, was er sich am Morgen bei vielen von ihnen verscherzt hatte.

Und dennoch blieb in ihr ein starkes Unbehagen zurück. Ein dermaßen selbstsüchtiger und unbeherrschter Mann, der sich nicht einordnen konnte und der in allen Dingen stets seinen Kopf durchsetzen wollte, war in einer Schicksalsgemeinschaft wie der ihren wie ein Dorn im Fleisch. Und bekanntlich führte ein solcher Dorn nicht selten zu bösartigen Entzündungen, sodass schließlich nur ein schmerzhafter chirurgischer Schnitt Abhilfe schaffen konnte.

Es blieb nur zu hoffen, dass Henry Blake noch selbst zur Vernunft kam, bevor er größeren Schaden anrichtete.