15
»Der Gelehrte empfindet
für ein Wesen, das nicht einmal wirklich lebt, viele Schuldgefühle
und große Verzweiflung«, sagte Jes, der sich selbst zur Eskorte für
Seraph und Hennea erklärt hatte, als sie wieder zur Bibliothek
gingen. Alle anderen, der Hund eingeschlossen, hatten sich
aufgemacht, um die Umgebung zu erforschen.
»Hinnum hat ihn geschaffen«, antwortete Hennea,
bevor Seraph etwas sagen konnte. »Er war der größte Zauberer von
Colossae. Ich nehme an, wenn er die Mermori
herstellen konnte, war er auch imstande, eine Illusion zu schaffen,
deren Empfindungen für Empathen spürbar sind.«
»Aber warum sollte er das bei jemandem tun, der nur
dazu dient, Informationen über die Bibliothek weiterzugeben?« Das
war eine für Jes’ Verhältnisse sehr vernünftige Frage.
»Hast du deshalb darauf bestanden, heute
mitzukommen?«, fragte Seraph. Auch sie konnte sich durchaus
vorstellen, dass eine von Hinnum geschaffene Illusion nicht die
üblichen Einschränkungen hatte, aber sie musste Jes’ Logik
zustimmen.
»Der Hüter traut ihm nicht, weil er keinen Geruch
an sich hat«, fuhr Jes schulterzuckend fort. »Ich habe ihm erklärt,
dass der Gelehrte eine Illusion ist, aber weder der Hüter noch ich
finden, dass eine Illusion sich so sehr für Hennea interessieren
sollte.«
Als sie in der Bibliothek eintrafen, befand sich
der Gelehrte nicht im Hauptraum, aber auf einem der Tische lag ein
aufgeschlagenes Buch.
Seraph griff danach. Es schien eine allgemeine
Abhandlung über eine Art von Zauber zu sein, geöffnet bei einem
Kapitel über die »Aspekte des Menschen« - was immer das bedeuten
sollte. Aber der Gelehrte hatte es offensichtlich für sie
herausgelegt, also fing sie an zu lesen.
Hennea spähte ihr über die Schulter, dann ging sie
zu einem der Regale und begann, die Buchtitel zu überfliegen. Jes
tigerte eine Weile ruhelos hin und her.
Schließlich blieb er vor Seraph stehen.
»Wenn du dich ein bisschen umsehen willst, dann tu
das«, sagte sie, ohne aufzublicken. »Aber sei vorsichtig. Wir
kommen schon zurecht. Es sieht nicht so aus, als käme der Gelehrte
heute heraus.«
Er schnupperte kurz. »Also gut«, sagte er. »Aber
ich werde bald wieder da sein.«
Sie hörte seine raschen Schritte auf der Treppe und
dann das Klicken, als die Außentür hinter ihm zufiel.
»Ich habe die Geschichte vom Pirschgänger gestern
nicht zu Ende erzählt«, erklang die Stimme des Gelehrten, sobald
Jes verschwunden war.
Seraph blickte von ihrem Buch auf und sah die
Illusion vor Hennea stehen.
»Und auch nicht, warum die Zauberer gezwungen
waren, die Stadt zu opfern«, fügte er hinzu.
»Nein«, sagte Hennea und steckte ein Buch, das sie
herausgeholt hatte, wieder ins Regal. »Ich habe mich schon gefragt,
warum du das nicht getan hast.«
Der Gelehrte starrte sie mit diesem dünnen Lächeln
an, das offenbar mehr eine Maske als ein wirklicher
Gesichtsausdruck war. »Macht es euch bequem, und ich werde es
erzählen.«
Seraph legte ihr Buch beiseite und setzte sich ans
andere Ende der Bank, für die Hennea sich entschieden hatte.
»Der Weber schuf eine Bindung, die sowohl ihn als
auch seinen Zwilling davon abhalten würde, direkt mit seinen
Schöpfungen in Kontakt zu treten. Aber er konnte sie nicht
vollkommen isolieren, denn irgendwann würde ihre Macht sich weiter
aufbauen und die Bindungen zerstören. Also schuf er außerdem sechs
Götter, die die Macht des Webers und des Pirschgängers
kontrollieren sollten.«
Der Gelehrte hielt inne.
»Die Weisungen«, sagte Hennea heiser. Seraph konnte
sich nicht so recht erklären, wieso das, was der Gelehrte ihnen
erzählte, den anderen Raben so durcheinanderbrachte. »Der Rabe, die
Eule, der Falke, der Adler, die Lerche und der Kormoran. Magie,
Musik, Jagd, der Hüter, Heilen und Unwetter.«
»Magie, Musik, Jagd, Krieg, Heilen und Wind«,
verbesserte der Gelehrte.
»Die Hüterweisung hat nichts damit zu tun, Soldat
zu sein«, widersprach Hennea.
»Nein«, sagte der Gelehrte, aber er erklärte seine
Antwort nicht weiter.
»Etwas hat die Bindungen des Pirschgängers
zerbrochen«, vermutete Seraph. »Die Zauberer opferten die Stadt, um
den Pirschgänger neu zu binden. Nicht, weil sie ihn geschaffen
hatten, sondern weil etwas, was sie losgelassen hatten, den Gott
der Zerstörung befreit hatte.« Das hatte man ihr zumindest
beigebracht.
»Die Götter beherrschten diese Welt lange Zeit«,
fuhr der Gelehrte fort, und Seraph hätte nicht sagen können, ob er
ihre Worte auch nur bemerkt hatte. »Lange genug, dass ein kleines
Dorf zu einem Städtchen wurde und dann zu einer großen Stadt. Lange
genug für die Zauberer, um überheblich zu werden und sich von der
Anbetung der Götter abzuwenden. ›Was
nützt es schon, zum Kormoran zu beten, der antworten wird oder
auch nicht?‹, fragten sie sich. ›Wenn man Gold zu Korsack oder
Terilia oder den anderen Windhexern bringt, werden sie tun, was man
will, solange man der erste Kunde ist oder mit dem Gold am
großzügigsten.‹«
Der Gelehrte streckte kurz die Hand aus, als wolle
er Hennea berühren, aber dann legte er beide Hände wieder auf den
Rücken.
»Es half auch nicht, dass die Götter nicht mehr
gaben, womit sie einmal so freigiebig gewesen waren. Die große
Stadt hatte kein intensives Bedürfnis nach einem legendären Krieger
oder einem begabten Heiler. Sie waren nicht abhängig von ihren
Ernten, also brauchten sie keinen von den Göttern begünstigten
Wettermagier. Die Götter gaben entsprechend weniger und wurden
weniger angebetet, aber sie waren nicht unzufrieden mit Colossae -
vielleicht waren sie einfach nur gleichgültig.«
Der Gelehrte schloss die Augen. »Bis auf den Raben,
denn Colossae war ihre Stadt. Die Stadt der Zauberer.«
Ganz gleich, was ihre Magie ihr sagte, Seraph
konnte immer weniger glauben, dass sie eine Illusion vor sich hatte
- oder nur eine Illusion.
»Kinder wurden an ihren Namenstagen zum Tempel des
Raben gebracht«, berichtete der Gelehrte leise weiter. »Die
Priester des Raben sagten den Eltern, ob ihre Kinder zur Zauberei
begabt waren oder nicht. Wenn Letzteres der Fall war, verriet das
Orakel ihnen, welche Art von Zauberei die Spezialität des Kindes
sein würde. Manchmal kam der Rabe selbst und segnete ein Kind mit
einem Geschenk seiner eigenen Magie, die es nutzen konnte, ohne
studieren oder Rituale verwenden zu müssen.«
»Wie bei der Weisung des Raben«, sagte
Seraph.
»Ja.«
Alle schwiegen nun.
»Was geschah dann?«, flüsterte Hennea schließlich
eindringlich und beugte sich nach vorn. »Es muss etwas
Schreckliches gewesen sein.«
»Ja.« Der Gelehrte trat einen halben Schritt von
Hennea zurück. »Etwas Schreckliches geschah. Es gab einen jungen
Mann. Er hatte die Macht, ein erfolgreicher Zauberer zu sein, denn
er war von der Göttin selbst gesegnet worden, aber er hatte keine
rechte Motivation dazu. Er lernte nicht - er musste auch nicht
lernen, um seinen Lebensunterhalt verdienen zu können, denn sein
Vater war ein großer Zauberer und verfügte über beträchtlichen
Wohlstand.«
Er wandte ihnen den Rücken zu und starrte die
langen Bücherreihen an. »Dieser Junge verliebte sich in ein
Mädchen, das ihn ebenfalls liebte - solange das Gold seines Vaters
mehr war als das aller anderen Bewerber. Dann kam der Tag, an dem
sie einen reicheren Mann fand. Als der Junge Rechenschaft forderte,
sagte sie, sie ziehe einen Mann vor, der sich mit den Kampfküsten
auskenne, und keinen halb ausgebildeten Zauberer.«
Der Gelehrte seufzte. »Der junge Mann konnte es
nicht ertragen, so abgewiesen zu werden. Wenn sie einen Kämpfer
wollte, dann würde er eben ein Kämpfer werden. Aber bedenkt, dass
er ein fauler junger Mann und daran gewöhnt war, sich zu kaufen,
was er haben wollte. Statt einen Lehrer einzustellen und zu lernen,
ging er also zum Tempel des Kriegsgotts.«
»Der Adler«, sagte Seraph.
»Aythril, der Gott des Krieges«, ergänzte der
Gelehrte, der ihnen immer noch den Rücken zugewandt hatte. »Die
Priesterin des Kriegsgotts lachte über die Bitte des jungen Mannes,
ihn zu einem Krieger zu machen. Der Kriegsgott würde seine Gunst
niemandem schenken, der ihrer so offensichtlich nicht
würdig war. Die Priesterin sagte dem Jungen, wenn er ein Jahr und
einen Tag übe, werde sie den Kriegsgott um Hilfe für ihn bitten.
Der Junge war wütend und beleidigt, denn er war stolz.«
Der Gelehrte beugte den Kopf. »Er ging zu seinem
Vater, dem alten, mächtigen Zauberer. Die Leute verhielten sich
diesem Mann gegenüber immer sehr vorsichtig, denn er war schnell
beleidigt - und die Worte der Priesterin trafen ihn heftig.«
»Hinnum?«, fragte Seraph.
Der Gelehrte drehte sich wieder um und sah Seraph
an. »Nein, nicht Hinnum, obwohl auf seinen Schultern genügend
Sünden lasten. Der Zauberer hieß Ontil der Pfau. Er betrachtete die
Worte der Priesterin als einen Angriff auf seine Stellung, und
daher schwor er, sich zu nehmen, was die Priesterin nicht
freiwillig gab. Er vergrub sich hier«, - der Gelehrte machte eine
Geste, die die gesamte Bibliothek umfasste -, »und für ein Jahr
studierte er die obskursten Schriften.«
Wieder sah er Hennea an, obwohl sie seinen Blick
nicht einmal erwiderte. Sie starrte ihre Hände an.
»Der alte Zauberer war in seinen Anstrengungen
nicht allein. Die Menschen mochten ihn nicht besonders, aber wie
ich schon sagte, er war mächtig, und es gab viele, die ihn
fürchteten oder seine Gunst suchten. Eines Abends beschwor er
zusammen mit vier geringeren Magiern die Macht des Kriegsgotts auf
seinen Sohn herab. Aber die Macht des Kriegsgotts lässt sich nicht
einfach festhalten - an diesem Abend starben fünfzig Magier.
Fünfzig Magier und ein Gott.
Erinnerst du dich, Rabe?« Der Gelehrte beugte sich
vor und berührte Hennea leicht an der Schulter.
Seraph zog die Brauen hoch, aber an der Berührung
des
Gelehrten war nichts Magisches, das hätte sie gespürt. Warum
glaubte er, dass Hennea sich an etwas davon erinnern würde?
Hennea zuckte vor seiner Hand zurück und stand auf.
»Danke«, sagte sie distanziert. »Ich werde einen Spaziergang
machen.«
Der Gelehrte sah zu, wie Hennea die Treppe
hinunterging, und blickte ihr weiter hinterher, bis das Geräusch
der Außentür erklang, die sich wieder schloss.
»Du bist nicht nur eine Illusion«, stellte Seraph
fest.
Der Gelehrte sah sie an, und nun hatte er kein
Lächeln mehr auf den Lippen. »In dieser Nacht wurde ein Kind
geboren. Ein kleines Mädchen. Zorn, wie kein Kind ihn haben sollte,
verlieh ihrer Stimme Macht - der Zorn eines ermordeten Gottes -,
und die Wände bebten von der Kraft, die in den Schreien dieses
Kindes lag. Man brachte die Kleine zum Tempel der Lerche, wo die
Lerche selbst sie in Schlaf versetzte, bis etwas getan werden
konnte.«
Seraph gab ihre vage Absicht auf, Hennea zu folgen.
»Der Hüter«, sagte sie.
Der Gelehrte schüttelte den Kopf. »Du hast es
beinahe verstanden. Wir hielten die Götter für unsterblich. Aber
Ontil bewies uns das Gegenteil. Nur der Pirschgänger und der Weber
sind unsterblich. Und der Teil, der von ihnen kam und der den Adler
zum Gott machte, überlebte den Tod des Kriegsgotts, wenn auch
gebrochen und zerrissen und besudelt vom Zorn des ermordeten
Gottes.«
»In dem Kind.«
»Jahre vergingen.« Er widmete Seraph nun die
gleiche intensive Aufmerksamkeit, die er zuvor Hennea geschenkt
hatte. »Jahre, in denen den Zauberern klar wurde, dass der Gott der
Zerstörung wieder erwachte. Nicht nur in Colossae, sondern überall
auf der Welt hörte man von Bergen, die einstürzten, und Meeren, die
sich über ihre Küsten erhoben.
Hinnum, der größte Zauberer der Stadt, ging zum
Raben und bat um Hilfe - wie er es sein ganzes langes Leben getan
hatte.«
»Er war vier Jahrhunderte alt«, sagte Seraph.
Die Augen der Illusion blitzten verärgert auf.
»Viereinhalb. Ich - er kniete vor ihrer
Statue in ihrem Tempel nieder und flehte um Hilfe.« Seraph
erkannte, dass seine Augen nicht von Ärger allein glänzend geworden
waren, denn nun lief ihm eine Träne über die Wange. »Sie ging gerne
mit ihm in den Gärten hier spazieren, denn Hinnum war ihr Favorit.
Sie argumentierten und zankten sich wie Kinder, und als Hinnums
dritte Frau starb, die er von allen am meisten geliebt hatte, hat
sie ihn die ganze Nacht im Arm gehalten, während er weinte.«
»Sie liebte ihn«, flüsterte Seraph.
»Wie einen Sohn«, sagte er. »Ihr Liebster, ihr
Gefährte war der Adler.«
Seraph schnappte entsetzt nach Luft, so versunken
war sie in seine Geschichte. »Und die Zauberer hatten genau jene
Gaben, die sie ihnen geschenkt hatte, genutzt, um ihn zu
töten.«
Der Gelehrte nickte. »Sie gab sich selbst die
Schuld, und uns.« Er schloss kurz die Augen. »Sie war so wütend.
Während Hinnum betete, hörte er, wie andere hereinkamen, aber bis
die Eule sprach, war ihm nicht klar gewesen, wer da den Tempel des
Raben betreten hatte. Es war das erste Mal, dass er einen der
anderen Götter sah.«
Er setzte sich neben Seraph und nahm ihre Hände in
die seinen. »Die Eule war … sie war wie dein Mann. Sie half mir
auf, sodass ich wieder aufrecht stand, und ich sah die anderen.« Er
hielt inne, und Seraph kam zu dem Schluss, ihn nicht darauf
hinzuweisen, dass er wiederum behauptete, Hinnum zu sein. Sie würde
warten, bis er mit dem fertig war, was er ihr zu erzählen hatte.
Hinnum, dachte sie, Hinnum würde
wissen, wie sie Tier retten und den Schatten töten konnte - und
irgendwie war diese Illusion Hinnum.
»Der Jäger war kein besonders hochgewachsener
Mann«, sagte der Gelehrte gerade, »und er sprach auch nicht viel,
aber wenn er im Raum war, war ich mir seiner immer bewusst, selbst
der Gegenwart der anderen Götter. Der Kormoran glich der Statue in
seinem Tempel - das taten sie eigentlich alle -, aber der Kormoran
sah aus, als gehöre ein Lächeln auf sein Gesicht. In dieser
Situation lächelte er nicht, aber ich konnte sehen, dass ihm ein
freundlicher Gesichtsausdruck am vertrautesten war. Die Lerche
mochte ich nicht - ich weiß nicht, warum. Vielleicht lag es an der
Art, wie sie das Kind hielt, das in ihren Armen schlief, das kleine
Mädchen, das den Zorn und die Macht des Kriegsgottes in sich trug -
sie hielt es, als wäre es ein Stein oder ein Felsblock und nicht
ein Kind, das wegen der Sünden anderer litt.«
Der Gelehrte ließ Seraphs Hände wieder los und
schlug die Hände vors Gesicht. »Die Eule rief meine Herrin und
zwang den Raben, ihrem Ruf zu folgen. Ah, wenn ich doch vor diesem
Tag hätte sterben können!«
Er seufzte und ließ die Arme schlaff an den Seiten
herabfallen. Als er weitersprach, setzte er seine Geschichte mit
größerer Distanziertheit fort.
»Als der Rabe kam, zeigte die Lerche ihm das
schlafende Kind und sagte: ›Ich bin nicht mächtiger, als dein
Gefährte es war, Rabe. In einem Monat werde ich seinen Zorn in
diesem Kind nicht mehr zum Schlafen bringen können. Und dann wird
seine Macht diese Welt verwüsten, und nichts wird sie aufhalten
können.‹
›Es geht nicht um dieses Kind oder um den Adler‹,
sagte der Kormoran. ›Es geht um den Weber und den Pirschgänger. Der
Tod des Adlers hat die Bindungen, die sie halten, geschwächt. Wir
müssen das Gleichgewicht wiederherstellen.‹«
Der Gelehrte senkte den Kopf. »Dann sprach der
Weber. Ich weiß nicht, was er sagte, denn seine Stimme überwältigte
mich, und ich verlor das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam,
war nur noch der Rabe da, saß neben mir und strich mir übers
Haar.«
Wieder liefen dem Gelehrten Tränen über die Wangen,
aber er schien sie nicht zu bemerken. »Der Rabe sagte: ›Wir geben
euch Sterblichen die ganze Zeit kleine Stücke unseres Götterseins -
ihr nennt sie Geschenke: Ein kleines Kind, das einen Ton perfekt
halten kann, ein Krieger, dessen Reflexe schneller sind als die der
meisten, eine Hebamme, deren Patientinnen nie an Kindbettfieber
sterben.‹« Der Gelehrte unterbrach sich einen Moment, denn seine
Stimme war zu belegt, als dass er fortfahren konnte.
»Sie hat die anderen Götter getötet«, sagte Seraph
verblüfft, als ihr klar wurde, was geschehen sein musste.
»Ellevanal sagte, die Reisenden hätten ihre Götter getötet und sie
verschlungen, und er hatte recht.«
»Wir töteten sie, der Rabe und ich«, stimmte der
Gelehrte zu. »Sie entschieden sich zu sterben, weil dies die
einzige Möglichkeit war, das gesamte Sein zu retten. Sie opferten
sich, und ihre Seelen flogen davon und ließen nur ihre Macht
zurück. Der Rabe zeigte mir, wie ich diese Macht aufteilen und an
die Weisungen binden konnte, damit sie, wenn ihre sterblichen
Träger starben, einen anderen Weisungsträger finden würden.«
»Aber die Macht des Adlers war anders«, flüsterte
Seraph. »Er war kein freiwilliges Opfer gewesen und wollte seine
Macht nicht gehen lassen.« Mein armer Jes,
dachte sie. »Empathen. Du hast Empathen die Macht und den Zorn des
Kriegsgotts gegeben.«
Als Hennea aus der Bibliothek rannte, wusste sie
nicht einmal, was sie so aufgeregt hatte, nur, dass sie es nicht
ertragen
konnte, noch ein einziges weiteres Wort von dem Gelehrten zu
hören. Die Flut von Zorn, von Schmerz, war so gewaltig - und Hennea
hatte keine Ahnung, wo sie hergekommen war.
Sie ging rasch umher und hatte dabei kein anderes
Ziel, als sich körperlich zu ermüden und Gelegenheit zu erhalten,
ein wenig mehr nachzudenken. Ruhig zu werden. Ein Rabe sollte nicht
zulassen, dass er sich so aufregte. Schreckliche Dinge geschahen,
wenn ein Rabe die Beherrschung verlor.
Sie folgte einem schmalen Weg hinter eine
Rosenhecke, fand einen kleinen Brunnen und setzte sich davor auf
eine Steinbank. Die Rosen in der Hecke waren weit zur Sonne
geöffnet, sonderten aber keine Spur von Duft ab.
Es dauerte lange, aber schließlich drang der Friede
der Szenerie ihr bis in die Knochen, und sie fühlte sich wieder
mehr wie sie selbst. Sie steckte eine Hand ins Wasser des Brunnens
und zog sie dann wieder heraus, damit sie trocknete. Es gab eine
Zeitbarriere zwischen ihrer Hand und dem kühlen Wasser, in dem
einmal kleine Fische gelebt hatten. Sie konnte das Wasser nicht
berühren, weil es nicht in dieser Zeit existierte, jedenfalls nicht
wirklich.
Die Erinnerung daran, wie dieser Zauber
funktionierte, gehörte ihr. Sie konnte ihn brechen, wenn sie
wollte. Sie erinnerte sich nicht, wo sie das gelernt hatte; gestern
hatte sie es noch nicht gewusst.
Sie hörte ihn nicht kommen. Sie bemerkte ihn nicht,
bis er die Hand um ihr Handgelenk schloss und sie auf die Beine
zog.
»Jes?«, flüsterte sie, aber sie wusste es besser.
Die Hand, die sie so sorgfältig gepackt hatte, brannte vor
Kälte.
»Nein.« Der Hüter sah ihr ins Gesicht, während
nackte Angst über sie hinwegwusch, durch sie hindurchfuhr, ohne sie
wirklich zu berühren, denn sie konnte ihn niemals fürchten. »Jes
ist, wo ihm nichts wehtun kann.«
Sie hatte sich geirrt - sie war nicht immun gegen
Angst. Die Worte des Hüters erschreckten sie.
»Das darfst du nicht tun«, sagte sie. »Du kannst
ihn nicht wegschließen. Er ist ein Empath - er muss bei dir
sein.«
Der Hüter verzog den Mund zu einem Ausdruck, den
sie noch nie auf Jes’ Gesicht gesehen hatte, obwohl sie ihn kannte.
Es war ihr schmerzlich vertraut. Wo hatte sie das schon einmal vor
Augen gehabt?
»Ich brauche keine Ratschläge von dir, wie ich Jes behandeln soll«, sagte der Hüter,
und ihr wurde schließlich klar, dass er wütend auf sie war - so wütend, dass er Jes davon hatte
ausschließen müssen.
»Was ist denn?«, fragte sie. »Sind Tiers Anfälle
schlimmer geworden?«
Er fauchte sie an, das Zischen einer zornigen
Bergkatze aus einem Menschenmund, dann drehte er sich auf dem
Absatz um, ging davon und zerrte sie hinter sich her.
»Papa stirbt - oder wusstest du das nicht?« Seine
Stimme war leise und drohend. »Bedeutet dir das nichts?«
»Du solltest mich besser kennen«, sagte Hennea und
versuchte, seinen Zorn mit ihrer Beherrschung zu beantworten.
Als wäre ihre ruhige Stimme mehr, als er ertragen
konnte, riss der Hüter sie zu sich herum und schüttelte sie kurz.
Diese kleine Gewalttätigkeit schien seine Frustration jedoch nur
noch zu vergrößern - er knurrte tief und zornig.
Er senkte den Kopf und küsste sie. Es war ein
harter Kuss, aus Zorn geboren. Sie fühlte, wie ihre Unterlippe
unter dem Druck aufriss. Als er ihr Blut schmeckte, zögerte er,
dann stieß er sie von sich weg, ließ aber ihr Handgelenk nicht
los.
Er blieb noch einen Moment reglos stehen, dann ging
er weiter. »Papa lässt seine Laute im Gepäck, und meine Mutter
weint sich jeden Abend in den Schlaf. Beide verstellen sich
den ganzen Tag, damit sie uns nicht wehtun.« Seine Stimme war so
leise, dass sie sie ebenso spürte, wie sie sie hörte.
»Das ist jetzt nicht anders als heute früh«, sagte
Hennea. »Aber deine Mutter und ich kommen den Antworten, die wir
brauchen, näher. Wir wissen, wer der Schatten ist. Hüter …«
Sie brach ab, denn plötzlich erkannte sie die
Straßen, über die der Hüter sie führte, sie wusste, wohin sie
gingen - und sie hatte keine Ahnung, woher das kam.
Sie blickte auf zu Jes’ Gesicht und sah, dass der
Hüter ihr jetzt nicht zuhören würde, nicht, solange er seine Wut
nicht ausgetobt hatte - und vielleicht nicht einmal dann. Es war
nicht gut, dass er Jes nicht an die Oberfläche ließ. Starke Gefühle
bildeten eine solche Gefahr für den Adler: Liebe, Hass … und
Verrat. Wie er ihr Handgelenk gepackt hielt, gab ihr allerdings
Hoffnung: Nicht ein einziges Mal war sein Griff fest genug gewesen,
um ihr einen blauen Fleck zu verursachen.
Sie behielt diese Hand im Auge und ließ sich von
Jes zum Ende der Straße führen, wo ein Tempel stand, der ganz
ähnlich aussah wie der, den sie an ihrem ersten Tag in Colossae
gefunden hatten. Jes zerrte sie durch die offenen Türen des Tempels
in einen Vorraum mit dicken Teppichen. Dann gingen sie über eine
zweite Gruppe von Stufen, vier davon, und durch einen anderen
Eingang in den Hauptraum. Er blieb nicht stehen, als die Teppiche
weißem Marmorboden wichen, sondern zog Hennea zum anderen Ende des
Raums. Er packte ihre Schulter mit der freien Hand und brachte sie
vor sich, sodass sie direkt vor der schwarzen Marmorstatue des
Raben stand, die sich auf dem Podium des Tempels befand.
Wie ihre Schwestergöttin, die Eule, war der Rabe
nur in einen Rock mit einem Gürtel gekleidet, auf dessen Schnalle
ihr Zeichen angebracht war, aber es gab an dieser Statue keine
Farbe. Eine Hand ruhte an ihrer Seite, und auf der anderen,
zum Raum erhobenen, saß ein Rabe mit Rubinaugen. Im Kontrast zu
dem fröhlichen Ausdruck der Eule war das Gesicht der Rabengöttin
gelassen - rabenhaft.
Ihre Züge waren die von Hennea.
»Auf dem Gürtel steht Alhennea«, sagte der Hüter.
Jes hätte den Gürtel nicht lesen können. »Hast du deinen Namen
verkürzt, als du zu meiner Familie kamst? Warum bist du zu uns
gekommen? Hast du dich gelangweilt? Wolltest du eine Weile mit den
Leben von Sterblichen spielen?«
Der Schock ließ sie wie erstarrt dastehen, dann
sackte sie unter dem plötzlichen Gewicht der Erinnerungen, die
Hinnum ihr vor langer Zeit gestohlen hatte, zu Boden. Sie prallte
fest auf, und trüb wurde ihr bewusst, dass sie morgen blaue Flecke
haben würde.
Stärker als die Erinnerungen jedoch waren die
dazugehörigen Gefühle.
»Ich kenne dich überhaupt nicht«, fauchte er, und
so üppig ihr eigenes Bankett der Verzweiflung auch sein mochte, sie
hörte ihn dennoch, hörte die Qual unter dem Zorn in seiner Stimme.
»Du hättest meinen Vater heilen können. Du hättest den Schatten in
Taela töten und Phoran vor dem Memento retten können.« Er fuchtelte
mit den Armen, und sie sah eine Spur von Jes in den Augen des
Hüters. »Du hättest den Pfad zerstören können, schon bevor er
entstand. Du hättest den Clan meiner Mutter retten können.«
»Jes«, sagte sie heiser. »Ich bin nicht sie.«
»Doch, das bist du«, widersprach er störrisch, und
nun war es Jes, dem sie gegenüberstand. »Glaubst du, weil ich deine
Gefühle nicht lesen muss, wenn ich dich
berühre, dass ich es überhaupt nicht könnte? Ich habe gespürt, wie
du diesen Ort wiedererkannt hast. Du kanntest ihn. Du bist
sie.«
Wieder wurde ihr Blick von der Statue angezogen.
»Ich - ich glaube, ich war es einmal.«
Wieder blickte sie Jes an und suchte nach Worten,
die den mörderischen Schmerz in seinen Augen dämpfen würden. Er
hörte zu, hörte sie, während der Hüter ihn nur vor ihr schützen
wollte. Seraph hatte recht gehabt: Ihr Sohn war stark. Es gab nicht
viele mit der Weisung des Adlers, die einem Hüter die Kontrolle
entringen konnten.
»Ich werde vor deinem Vater schwören, der immer
noch Barde ist, dass ich bis vor einem Moment nicht wusste, wer ich
war.« Sie hätte noch mehr gesagt, aber eine Erinnerung überwältigte
sie. Sie schrie auf, ein schaudernder, unartikulierter Schrei, und
beugte sich vor, bis sie mit der Stirn auf den Marmorboden schlug.
Ein Teil von ihr spürte den Schmerz, aber das klare Bild eines
roten Flecks, der sich auf dem bunten Rock der Eule ausbreitete,
beanspruchte den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit. Sie konnte den
kühlen Griff des Messers beinahe spüren.
Dann befand sie sich wieder in der Gegenwart, und
Jes schmiegte sich an sie und zog sie auf seinen Schoß.
»Ich habe dich nie verraten, Jes. Ich spiele nicht
mit Menschen, die ich … mit Menschen, die ich liebe«, brachte sie
heraus. »Ich habe diese Art von Macht nicht mehr, ich habe sie
weggegeben.« Die Worte kamen schneller und schneller. »Wir nahmen
meine Macht und teilten sie auf, sodass sie im Gleichgewicht mit
der der anderen war. Es gab keinen Kriegsgott mehr, und so mussten
die anderen Götter ebenfalls sterben. Ich musste für den Bann
sorgen, der die Stadt opferte; niemand sonst wusste, wie sie es tun
sollten. Aber ich hätte ebenfalls sterben sollen; Hinnum schwor, er
würde mich umbringen, aber ich glaube, er hat es einfach nicht über
sich gebracht. Stattdessen nahm er mir mein Gedächtnis.«
Jes küsste sie auf die Stirn, und das war zu viel,
denn sie wusste, dass ihre unbeherrschten Gefühle ihm wehtaten. Sie
wollte Jes nicht wehtun, konnte es nicht ertragen, ihm
wehzutun.
Sie riss sich von ihm los und taumelte von ihm weg.
Ihre Nase lief, und ihr Gesicht war nass. Sie zog das Hemd hoch,
wischte die Tränen ab, putzte sich die Nase und zog sich weiter von
Jes zurück, bis sie die Wange gegen eine Wand lehnen konnte.
»Ich sollte tot sein«, sagte sie ruhig und drückte
die Haut an den kalten Marmor. Dann schlug sie so fest sie konnte
mit der flachen Hand gegen die Wand und genoss den Schmerz, der so
viel leichter auszuhalten war als ihre Erinnerungen. »Ich sollte
tot sein!« Sie schrie es heraus, spürte, wie es durch ihre Lunge
toste und ihr ein wenig Druck nahm. Sie hätte die Wand noch einmal
geschlagen, diesmal mit der Faust, aber Jes fasste sie sanft am
Handgelenk, öffnete ihre Finger und legte ihre Handfläche an die
Wand, bevor er sie wieder losließ.
Sie starrte ihre Hand an.
»Ich bin so alt! Ich habe
so viele Male versagt, ich …« Sie hielt inne. Sie hatte nicht das
Recht, ihn mit ihrem Schmerz zu belasten; er hatte genug eigenen.
Sie würde so viel wiedergutmachen, wie sie nur konnte. »Ich bin
keine Göttin mehr, nur sehr alt.« Nein, sie musste aufhören, vor
sich hin zu schwafeln. Sie holte tief Luft und spürte, wie sich ihr
Gesicht entspannte, als sie die Beherrschung wiedererlangte. »Ich
bin ein so jämmerliches Geschöpf, dass ich nicht einmal den
Solsenti -Zauberer Volis töten konnte, denn
ich war nicht imstande, mich von seinem Bann zu befreien. Ich
dachte, ich könnte deiner Mutter zumindest helfen zu verstehen, was
mit Tier geschah. Ich dachte nicht, dass sie ihn retten könnte,
aber ich wollte, dass sie zumindest die anderen Clans
benachrichtigte.«
Sie machte eine hilflose Geste. »Ich hoffte, dem
Pfad und dem Schatten ein wenig Ärger machen zu können, nichts als
kleine Schläge, verstehst du, weil ich nicht mehr ausrichten
konnte als das. Ich bin nicht daran gewöhnt, um Hilfe zu bitten
oder welche anzubieten. Reisende sind keine großzügigen Menschen.
Sie tun, was sie tun müssen, wie ihre Geschichte es verlangt, aber
sie haben keine Freude daran. Ich hatte nicht erwartet, dass deine
Mutter mir helfen würde.«
Sie musste noch einmal tief Luft holen, damit sie
sich zusammennehmen konnte. Sie war froh, dass er hinter ihr stand,
damit sie ihn nicht ansehen musste. »Ich hätte nicht erwartet, was
geschah - aber ich habe ganz bestimmt nicht einfach untätig
dagesessen, während deine Familie ihr Leben aufs Spiel setzte, Jes.
Ich habe ihnen mit all meiner Kraft geholfen.«
Sie hörte auf zu reden, weil es nichts mehr zu
sagen gab und weil sie sich, wenn sie auch nur einen einzigen
weiteren Satz sagen müsste, die Kehle wund schreien würde. Sie
hoffte, dass ihre Worte genügten, damit Jes das fragile
Gleichgewicht, das er so viel länger gewahrt hatte als die meisten
seiner Art, behalten konnte. Sie hätte sich von ihm fernhalten
sollen, hätte gehen sollen, nachdem sie sich das erste Mal geküsst
hatten.
»Ich habe dich noch nie weinen sehen«, sagte Jes
liebevoll, dann legte er ihr die Hand an die Wange. Als er ihre
Haut berührte, gab er ein leises Zischen von sich, wie jemand, der
sich an heißer Asche verbrannt hat.
Sie versuchte, ihre Gefühle zu beherrschen,
versuchte sich ihm zu entziehen, damit sie ihm nicht wehtat. Auf
keinen Fall wollte sie ihm noch mehr wehtun.
»Schon gut«, sagte er, legte die Hände auf ihre
Schultern und drehte sie um.
Sie wehrte sich, denn sie wollte nicht, dass er sie
mit fleckigem Gesicht und geschwollenen Augen sah. Sie wollte die
Distanz nicht erkennen müssen, die das Wissen darüber, was sie
einmal gewesen war, zwischen sie schob. Aber er war stärker
als sie und gab nicht nach. Am Ende kam sie zu dem Schluss, das
bisschen Würde, das ihr noch geblieben war, zu behalten und nicht
mehr gegen ihn anzukämpfen.
Sein Gesicht war ihrem zu nah, als dass sie seine
Miene wirklich erkennen konnte, sie sah nur samtdunkle Augen, bevor
er den Kopf senkte, um sanft über den Riss in ihrer Lippe zu
lecken.
»Ich will dir auch nicht wehtun«, sagte er. »Das
will keiner von uns. Es tut mir leid. Ich glaube dir, ich glaube
dir. Ich war beinahe sicher, dass du uns nichts vormachen würdest,
aber der Hüter musste es ebenfalls glauben. Er wollte mich nicht
anhören. Beruhige dich.«
Er küsste sie - ein Kuss, der sich von seinem
letzten unterschied wie ein Palast von einem Misthaufen:
geschlossener Mund und sanfte Lippen, zart und liebevoll.
»Meine Mutter sagt, Raben können gut Geheimnisse
bewahren. Ich glaube, sie hat recht«, murmelte er. »Mein Vater
sagt, es sei gefährlich, Geheimnisse vor sich selbst zu haben. Ich
glaube, das stimmt ebenfalls.«
Er nahm die Hände von ihren Schultern, als sie
aufhörte, sich ihm entziehen zu wollen. Seine rechte Hand streifte
sachte ihre Brust und verharrte dann direkt über ihrem Nabel, als
spüre er die kleine Kugel von Schmerz, Trauer und Zorn, die sie
dort begraben hatte.
»Ich tue dir weh«, sagte sie, aber sie konnte sich
nicht dazu bringen, vor seiner Berührung zurückzuweichen. »Ich will
dir nicht wehtun. Gib mir ein wenig Zeit, und ich werde …«
»Es wieder begraben?«, grollte er leise an ihrem
Ohr. »Ich glaube nicht, dass das klug wäre.« Er küsste ihr Ohr und
dann ihren Hals und knabberte sanft an ihrer Haut, als er die
Schnur löste, die den Halsausschnitt ihrer Bluse zusammenzog.
Sie hätte geschworen, dass Leidenschaft ihr nichts
Neues mehr beibringen konnte, doch unter Jes’ unerfahrener, aber
intuitiver Berührung stellte sie fest, dass das ein Irrtum gewesen
war. Er hatte kaum begonnen, und schon zitterte sie, erfüllt von
Angst, er könnte aufhören: aufhören, sie zu berühren, aufhören, mit
dieser Samtstimme mit ihr zu sprechen … aufhören, sie zu
lieben.
»Bitte«, sagte sie nicht lauter als er. Bitte lass mich dir nicht wehtun. Bitte berühre mich.
Bitte liebe mich. Sie erlaubte sich nicht, etwas davon laut
auszusprechen.
Er begegnete ihrem Blick und lächelte. Beide, Jes
und der Hüter. »Mach dir nicht so viele Gedanken«, sagte er, bevor
er die Reise fortsetzte, die er gerade erst begonnen hatte.
Sein Mund folgte ihrem Hals bis zum Schlüsselbein,
während seine Hände Hitze über die Biegung ihrer Wirbelsäule und
dann über ihre Hüften ausbreiteten. Er hielt mit dem Mund über
ihrem Nabel inne, lehnte den Kopf gegen das Ziehen von Kummer und
Erinnerung, die seine Hand zuvor schon gefunden hatte.
»So viel Qual«, sagte er. »Lass sie mich für dich
lösen.« Er drückte die Stirn gegen ihren Körper, direkt unterhalb
ihrer Rippen. Seine Wärme lockerte den alten Schmerz tatsächlich,
und dann erleichterte die Kühle des Hüters das Ziehen.
»Klammere dich nicht so an deinen Hass und deinen
Schmerz«, sagte der Hüter und klang ebenso sanft wie Jes zuvor.
»Ich teile meinen Zorn mit Jes, und er wird dadurch weniger. Einige
Schmerzen brauchen das Tageslicht, Hennea, damit man sie zählen und
dann loslassen kann.«
Sie seufzte und spürte, wie die hässlichen Dinge,
die sie so lange insgeheim mit sich herumgetragen und sogar vor
sich selbst verborgen hatte, sich in dem Licht wanden, in das er
sie gebracht hatte.
»So viele sind tot«, sagte Jes, seine Stimme noch
einen Hauch sanfter als die des Hüters. »Zu viele, um sie
hierzubehalten.« Seine schwielige Hand streifte liebevoll die Haut
über
ihrem Herzen. »Du hast sie geliebt, und sie liebten dich. Es würde
ihnen wehtun zu wissen, dass sie dir solche Qual bereiten. Lass sie
gehen.«
»Du kannst meine Gedanken nicht lesen.« Es
erschütterte sie, wie zutreffend seine Worte waren.
»Nein«, erwiderte er. »Aber ich spüre, was du
spürst, ich erinnere mich an die, die ich verloren habe, und der
Schmerz ist der gleiche. Der Grund ist der gleiche.« Er lächelte an
ihrer Wange; sie konnte sein Grübchen spüren. »Eigensucht.«
»Eigensucht?« Das war ein Schlag für sie - wollte
er ihr Leid banalisieren? Sie versuchte sich ihm zu
entziehen.
Er lachte tief in der Kehle und zog sie noch fester
an sich. Die Vibration des leisen Lachens des Hüters berührte etwas
tief in ihr, und sie gab erneut nach.
»Eigensucht«, sagte er noch einmal. »Ich weiß
nicht, wohin die Toten gehen.« Dann war es Jes, der lachte, was
weniger wohlklingend, weniger schön war, aber viel freudiger. »Sie
gehen davon und lassen ihre Körper zurück, das habe ich gesehen.
Ich habe es gespürt. Sie gehen in Freude,
Hennea, und Schmerz und Angst bleiben bei denen zurück, die um sie
trauern. Bei dir und mir. Und bei diesem Schmerz geht es um uns
selbst. Ich werde meine kleine Schwester Mehalla, die in dem Jahr
starb, als Rinnie zur Welt kam, nie wiedersehen, und das macht mich
traurig. Um meinetwillen. Ich trauere immer noch um sie, obwohl sie
schon vor elf Jahren gestorben ist. Die Trauer macht mich nicht zu
einem schlechten Menschen, aber sie ist eigensüchtig.« Er glitt an
ihr herab, um ihren Bauch zu küssen, dann rieb er die Wange an ihr
und blieb mit seinen Nachmittagsstoppeln an ihrem Hemd
hängen.
»Lass sie gehen«, sagte er. »Lass nicht zu, dass
diese Tode dich weiterhin so quälen.«
Er wartete, als lausche er nach etwas, das sie
nicht hören
konnte. Seine Geduld und die Wärme seiner Arme - als wollte er sie
vor allem schützen - waren zu viel für sie.
»Ja, das ist es«, sagte er, als sie schluchzte, und
stand wieder auf, damit sie ihr Gesicht an seine Brust drücken
konnte. »Wir weinen ebenfalls, der Hüter und ich.« Er wiegte sie
sanft und sang ein Schlaflied, wie eine Mutter, die ein übermüdetes
Kind beruhigen will. Er war kein Barde, aber er hatte eine schöne
Stimme.
Als sie sich von ihm löste, wischte er ihr die
Wangen mit den Händen ab. »Du musst ihnen verzeihen«, sagte er.
»Sie sind lange tot. Und dein Zorn tut nur dir weh. Vergib ihnen,
dass sie gestorben sind und dich zurückließen. Vergib Hinnum, wenn
er es denn war, der dich zu sehr liebte, um dir den Tod zu
erlauben, mit dem du deinen Schmerz lindern wolltest.«
Hennea fühlte sich wund. »Du bist ein Kind«,
flüsterte sie. »Wie kannst du solche Dinge wissen?«
Der Schritt, den sie von ihm weg machte, war mehr
ein Stolpern als die entschlossene, distanzierende Bewegung, die
sie geplant hatte, aber er genügte. Seine Berührung war zu
beunruhigend, ihr Bedürfnis danach zu groß.
Er lächelte. »Einige Wahrheiten sind wahr, ganz
gleich, wer sie ausspricht. Mein Vater kennt viele davon.
›Verzeihen nützt dir mehr als denen, denen du verzeihst‹, gehört zu
seinen liebsten Sprichwörtern.«
Sein Lächeln verschwand, und seine Augen wurden
dunkler. »Du hast so viel verloren«, sagte er, und sie wusste
nicht, wer da sprach, Jes oder der Hüter. »Hast du denn hinterher
gar nichts mehr gefunden? Wurde dir nichts mehr geschenkt?«
Sie starrte ihn an und versuchte, ihre Würde zu
behalten, aber er wartete geduldig, ein Leuchten in den
Augen.
»Du«, sagte sie.
Er lächelte wieder und kam auf sie zu. Als er sie
in eine Umarmung zog, die mehr überschwänglich als sinnlich war,
flüsterte er: »Wenn du das nächste Mal würdevoll aussehen willst,
solltest du vielleicht vorher deine Bluse wieder zubinden.«
Er lachte, als sie ihn mit einem empörten Schnauben
wegstieß. »Komm«, sagte er. »Ich weiß eine Stelle, die sich für
das, was ich vorhabe, besser eignen wird als dieser Marmorboden.
Ich habe mich ein bisschen umgesehen, bevor uns auffiel, dass das
Gesicht der Statue deines war - die schwarze Farbe hat uns zunächst
verwirrt.«
»Du hast das Gesicht einfach nicht beachtet«,
entgegnete sie, und er warf den Kopf zurück und stieß dieses von
Freude erfüllte, jubilierende Lachen aus.
»Eifersüchtig auf eine Statue?«, fragte er und hob
sie hoch. »Ein Mann möchte etwas Weicheres und Wärmeres haben als
Marmor - ganz gleich, wie schön er sein mag.«
Sie ließ sich von ihm die Stufen zum Podium hinauf
und durch die halb verborgene Tür dahinter tragen. Er brachte sie
in einen Raum mit einem großen, in den Boden eingelassenen Becken.
Das Nachmittagslicht fiel aus verborgenen Oberlichtern aufs Wasser
und verlieh ihm ein geflecktes Aussehen.
»Ich erinnere mich, dass das hier immer mein
Lieblingsraum war«, sagte sie, als er sie auf eine der dicken
Matten auf dem Boden legte.
Der Hüter vergrub sein Gesicht unter ihrem Haar,
zwischen ihrem Hals und der Schulter, und atmete tief ein. »Ich
liebe deinen Duft«, knurrte er.
»Warte«, sagte sie und entzog sich ihm
wieder.
Er ließ sie gehen, auch wenn er die Fäuste ballte
und das Gesicht verzog.
»Ich muss es dir sagen«, erklärte sie. »Ich muss es
Jes sagen.«
»Jes hört dich«, knurrte der Hüter und drehte sich,
bis er auf dem Bauch lag, das Gesicht in den Armen verborgen. »Mehr
können wir im Augenblick nicht tun.«
Hennea setzte sich neben ihn und rieb ihm den
Rücken, aber dann zog sie die Hand zurück, weil es sie ablenkte,
ihn zu berühren und zu spüren, wie er vor Leidenschaft zitterte -
und sie wusste, er würde verstehen müssen, was sie war, bevor er
sich ihr so verpflichtete.
»Es gab sechs von uns in Colossae. Rabe, Adler,
Eule, Kormoran, Lerche und Falke. Wir sorgten durch ein
Gleichgewicht unserer Macht für die Sicherheit der Welt.«
Sie zog die Beine an und machte sich klein, während
sie ihre neu gefundenen Erinnerungen sortierte und daraus eine
Geschichte entwickelte, die Jes verstehen konnte, ohne sich in
nutzlosen Einzelheiten zu verlieren.
»Colossae war meine Stadt, und ich liebte sie. Ich
liebte die Zauberer, die hier lebten. Sie baten mich um Macht, und
ich gewährte sie ihnen.«
Der Hüter drehte sich auf die Seite, damit er sie
ansehen konnte. Sein Körper verlor langsam die Anspannung der
Leidenschaft.
»Das Einzige, was ich mehr liebte als meine Stadt,
war mein Gefährte. Wir waren füreinander geschaffen. Es herrschte
Gleichgewicht zwischen uns: Adler für Rabe, Eule für Kormoran und
Lerche für Falke. Dann brachten meine Zauberer meinen Adler um,
indem sie genau die Macht einsetzten, die ich ihnen geschenkt
hatte.«
»Wie haben sie das getan?« Der Atem des Hüters war
wieder schneller geworden, aber das hatte nichts mehr mit Begierde
zu tun.
»Wie der Pfad eine Weisung von einem Reisenden
nahm, stahlen die gierigen Zauberer die Macht des Adlers. Das
überlebten sie nicht, aber mein Geliebter starb ebenfalls.«
Er starrte den Brunnen an, seine Miene neutral. Sie
konnte nicht deuten, was er wohl dachte.
»Unsere Macht mochte unsterblich sein, Jes, aber
der Tod des Adlers hat uns gelehrt, dass wir nicht immun gegen die
Gabe des Pirschgängers waren. Wir lebten, alle sechs, um die
größeren Götter in Schach zu halten. Unsere Welt ist alt und
zerbrechlich; wenn die Macht des Webers und des Pirschgängers jetzt
auf sie losgelassen wird, wird sie zerbrechen wie ein alter,
ausgetrockneter Keramiktopf. Wir sechs haben das Gleichgewicht
bewahrt, das die beiden Götter gebunden hielt.«
»Und einer von euch starb.« Es war Jes, der das
sagte, obwohl sie auch die Präsenz des Hüters in der Kälte spüren
konnte, die ihr Gänsehaut an den Armen verursachte.
Sie nickte. »Als der Kriegsgott ermordet wurde,
rührten sich die Alten Götter. Überall auf der Welt starben
Menschen. Die Macht der Alten Götter ist unwillkürlich, ähnlich wie
der Schrecken, den der Hüter verbreitet, ob er will oder nicht: Der
Weber schöpft, und der Pirschgänger zerstört; sie können nicht
anders. Es ist, was sie sind. Sie kamen zu uns, zu denen von uns,
die noch lebten, und baten uns, ihnen zu helfen, das Gleichgewicht
wiederherzustellen.«
»Sie baten euch, Colossae zu opfern.«
»Was die Alten Götter band, verfiel jeden Tag mehr,
weil es kein im Gleichgewicht befindliches Ventil für ihre Macht
mehr gab. Wir hatten zwei Probleme, um die wir uns kümmern mussten.
Wir mussten neue Bindungen und ein neues Gleichgewicht schaffen.
Das Opfer von Colossae war notwendig für die Bindungen - solange
die Stadt in der Zeit erstarrt ist, werden die Alten Götter
gebunden sein.«
»Aber einer der Götter war tot, also konnte es kein
Gleichgewicht geben.«
»Stimmt.« Es klang wie eine Geschichte, dachte
Hennea,
nur, dass sie sich jetzt daran erinnerte, als wäre es gestern
geschehen. »Die Lerche schlug vor, dass der Weber einen neuen Adler
schaffen solle.«
Noch so viele Jahre später brannte der Zorn, den
sie darüber empfand, heiß in ihrer Brust - die Lerche hatte so
getan, als wäre Henneas Geliebter nichts weiter als eine
zerbrochene Schale gewesen, die man mithilfe einer Töpferscheibe
und eines Brennofens ersetzen konnte.
»Warum hat er es nicht getan?«
»Er konnte es nicht«, sagte sie. »Die unsterbliche
Macht des Adlers war immer noch vorhanden, im Geist eines Kindes,
das an dem Tag geboren war, als mein Geliebter starb, und das von
der Lerche dazu gebracht wurde zu schlafen. Mein Geliebter ließ
seine Macht nicht los, und nicht einmal der Weber oder der
Pirschgänger konnten ihn dazu zwingen.
Ich war so wütend auf sie alle.« Er musste wieder
daran denken, wie sie ihre Trauer und ihre Schuldgefühle
weggeschoben und hinter ihrem Zorn verborgen hatte. »Es war meine
Schuld«, flüsterte sie. »Und es war meine Aufgabe, etwas dagegen zu
tun, damit wir nicht alle den Preis für meine Dummheit zahlen
mussten.«
»Was hast du getan?«
»Die Weisungen wurden bereits geschaffen, bevor die
Zauberer Colossae verließen, Jes. Ich schuf sie. Ich nahm die Macht
der anderen Götter und entriss sie ihren Körpern, genau, wie man
meinem Geliebten seine Macht entrissen hatte. Denn ich war die
Göttin der Magie. Ich konnte sie leicht nehmen, reine Macht, an der
nichts von der Seele mehr hing. Aber ich konnte es nicht tun, ohne
die Götter zu töten.«
Sie schloss die Augen und erinnerte sich, wie es
gewesen war, diese Magie zu wirken, zusammen mit einem bleichen,
schaudernden Hinnum, der ihr bei allem half, was getan werden
musste. »Sie opferten sich selbst, denn fünf Götter konnten
die Bindung nicht gewährleisten und die Alten Götter festsetzen,
aber ich nahm unsere Macht, zerteilte sie und band sie an
Sterbliche, damit ein neues Gleichgewicht entstand.«
»Colossae starb also, um die Macht der Alten Götter
zu binden, und die Weisungen wurden geschaffen, um sie weiterhin
einzudämmen.«
»Ja«, flüsterte Hennea.
Sie schwieg, bis Jes schließlich sie statt des
Beckens ansah. »Aber du hast uns nicht deshalb unterbrochen.«
Sie schüttelte den Kopf, konnte allerdings noch
nicht ertragen, es ihm zu sagen, also sprach sie über das kleinere
Übel, für das sie verantwortlich war. »Ich hätte ebenfalls sterben
sollen, Jes. Hinnum hat mir geholfen, die Macht aufzuteilen und die
Raben zu schaffen, und mir blieb nur noch, was ich brauchte, um die
Magie anzuleiten, die Colossae opferte. Ich glaube, mein Überleben
ist schuld daran, dass der Schatten Macht vom Pirschgänger beziehen
kann. Mein Überleben hat in den Fesseln eine Schwachstelle
verursacht.«
Jes setzte sich abrupt auf und nahm sie in die
Arme, aber sie hatte das Gefühl, dass seine Aufmerksamkeit mehr
seinem eigenen inneren Dialog galt. »Nein«, sagte der Hüter einen
Augenblick später. »Es war nicht dein Überleben. Du warst der Rabe,
und wenn der Rabe tatsächlich überlebt hätte, hätte dies das
Gleichgewicht wirklich gestört. Aber es überlebte nicht der Rabe, Hennea, sondern ein Rabe.«
Sie dachte sorgfältig über seine Worte nach und
konnte an seiner Argumentation keinen Fehler finden. »Also gut«,
flüsterte sie. »Aber etwas ist schiefgegangen.«
»Hennea?«, flüsterte er, die Lippen an ihrem Ohr.
»Warum ist die Adlerweisung anders?«
»Meine Schuld.« Sie war froh, dass er ihr
schlimmstes Verbrechen selbst herausgefunden hatte, bevor sie es
gestehen
musste. »Es ist meine Schuld, und ich bitte dich innigst, mir zu
verzeihen.«
Jes saß still hinter ihr, aber er schob sie nicht
weg, als sie sich gegen ihn lehnte. »Als meine Schwestern und
Brüder starben, fielen ihr Geist und ihr Körper von ihnen ab, und
nur ihre Macht blieb. Als die Zauberer den Adler töteten, nahmen
sie ihm Macht und Geist gleichermaßen. Ich hätte seine Macht in so
kleine Funken teilen können, dass es nicht mehr als ein Glitzern im
Auge gewesen wäre, das einem Menschen eine zusätzliche Spur von Mut
oder Kraft verlieh. Und sie hätten niemals ein Überbleibsel von ihm
gespürt und erst recht nicht seine gesamte Macht. Ich hätte diese
Macht in die Obhut eines geborenen Kriegers geben können, damit er
seine Begabung auf dem Schlachtfeld auslebte. Aber er war mein
Geliebter gewesen.«
»Was hast du also getan?«
Das wusste er doch sicher, dachte sie, aber sie war
es ihm schuldig, es laut auszusprechen.
»Ich zerteilte seine Macht, bis sein Zorn über
seine Ermordung gering genug war, dass er die Sterblichen, die
seine Weisung erhielten, nicht sofort überwältigen würde. Dann gab
ich diese Macht den einzigen Menschen, die wissen konnten, was sie
in sich hatten. Den einzigen Menschen, die ihn trösten
konnten.«
»Empathen wie Jes«, sagte der Hüter.
Sie nickte und wartete auf sein Urteil. Er zog sie
auf seinen Schoß und wiegte sie ein wenig, während er
nachdachte.
»Wenn«, flüsterte der Hüter, »du mir einen Krieger
gegeben hättest, um mich an ihn zu binden, hätte ich Blut
vergossen, bis niemand mehr zum Töten übrig geblieben wäre. Ich
erinnere mich an ganze Generationen, in denen ich nur wütend war
und unfähig, zusammenhängend zu denken. Ohne Jes, der mich liebt,
wäre das immer noch alles, was ich bin.«
»Ich weiß, Geliebter«, sagte sie und zog ihn an
sich. »Aber so viele haben für meine Entscheidung zahlen müssen. So
viele Adler hatten nur kurze Leben. Jes - Jes zahlt einen so hohen
Preis für etwas, das wirklich nicht seine Schuld war.«
»Hm«, sagte Jes. »Paps sagt, jeder zahlt einen
Preis dafür, dass er lebt.« Er küsste sie hinters Ohr. »Ich mag,
wer ich bin, Hennea. Ich kann mir kein Leben ohne den Hüter
vorstellen. Ich denke, es wäre schrecklich und einsam, wenn ich ihn
nicht hätte. Im Augenblick, in diesem Raum, mit dir in meinen
Armen, möchte ich mein Leben mit keinem anderen Menschen tauschen.
Bitte mich nicht um Verzeihung - du hast mir nichts angetan. Bitte
nicht um unseren Zorn, denn es gibt keinen. Wir lieben dich.«