10
Es war schon beinahe dunkel, als Jes zum Hof zurückkehrte.
Gura begrüßte ihn von der Veranda aus, und Jes zauste das drahtige Haar des Hundes. Der Hüter war heute sehr fordernd gewesen; Jes war müde, und der Kopf tat ihm weh. Er versuchte zu ignorieren, dass etwas nicht stimmte, denn er wusste nicht, ob er den Hüter in diesem Fall unter Kontrolle halten konnte.
Rinnie war nicht herausgekommen, als Gura bellte.
Aber der Hüter wusste ebenfalls, dass er müde war, und er war bereit zu warten, bis sie mehr wussten. Also war es Jes, der hinter die Hütte ging und sah, dass Rinnie ein paar Stunden dort gearbeitet und danach ihre Werkzeuge ordentlich weggeräumt hatte.
Hatte sie die Geduld verloren und sich auf die Suche nach Mutter und Lehr gemacht? Das konnte er sich nicht vorstellen, besonders, da Gura noch hier war. Er folgte Mutters und Lehrs Spuren bis zum Waldrand, aber er konnte nichts erkennen, das darauf hingewiesen hätte, dass Rinnie an diesem Tag hier entlanggelaufen wäre. Der Boden rings um die Hütte war zu festgetrampelt, um dort eine Spur auszumachen.
Widerstrebend ließ er den Hüter ein.
Er hätte nicht so lange bleiben und sich den neuen Tempel ansehen sollen, dachte der Hüter unglücklich. Aber er hatte noch nie so etwas gesehen wie die Besudelung, die vom Tempel ausging und drohte, ganz Redern zu erfassen. Und er hatte sich Sorgen um Hennea gemacht; der Waldkönig hatte ihm die Verantwortung für ihre Sicherheit übertragen, und der Tempel hatte nichts Sicheres an sich. Das Geas, das sie band, hatte es ihm unmöglich gemacht zu verhindern, dass Hennea schließlich hineinging, aber er war noch lange geblieben und hatte sich Gedanken gemacht, bis Jes ihn überzeugen konnte, dass Mutter wissen würde, was sie tun sollten.
In Wolfsgestalt suchte der Hüter am Waldrand nach Rinnies Witterung, aber Jes hatte recht gehabt. Sie war Mutter nicht gefolgt.
Er kehrte zurück zur Hütte. Gura duckte sich in einer Unterlegenheitsgeste, aber der Hüter ignorierte ihn. Gura hätte Rinnie nicht allein gehen lassen sollen. Hunde waren keine guten Wachen - man brachte ihnen bei, die Befehle derer, die sie bewachten, zu befolgen.
Rinnies Witterung war wahrnehmbar, aber es fiel dem Hüter schwer, eine Spur von der anderen zu unterscheiden. Für eine solche Arbeit hätte er Lehr gebraucht. Er blieb auf der Verandatreppe stehen, hob den Kopf und warf einen verärgerten Blick auf den Wald; wenn man danach ging, wie lange Hennea vom Dorf bis zu der Stelle gebraucht hatte, wo Papa etwas zugestoßen war, hätten Mutter und Lehr inzwischen zu Hause sein sollen. Als er den Kopf drehte, fing er eine seltsame Witterung auf.
Was hatte Bandor hier draußen auf dem Hof gemacht?
Jes besuchte seine Tante selten - sowohl er als auch der Hüter fanden das Dorf bedrückend. Da waren zu viele Menschen für Jes, und ihre verwickelten Gefühle verwirrten ihn. Für den Hüter gab es dort einfach zu viele mögliche Gefahren. Dennoch, er kannte Bandors Geruch nach Hefe, Salz und Seife.
Das Geräusch rascher Schritte ließ ihn sich an die Seite der Veranda drücken, damit man ihn nicht sehen konnte. Der Wind kam aus der falschen Richtung, also hätte er nicht sagen können, wer da kam, bis Hennea ziemlich nahe war.
Einer ihrer Ärmel war verbrannt, und Brandblasen zogen sich von ihren Fingerspitzen über die feuergeschwärzte Haut bis zu ihrer Schulter. Sie wurde langsamer und taumelte ein wenig, als sie in Sicht der Hütte kam.
»Seraph«, sagte sie. »Jes, seid ihr hier?«
Der Hüter schauderte bei dem Gedanken, was sie in diesen Zustand versetzt haben mochte, obwohl Jes versuchte, ihn mit der Beobachtung zu beruhigen, dass sie sich das vielleicht selbst angetan hatte, denn die Verletzung konzentrierte sich überwiegend auf das Handgelenk, an dem sich das Geas-Band befunden hatte. Hennea roch nach Zorn, Angst und Schmerz, und Jes war müde. Der Wolf fletschte leise die Zähne.
Hennea keuchte, und der Hüter wusste, dass sie seinen Zorn spürte.
»Jes«, sagte sie und kam näher zum Haus. »Jes, ich muss mit dir sprechen. Es ist niemand hier, der anderen wehtun würde. Bitte. Ich muss mit dir sprechen.«
Eine Träne lief ihr über die Wange, und sie wischte sie gereizt ab. »Bitte, ich brauche deine Hilfe.«
Wenn der Waldkönig sie nicht in seine Obhut gegeben hätte, hätte der Hüter sie ignorieren können, aber nun war sie eine der Seinen. Also löste er sich von der Wand der Veranda und zeigte sich, obwohl es Jes lieber gewesen wäre, wenn er wieder Menschengestalt angenommen hätte, denn er wollte sie nicht noch mehr verängstigen. Jes mochte Hennea.
»Jes«, sagte sie und ließ sich von dem riesigen Wolf, der auf sie zukam, nicht verstören. »Hüter, es tut mir so leid. Ich habe euch alle verraten. Ich wusste nicht, was er vorhatte, aber es war trotzdem mein Fehler.«
Es war nicht einfach, einer Wolfskehle Menschensprache zu entringen, aber schließlich gelang es dem Hüter. »Wer?«
»Er hat es geplant«, sagte sie und hielt ihren verbrannten Arm ungeschickt vom Körper weg. »Ich hielt mich für so schlau, als ich herausfand, dass er mit deiner Familie spielte - aber sein Spiel war hintergründiger, als ich erwartet hätte. Er hat mich hereingelegt, beinahe, als hätte er mich selbst ausgeschickt, Seraph zu finden und ihr zu sagen, dass ich glaube, dein Vater sei nicht getötet worden. Er wusste, dass sie sich umsehen und Lehr mitnehmen würde. Er wusste, dass Rinnie ungeschützt hierbleiben würde. An dich hat er nicht gedacht, er weiß nicht, was du bist. Aber er will Rinnie.«
Jes half dem Hüter, seine Wut abzukühlen, und die Bestie war erfreut über die Ruhe, die ihr gestatten würde zu tun, was nötig war.
»Er hat Rinnie?«, fragte er.
»Nicht, als ich gegangen bin - ich dachte, ich könnte vielleicht schneller herkommen als er -, aber sie ist weg, nicht wahr? Deshalb bist du hier und nicht Jes.«
»Mein Onkel war hier«, sagte der Hüter. »Bandor, der Dorfbäcker.«
»Die Lerche soll ihn holen«, flüsterte sie. »Bandor ist einer von Volis’ Favoriten. Würde er deine Schwester Volis übergeben?«
»Er würde ihr nicht wissentlich wehtun«, antwortete der Hüter nach kurzem Nachdenken. »Aber seine Absichten zählen nicht.« Da Jes die Wildheit des Hüters beherrschte, konnte dieser klar denken und sich konzentrieren. »Wir müssen sie finden. Kannst du noch weiterlaufen?«
 
Lehr hatte recht, es war schon spät, als sie nach Redern kamen, und Seraph war erschöpft, sowohl körperlich als auch gefühlsmäßig. Nur ihre Besessenheit, dem Solsenti-Priester Antworten abringen zu wollen, gab ihr die Kraft, die steile Straße von Redern hinaufzusteigen.
Sie wäre beinahe an der Bäckerei vorbeigegangen, und wenn in Alinaths Zimmer kein Licht gebrannt hätte, hätte sie das vielleicht auch tun können. Aber Alinath liebte Tier ebenfalls. Seraph blieb zögernd vor der Tür stehen.
»Sie wird dir nicht glauben, Mutter«, warf Lehr ein.
»Doch«, sagte Seraph, »das wird sie - weil sie es ebenso glauben muss wie ich.« Sie lächelte Lehr müde an. »Sie wird immer noch denken, dass es meine Schuld ist - aber zumindest wird sie ihn nicht mehr für tot halten. Sie hat ein Recht darauf, es zu erfahren.«
Seraph klopfte fest an die Tür. »Alinath, ich bin es, Seraph. Mach auf.« Sie wartete, dann klopfte sie noch einmal. »Alinath? Bandor?«
Lehr prüfte die Luft. »Ich rieche Blut. Ist die Tür verschlossen?«
Seraph versuchte den Griff, und die Tür schwang problemlos auf. Im vorderen Raum brannte kein Licht, ebenso wenig wie in der Bäckerei, aber Lehr brauchte kein Licht, und Seraph folgte ihm zu Alinaths Zimmer. Die Tür war nur angelehnt, und Lehr öffnete sie vorsichtig.
»Tante Alinath?«, fragte er, und die Sorge in seiner Stimme bewirkte, dass Seraph sich sofort unter seinem Arm durchschob, mit dem er die Tür weit offen hielt.
Alinath war geknebelt und mit Händen und Füßen ans Bett gefesselt worden. Sie hatte blaue Flecke im Gesicht, und jemand hatte sie so fest auf die Wange geschlagen, dass ihre Haut aufgerissen war und das Blut sich aufs Bettzeug ergossen hatte. Als sie die beiden sah, begann sie sich wild aufzubäumen.
»Ruhig«, sagte Seraph und setzte sich neben Alinath. Sie zog ihr Messer heraus und schnitt vorsichtig um die geschwollene Haut ihrer Schwägerin herum die Seile durch. »Du wirst gleich frei sein.«
»Rinnie«, sagte Alinath, sobald sie wieder sprechen konnte.
»Was?«, fragte Seraph.
Aber Alinath hatte angefangen zu zittern, und Seraph konnte nicht verstehen, was sie sagte.
»Langsam«, befahl sie, aber mit ruhiger Stimme, um Alinath nicht noch mehr aufzuregen. »Was ist mit Bandor und Rinnie? Hat Bandor dir das angetan?«
Alinath versuchte sich hinzusetzen, aber das bereitete ihr offensichtlich Schmerzen, und Seraph eilte sich, ihr zu helfen.
»Es war Bandor«, sagte Alinath schließlich. Sie atmete nur flach; offenbar waren ihre Rippen geprellt. »Er war in letzter Zeit so seltsam - ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Als der Priester heute Nachmittag kam, fing er an, etwas über Rinnie und dich zu murmeln.«
Sie hielt einen Moment inne und schluckte. »Du und ich, wir haben uns nie verstanden, Seraph - aber du würdest dein Leben geben, um deine Kinder zu beschützen. Das weiß ich. Als er also anfing, gefährliche Dinge zu sagen … Dinge, über die sich das ganze Dorf aufregen würde, wenn sie es hörten … Nun ja, ich sagte ihm, er sei ein Narr. Dass es nichts Böses an dir gebe und er kein Recht habe, dich zu beschuldigen, dass du umschattet seist.«
Seraphs Magen zog sich zusammen.
Alinath wandte den Kopf ab. »Er hat mich geschlagen. Das hat er in den vergangenen Monaten schon mehrmals getan. Ich will ja nicht behaupten, dass ich sonderlich umgänglich bin, aber … du kennst Bandor doch auch, er war nie zuvor so!«
»Weiter«, sagte Seraph.
»Diesmal war es mehr als nur ein beiläufiger Klaps. Ich wusste nicht, ob er je wieder aufhören würde. Ellevanal helfe mir - ich denke, er wusste es selbst nicht. Dann sagte er, dass ich mich nicht einmischen solle. Er fesselte mich und ging. Seraph, ich weiß nicht, was er vorhat.«
»Und das fing an, nachdem der Priester hier war? Volis, nicht Karadoc?«, fragte Seraph.
Alinath nickte. »Ich mag diesen Mann nicht. Ist Bandor zum Hof hinausgekommen?«
»Sprach er darüber, was er tun wollte?«, fragte Seraph.
»Er sagte, er wolle Rinnie retten.«
»Wir waren seit dem frühen Nachmittag nicht mehr dort«, sagte Seraph. »Ich habe Rinnie bei Gura gelassen, aber Gura kennt Bandor. Ich muss sie finden. Kommst du hier zurecht?«
Alinath nickte. »Finde ihn, bevor er ihr wehtut.«
»Wohin würde er Rinnie bringen«, fragte Lehr, »wenn nicht hierher?«
»Zum Priester«, sagte Seraph. »Wenn er glaubt, dass sie umschattet ist, wird er sie zum Priester bringen. Wir werden sie finden«, versicherte sie Alinath.
»Seid vorsichtig«, riet Tiers Schwester. »Sei vorsichtig, Seraph. Bandor ist nicht mehr der Mann, den du kanntest.«
 
Vor der Bäckerei blieb Seraph stehen und runzelte unsicher die Stirn - sollten sie zum Tempel gehen oder zum Hof zurückkehren?
»Kannst du feststellen, ob Bandor und Rinnie hier vorbeigekommen sind?«, fragte sie Lehr.
Er schüttelte den Kopf. »Nicht einmal, wenn der Mond voll wäre - es gibt zu viel …« Er erstarrte und sah sich um …
Seraph spürte es ebenfalls, eine Kälte an ihrem Rücken und einen Kloß in der Kehle, der das Schlucken schwierig machte.
»Jes«, rief sie. »Bist du hier?«
»Hör nur«, sagte Lehr. »Jemand reitet die Straße hinauf.«
Sie sah Scheck zuerst, die weißen Flecke deutlich im Sternenlicht zu erkennen, als er mit rutschenden Hufen um die steile Ecke kam. Sobald er sich auf einem geraderen Teil der Straße befand, begann er zu traben und blieb dann vor ihnen stehen.
»Der Priester«, sagte Hennea aufgeregt und rutschte vom Pferd. »Ich war so dumm! Er hat mich vorgeschickt, damit du deine Tochter ungeschützt lässt.«
Seraph nickte. »Zu diesem Schluss bin ich selbst schon gekommen. Glaubst du, er wird sie zum Tempel bringen?«
»Ja.«
»Dann sollten wir Scheck hierlassen«, sagte Seraph. »Er wird auf den Pflastersteinen der steileren Abschnitte nur ausrutschen. Lehr, kannst du einen Platz finden, wo er sicher ist?«
»Neben dem Holzschuppen dort«, sagte er und nahm das Pferd.
Hennea stand ein wenig schief da, als hätte sie Schmerzen. Seraph beschwor ein magisches Licht herauf und sah sich Henneas Arm an.
»Es gibt einfachere Möglichkeiten, ein Geas zu brechen«, sagte sie trocken.
»Ich hatte es eilig«, erwiderte Hennea und verzog den Mund zu einem dünnen Lächeln. »Und ich war wütend.«
»Das wird wehtun«, stellte Seraph fest.
»Es tut jetzt schon weh. Ich werde bei einem Kampf nicht viel helfen können; ich kann mich nicht konzentrieren. Aber ich kann deine Magie nähren.«
»Das wird genügen«, stellte Seraph fest.
Lehr kehrte zurück, und Seraph ging rasch die Straße entlang. Jes und Lehr konnten den Weg zum Tempel vielleicht im Laufschritt zurücklegen, aber sie und Hennea würden langsamer gehen müssen, sonst würden sie zu nichts nütze sein, wenn sie ihr Ziel erreichten. Sie wusste, dass Jes bei ihnen war, sie spürte es an der Art, wie ihr Magen sich zusammenzog, aber sie konnte ihn nur hier und da aus dem Augenwinkel sehen.
»Erzähl mir von Volis«, sagte Seraph. »Was immer du für nützlich hältst.«
»Er ist offensichtlich schlauer, als ich dachte. Die anderen Magier im Geheimen Pfad hatten Hochachtung vor seiner Macht. Aber nach Solsenti-Maßstäben ist er noch jung, und komplexe Zaubersprüche frustrieren ihn. Deshalb neigt er dazu, den Rabenring öfter einzusetzen als seine eigene Magie, es sei denn, er wirkt eine Illusion.«
Sie kamen zu einer scharfen Biegung der Straße, und Hennea schwieg, bis sie wieder auf ebenerem Boden waren. »Ich habe ja schon gesagt, dass die Zauberer Weisungen stehlen und sie tragen. Für gewöhnlich benutzen sie Ringe, aber es gibt auch ein paar Steine, die in Ohrringe oder Halsbänder gefasst wurden. Er sagte, dass einige Ringe Schmerzen bereiten, wenn man sie benutzt, und andere nicht die ganze Zeit über wirken. Die meisten Zauberer können nur einen Ring gleichzeitig benutzen, aber Volis hat zwei. Der erste macht ihn zum Raben. Dazu nimmt er für gewöhnlich eine Eule, aber ich habe ihn hin und wieder auch mit einem Jägerring gesehen. Du wirst wissen, welchen er trägt, wenn du ihn siehst, du musst nur mithilfe deiner Magie hinsehen.«
»Wie gut kann er damit umgehen?«
»Etwa so, wie man es annehmen würde«, sagte sie. »Er glaubt offenbar, die Weisung der Raben sei nichts als Magie, bei der er keine Rituale begehen muss.«
Seraph lächelte zufrieden. »Sag mir, ist er aufbrausend?«
 
Als sie näher zum Tempel kamen, blieb Lehr stehen und beugte sich vor, als wolle er den Boden berühren, aber er zog die Hand vorher schon zurück.
»Was ist das, Mutter?«, fragte er.
»Was?« Seraph blieb ebenfalls stehen, aber sie konnte nichts erkennen.
»Eine besudelte Stelle«, sagte Jes. Er musste ganz in Henneas Nähe sein, denn sie quiekte nervös auf.
»Wie sieht es denn aus?«
»Es sieht aus, als wäre eine widerliche Substanz auf den Boden gegossen worden«, sagte Lehr. »Und es stinkt auch.«
»Umschattet«, sagte Hennea leise. »Ich dachte es mir schon.«
»Es geht vom Tempel aus«, sagte Jes. »Dort ist es noch dunkler.«
»Es ist wirklich hier«, sagte Lehr. »Warum kannst du es nicht sehen, Mutter?«
»Ich weiß nicht, warum Raben den Einfluss des Pirschgängers nicht sehen können, und Lerchen auch nicht«, erwiderte Seraph. »Ich kann verstehen, wieso die Ahnen es nicht für notwendig hielten, dass Eulen und Kormorane ihn sehen können, aber Lerchen und Raben haben oft mit Umschatteten zu tun.«
»›Mit jeder Weisung …‹«, murmelte Hennea.
»›Werden Kräfte gegeben‹ - ja, ja, ich weiß. Es ist trotzdem dumm. Volis ist also wahrscheinlich umschattet.« So etwas geschah sehr selten. Seraph hatte nie mit einer umschatteten Person zu tun gehabt, ihr Lehrer allerdings schon. Er war gestorben, bevor er ihr viel darüber hatte beibringen können, weil es so viel anderes zu lernen gab. Sie wusste, dass der Pirschgänger ein zerstörerisches Gefühl oder eine solche Tat brauchte, um Einfluss zu gewinnen, und dass die Intensität des Einflusses unterschiedlich sein konnte. Der Schatten war etwas anderes gewesen, hatte ihr Lehrer gesagt, denn der Schatten hatte die Macht des Pirschgängers aktiv heraufbeschworen und seinen Einfluss freudig aufgenommen.
»Gehen wir«, sagte sie. »Wir müssen Rinnie finden.«
Endlich erreichten sie den Tempel, und Lehr versuchte die Tür.
»Verschlossen«, sagte er. »Ich denke, von innen verbarrikadiert.«
Seraph sagte etwas Knappes, Kehliges - ein Bann, an den sie sich nicht einmal erinnert hätte, wenn sie wirklich darüber nachgedacht hätte -, und die Tür flog auf, war plötzlich nur noch ein Haufen Splitter und Metall auf dem Boden des Vorraums.
»Vorsicht«, warnte Hennea. »Zorn und Magie passen nicht gut zueinander.«
»Wohin würde er sie bringen?« Seraph wusste, dass Hennea recht hatte, aber seit der Jäger des Sept gekommen war, um ihr zu sagen, dass Tier tot sei, hatte sie mehr Angst gehabt als jemals seit der Nacht, in der ihr Bruder gestorben war - und Angst machte sie ebenso wie Trauer wütend.
»Folgt mir.«
Der Tempel war mithilfe von Kerzenleuchtern an der Wand hell beleuchtet, also fiel es Seraph nicht schwer, sich einen Weg durch den Schutt der Tür zu bahnen. Aber der Raum auf der anderen Seite des Wandbehangs war anders als der, an den sie sich erinnerte. Es gab keine fliegenden Vögel, keine Kuppeldecke.
»Ist das hier der wirkliche Raum oder der mit den Vögeln?«, fragte sie Hennea.
»Was würdest du sagen?«
Dieser Raum sah nicht aus, als wäre er Teil eines Gebäudes, das innerhalb kürzester Zeit errichtet worden war. Er wirkte eher wie Willons Laden, und sie konnte in allem Magie spüren … aber …
»Der andere ist echt«, sagte sie überzeugt.
Der Raum mit den Vögeln an der Decke war einfach zu gut ausgearbeitet gewesen, um eine Illusion zu sein, die der Priester nur für sie geschaffen hatte. Aber er würde diesen Raum nicht jedem zeigen können. Die in den Berg gemeißelte Kammer hingegen war genau das, was die Dorfbewohner erwarten würden.
Hennea nickte. »Wie ich schon sagte, er ist ein sehr guter Illusionist.«
In der hinteren Wand befand sich eine kleine, unauffällige Tür, und Hennea führte sie hindurch und eine schmale Treppe hinunter.
»Wir sind ihm jetzt sehr nahe«, sagte Hennea. »Wir sollten so leise wie möglich sein.«
»Rinnie war hier«, flüsterte Lehr.
»Ich kann immer noch ihre Angst riechen«, stimmte Jes zu, der bereits am Fuß der Treppe stand.
Die Treppe führte in einen kurzen, dunklen Flur, der für Seraph nur nach Erde und Feuchtigkeit roch, aber Lehr hatte die Nase angewidert gekraust, und er achtete darauf, die Wand nicht zu berühren. Licht fiel aus einer offenen Tür.
Seraph schob die anderen beiseite und betrat den Raum als Erste.
Rinnie war dort; wie Alinath war sie gefesselt und geknebelt, aber Seraph konnte keine Wunden oder Prellungen sehen. Die Erleichterung hätte sie beinahe überwältigt: Rinnie war noch nicht in Sicherheit, aber sie lebte.
Mehrere hundert Kerzen bildeten fünf Kreise auf dem Boden, und Rinnie lag in der Mitte des mittleren. Die anderen enthielten jeweils ein Schmuckstück mit einem einzigen großen Stein.
Volis war ebenfalls anwesend und betrachtete eine zerbrechlich aussehende Schriftrolle auf einem Tisch, der beinahe zu klein für sie war. Er blickte nicht auf, als sie hereinkamen. Wie Hennea ihr geraten hatte, warf Seraph einen Blick auf seine Hände und sah zwei Ringe. Einer von ihnen sollte Rabe sein. Seraph konzentrierte ihre Magie und sah sich die Ringe mit ihrer Hilfe noch einmal an. Rabe und Eule, genau wie Hennea vorhergesagt hatte, aber irgendwie verzerrt und leer. Falsch.
In der hintersten Ecke des Raums saß Bandor im Schneidersitz auf dem Boden, wiegte sich hin und her und murmelte vor sich hin. Eulenkrank, dachte Seraph. Volis, der an die Gesetze der Reisenden nicht gebunden war, hatte Bandor gezwungen, etwas gegen seinen Willen zu tun, und nun bezahlte Bandor dafür.
Sie machte einen weiteren Schritt vorwärts und stieß gegen eine magische Barriere. Mit einem raschen Gedanken machte sie die Barriere sichtbar. Sie bog sich durch den Raum, wobei sich Volis, Bandor und Rinnie auf einer Seite befanden und die Übrigen auf der anderen Seite gefangen saßen - gefangen, weil die Barriere nun auch den Eingang überzog und sie einschloss. Jedenfalls nahm Seraph an, dass sie sich alle dort befanden. Bei ihrem kurzen Blick hatte sie Jes nicht bemerkt.
»Volis«, sagte Seraph.
Ihre Stimme zitterte vor Wut; sie hatte geglaubt, sich besser beherrschen zu können. Sie war so wütend auf den Priester und auf diese unbekannten Männer, die wie er waren und in ihrer Ignoranz ein Unheil anrichteten. Sie hatten Tiers, Rinnies und Seraphs Frieden gestohlen, und dafür würden sie bezahlen. Alle.
Mit schmerzhafter Anstrengung zog sie die Gelassenheit ihrer Ausbildung wieder um sich wie einen Umhang; es war Volis, der die Nerven verlieren musste. Als sie sicher war, wieder ruhig bleiben zu können, sagte sie: »Was tut Ihr da?«
»Ich beschwöre den Pirschgänger herauf«, sagte er, ohne aufzublicken. »Ich habe Euch schon erwartet - wie Ihr sehen könnt. Sobald mein kleiner Rabe ausgeflogen war, nahm ich an, sie würde Euch hierherbringen. Zuerst war ich wütend auf sie, aber dann dachte ich, es könnte sogar gut sein, Publikum zu haben - solange es nicht Teil der Zeremonie wird.«
Hüter waren so gut wie immun gegen Magie - Jes würde durch die Barriere hindurchgehen können. Er konnte vielleicht durchbrechen, Rinnie holen und wieder auf die andere Seite der Barriere zurückkehren. Aber selbst wenn das nicht möglich war, würde er sie nie allein lassen. Gefangen würde er immer noch versuchen, Rinnie vor Volis zu schützen - und das war einfach zu gefährlich. Seraph würde ihn nur dann in den Kreis schicken, wenn ihr keine andere Wahl blieb.
Sie spürte, dass Jes kurz davor stand, die Beherrschung zu verlieren, denn die Raumtemperatur fiel schnell.
»Ihr seid ein ignoranter Dummkopf«, sagte sie kalt. »Der Adler ist nicht der Pirschgänger. Der Pirschgänger hat den Schatten erst zu dem gemacht, was er war. Wenn es Euch gelingt, ihn heraufzubeschwören, werdet Ihr nicht mehr sein, sondern nichts. Der Pirschgänger hat deshalb keine Anhänger, weil alles, das ihm gehorcht, zu einem Ding wird.«
»Glaubt nicht, dass ich mich nicht mit Leuten wie Euch auskenne«, sagte Volis. »Mein erster Lehrer sagte mir gern, wie unwissend ich sei, weil er Angst vor mir und vor dem hatte, wozu ich in der Lage war. Also blieb ich jahrelang sein Lehrling und tat, was er wollte. Als der Meister des Geheimen Pfads mich fand und mir die Wahrheit sagte, sorgte ich als Erstes dafür, dass mein alter Lehrer eine Lektion erhielt, die bewirkte, dass er nie wieder jemanden in die Irre führen konnte.« Er klang sehr zufrieden mit sich selbst. »Lasst Euch das eine Warnung sein. Ihr sagt, ich mache Fehler, aber Ihr kennt mich nicht. Ihr wisst nicht, wozu ich in der Lage bin.«
Die intensiver werdende Kälte ließ Seraph schaudern, aber sie verließ sich darauf, dass Jes sich noch ein paar Minuten länger beherrschen konnte. Sie musste diesen Priester wirklich wütend machen.
»Oh, ich weiß, wozu Ihr in der Lage seid«, sagte sie gelassen. »Glaubt Ihr denn, Hennea hätte den ganzen Tag geschwiegen? Oder glaubt Ihr, ich sollte vor einem Illusionisten zittern?« Sie sah, dass er errötete. Solsenti-Zauberer schauten auf Illusionisten herab und hielten sie für etwas Geringeres, weil Illusionen weder wirklich schufen noch zerstörten. Solsenti-Zauberer hatten viele dumme Vorstellungen. »Ein Junge, kaum alt genug, um sich selbst anzuziehen? Ein Solsenti-Taschenspieler, der sich mit den Toten abgibt, weil er ihre Magie stehlen muss, damit ihm nicht jeder auf der Stelle anmerkt, wie unwissend er wirklich ist?«
»Ich mag ein Illusionist sein«, antwortete er mit demonstrativer Würde, »aber ich habe Euch gefangen gesetzt - beide Raben und auch Euren Jäger-Sohn. Ihr mögt mich für jung und unwissend halten, aber ich habe Eure Geheimnisse herausgefunden. Ich weiß, wie man einen Gott heraufbeschwört.«
»Ihr könnt nicht einmal einen Raben mit einem Geas halten«, sagte Seraph. »Wie solltet Ihr einen Gott heraufbeschwören können?«
Sie hatte gehofft, ihn mit der Erinnerung an Henneas Flucht zu ärgern, aber er war zu aufgeregt über seine Entdeckung.
»Es wird ganz einfach sein«, erklärte er. »Der Kormoran war der Schlüssel.«
Und dann begann er, auf und ab zu gehen und über die angeblichen Komplexitäten der Weisungen zu predigen, die die Zauberer des Geheimen Pfads im Lauf der Jahre entdeckt hatten.
»Lehr«, fragte Seraph leise. »Ist er umschattet?«
»Ja. Onkel Bandor ebenfalls - wenn auch nicht so intensiv.«
Seraph nickte, dann wandte sie die Aufmerksamkeit wieder dem vor sich hin schwadronierenden Volis zu.
»Ich nahm die Ringe, einen für jede Weisung. Der Geheime Pfad hat nur vier Heilerringe, aber keiner von ihnen funktioniert richtig. Also haben sie mir diesen hier gegeben, und ich kann damit machen, was ich will. Ich habe einen für jede Weisung, aber mit Eurer Tochter brauche ich den Kormoran nicht.«
Er schaute Seraph an, das Gesicht triumphierend gerötet. »Ich habe es ausschließlich mit den Ringen versucht, aber es funktionierte nicht, weil der Bann Blut und Tod verlangt. Und es wäre schwierig, eine Person von jeder Weisung festzuhalten - aber dann erinnerte ich mich an etwas, was ich über Sympathiezauber gelesen habe, bei denen man ein Ding benutzt, das dann für andere steht, wie zum Beispiel eine Feder für die Luft. Also brauchte ich nur eine von euch.«
Er sah Hennea an und fügte erbost hinzu: »Ich hätte dich nehmen können, aber ich dachte, du magst mich. Ich wollte dir nicht wehtun. Das hätte ich mir sparen können, wie?«
»Ja«, stimmte Hennea zu.
Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, also wandte er sich wieder Seraph zu. »Ich dachte, es wäre leichter, die Jüngste zu nehmen. Es war nicht schwer, Bandor zu überreden, dass sie in Gefahr sei und ich ihr helfen könne. Ihr solltet stolz sein, Seraph: Eure Tochter wird den Adler in die Welt zurückholen.«
Schweiß tropfte ihm von der Stirn, obwohl auf der anderen Seite der Barriere Seraphs Atem Wolken bildete. Offensichtlich blockierte die Barriere auch die Auswirkung von Jes’ Wut.
»Solsenti-Zauberer«, sagte Seraph und schüttelte langsam den Kopf, »machen Dinge immer komplizierter, als sie wirklich sind. Der Pirschgänger ist bereits hier, so wie Ihr es wolltet.« Sie lächelte ihn an. »Ihr wisst, dass ich die Wahrheit sage.«
Seine Augen wurden einen Augenblick groß, als sein gestohlener Eulenring ihm bestätigte, dass sie recht hatte. Dann kniff er die Augen anklagend zusammen. »Ihr glaubt, wenn Ihr die Wahrheit sagt, ist das alles, was zählt. Ihr irrt Euch.«
»Ich kann Euch nicht beweisen, dass der Pirschgänger hier ist«, versprach Seraph freundlich. »Ihr müsstet ein Jäger sein, um sehen zu können, was Ihr in Eurer Dummheit getan habt.« Das Wort Dummheit schien ihm überhaupt nicht zu gefallen, vor allem, da er wusste, dass sie es ernst meinte. Aber er würde dennoch nicht wirklich die Nerven verlieren, er war einfach zu berauscht von seinen eigenen Plänen. Sie würde Jes tatsächlich mit einbeziehen müssen.
»Ich kann Euch den Adler zeigen«, sagte sie.
Während ihres gesamten Gesprächs hatte Seraph den kunstvollen Bann untersucht, der die Barriere zusammenhielt. Wenn Volis nur Solsenti-Magie verwendet hatte, würde sie sie vielleicht nicht brechen können, aber er hatte Rabenund Solsenti-Magie vermischt, und das Ergebnis war instabil.
»Jes«, sagte sie, »geh und hol Rinnie und bring sie in Sicherheit. Lehr, wenn du kannst, hol Bandor.«
Volis runzelte die Stirn. »Jes? Ist das nicht der Name Eures schwachsinnigen Sohns? Er ist nicht einmal hier.« Er schauderte kurz.
»Doch«, sagte Seraph, »er ist hier. Ihr seht nur nicht genau hin. Jes, der Priester würde gern einen guten Blick auf dich werfen.«
Der Hüter hatte eine ausgesprochen dramatische Ader und nahm aus dem Kerzenrauch Form an, wurde zu einem übergroßen Wolf - die Gestalt, die er allen anderen vorzog. Er stand zwei Schritte von Volis entfernt. Sein Fell war mit Raureif überzogen, und der Frost breitete sich sofort von seinen Pfoten bis zu Volis’ Gewandsaum aus. Jes knurrte, ein tiefes, grollendes Geräusch. Seraphs Puls wurde schneller, bis sie den eigenen Herzschlag in ihren Ohren hören konnte.
Volis, der keine Ahnung hatte, was Jes war, schrie entsetzt auf. Die Angst tat für seine Magie, was Zorn einmal für die von Seraph getan hatte: Seine Kontrolle der Rabenmagie versagte, und Seraph konnte die Barriere mit einem einzigen Schlag ihrer Macht zerfetzen.
»Das ist mein ältester Sohn Jes«, sagte sie. »Er ist Adler und Hüter - und Ihr brauchtet ihn nicht einmal heraufzubeschwören.«
Sie trat die sorgfältig aufgestellten Kerzen um, brach die Kreise und hoffte, damit seine Versuchung, Rinnie zu töten, im Keim zu ersticken.
Im Gehen sprach sie weiter und zitierte aus dem Buch der Weisungen. »›Es heißt, als die Älteren Zauberer es auf sich nahmen, den Pirschgänger zu bekämpfen, schufen sie die Weisungen. Sechs Weisungen schufen sie, nach den sechs, die für immer schliefen. Sie schufen Rabenmagier und Kormoran-Wetterhexer, um bei ihren Reisen zu helfen. Die dritte Weisung war die des Heilers, der Lerche ist, damit sie eine Aussicht hatten, zu überleben und den Kampf fortzusetzen. Sie ruhten, dann schufen sie den Barden im Zeichen der Eule, um besser mit Fremden zurechtzukommen, den Jäger, den Falken, um sich ernähren zu können, wenn die Notwendigkeit bestand, und als Letztes schufen sie den Adler, den Hüter, den alle fürchten sollten.‹ Der Hüter, Volis, ist eine Weisung wie alle anderen, aber wie Ihr selbst feststellen konntet, schwieriger zu entdecken.«
Jes nahm wieder Menschengestalt an und hob Rinnie hoch. »Der Priester hat einen Fehler gemacht«, sagte er, und seine Stimme grollte in Basstönen, die beinahe zu tief waren, als dass man sie hören konnte, als befände er sich immer noch zum Teil in Wolfsgestalt.
»Er ist umschattet«, stimmte Seraph zu.
Aber sie hatte Volis zu lange Zeit gelassen. Er schleuderte eine Explosion roher Magie nach ihr, und sie war gezwungen, das zu erwidern - mehr als zu erwidern, denn sie musste außerdem jene beschützen, die neben ihr standen. Sie hielt die Magie einen Augenblick fest, dann ließ sie sie zu ihm zurücksausen. Weil es seine eigene Magie war, tat sie ihm nichts an, sondern erlaubte ihm, sie wieder zu absorbieren. Das war keine ideale Lösung, weil er so die Energie zurückerhielt, die er Seraph entgegengeschleudert hatte, aber zumindest wurde auch kein anderer verletzt.
Während Seraph versucht hatte zu entscheiden, was sie mit der Magie tun sollte, hatte Volis Zeit gehabt, noch mehr Macht zu sammeln, und er warf sie nach ihr und zwang sie mehrere Schritte zurück. Seraph fing die Magie auf und schleuderte sie erneut zurück, aber diesmal war es anstrengender. Sie würde das nicht unendlich lange durchhalten können, weil sie dabei Kraft verlor und er nicht.
Und er lernte schnell. Der dritte Schuss war ebenso machtvoll, aber so gezielt, dass er auch die anderen mit einschließen würde. Seraph blieb nichts anderes übrig, als die volle Wucht zu absorbieren, damit nichts entkam, was eins ihrer Kinder verletzen könnte.
Schmerzenstränen liefen ihr über die Wangen, und sie taumelte und schwankte, dann berührte sie jemand, und die Schmerzen ließen nach.
Einen betäubten Augenblick lang gehörten die Stimme und die starken Hände an ihren Schultern Tier. Dann, als die Wirkung des Angriffs nachließ, erkannte sie, dass Hennea hinter ihr stand und ihr Hilfe und Kraft gab.
Sie brauchte einen Schild wie die Barriere, die Volis benutzt hatte, um sie zu umschließen, als sie den Raum betraten, aber sie hatte keine Zeit, einen Schild um alle zu legen. Stattdessen schuf sie einen viel kleineren und schloss ihn um Volis. Einen Augenblick leuchtete der gesamte Bereich um den Priester auf, aber dann zerbrach der Schild, ein Opfer seiner übereilten Entstehung.
Er lachte. »Versucht das hier einmal«, sagte er und zeichnete ein magisches Symbol in die Luft.
Sie blockierte den größten Teil davon, aber die Anstrengung ging über ihre Reserven, und sie wurde beinahe blind vor Schmerz. Was von Volis’ Zauberei dennoch durchdrang, ließ sowohl Seraph als auch Hennea zu Boden fallen.
Einen zweiten solchen Schlag würde sie nicht verkraften können.
»Hennea«, flüsterte sie, »wenn ich es dir sage, rollst du dich weg, dann bringst du die anderen nach draußen.« Wenn sie Volis lange genug ablenken konnte, würden ihre Kinder vielleicht fliehen können.
»Nein«, sagte Hennea.
Kälte wehte eine Haarsträhne vor Seraphs Augen.
Mit vor Zorn glühendem Gesicht riss Volis die Hand zurück wie jemand, der einen Stein werfen will. Hennea bemächtigte sich der Überreste von Seraphs Schild und verbesserte sie, und als Volis’ Hand losließ, was immer er geschaffen hatte, prallte der Bann harmlos ab.
Wind kühlte den Schweiß auf Seraphs Stirn - sie hatte kaum genug Zeit, um zu erkennen, dass es hier eigentlich keinen Wind geben sollte, als eine plötzliche Bö sie in die Knie brechen ließ.
Der Wind wurde noch heftiger und verwandelte Seraphs Haar in eine wilde Peitsche, die ihre Augen und die Wangen brennen ließ, als sie unter Schmerzen auf das linke Knie hochkam. Der Tisch, an dem Volis gearbeitet hatte, rutschte ein Stück, krachte dann gegen die Wand und warf sich schließlich gegen den Kopf des Priesters.
Einen Augenblick war Volis damit beschäftigt, sich gegen seine Möbel zu verteidigen, und konnte sich nicht mehr auf Seraph konzentrieren, aber jede neue Magie würde ihm sofort auffallen.
Seraph zog ihr Messer, kam mühsam wieder auf die Beine und lehnte sich in den Wind.
»Hennea«, sagte sie leise. »Gibt es eine Heilung für Umschattete, die du kennst und ich nicht?«
Seraph fürchtete schon, Hennea wäre zu weit zurückgefallen, um sie zu hören, aber dann hörte sie sie sagen: »Nein. Es gibt keine Heilung außer dem Tod.«
Seraph duckte sich und nutzte die Bewegung des Windes und ein Verebben der Magie, um sich hinter Volis zu schleichen. Als sie nahe genug war, trat sie ihm in die Kniekehlen, sodass der Zauberer das Gleichgewicht verlor und rückwärts stolperte. Sie hakte ihm den linken Arm ums Kinn, um ihn festzuhalten, und stach ihm das Messer in den Hals, wie Tier es ihr beigebracht hatte. Die scharfe Klinge schnitt durch Volis’ Kehle und durchtrennte Haut und Blutgefäße.
Seraph taumelte zurück und kämpfte gegen den Wind um ihr Gleichgewicht. Die Schneide ihres Messers hatte ihr einen schnellen Sieg gebracht. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie einen Menschen getötet. Sie fragte sich, ob es ihr vielleicht wirklicher vorkäme, wenn sie Magie dazu benutzt hätte.
Der Körper des jungen Mannes kämpfte eine Weile, aber Schmerzen blockierten die Magie des Priesters, und seine extremen Empfindungen verhinderten, dass ihm Rabenmagie zugänglich war, Ringe oder nicht. Seraph sah zu, wie er starb, denn es kam ihr feige vor, sich von einem Tod abzuwenden, den sie verursacht hatte.
Als er tot war, sah sie sich um. Lehr, gesegnet sollte er sein, hatte nicht vergessen, was sie ihm gesagt hatte. Er hielt Bandor in einer Art Ringergriff und presste das Gesicht seines Onkels gegen die Wand. Hennea war auf Hände und Knie hochgekommen und kroch gegen den Wind auf Volis’ Leiche zu. Jes, der erschöpft aussah, saß auf den Boden …
Ah, dachte Seraph. Daher kam der Wind.
Rinnies Haar schien in bleichen Flammen zu stehen, während sie reglos aufrecht stand, die Arme ausgebreitet, die Handflächen nach außen gerichtet wie eine alte Statue, der Rock unbewegt, obwohl der Wind immer noch heftig durch den Raum fegte. Jes musste sie losgeschnitten haben, denn sie hatte keine Seile mehr an sich, aber rote Spuren zu beiden Seiten ihres Mundes zeigten, wo sich der Knebel befunden hatte. Ihre Augen glühten in einem seltsamen goldenen Licht, das ihre Pupillen verdunkelte.
Lange vergessene warnende Worte fielen Seraph wieder ein. Wenn man eine Wetterhexe war, sehnte man sich immer nach den Energien, die bei gemäßigtem Wetter ihrem Kurs folgten und sich verteilten, und war daher bei Stürmen in Gefahr, sich so zu verfangen, dass es kein Zurück gab.
»Rinnie«, sagte sie mit fester Stimme. »Wir sind in Sicherheit - ruf den Wind zurück und lass ihn schlafen.«
Ihre Tochter starrte sie ausdruckslos mit ihren leuchtenden Augen an, und der Wind wirbelte und spielte weiter. Ein Tintenfass erschien aus dem Nichts und traf Seraph schmerzhaft am Ellbogen.
»Rinnie!«, rief sie in dem gleichen Tonfall, den sie einsetzte, wenn die Kinder sich stritten. »Das reicht jetzt!«
Rinnie blinzelte, der Wind erstarb zu sanften Böen, und dann war er vollkommen verschwunden. Kleine Gegenstände fielen klappernd zu Boden. Rinnie sackte auf alle viere nieder, und Seraph eilte zu ihr und hockte sich neben sie.
»Wie geht es dir? Bist du in Ordnung?«
Rinnie nickte. »Tut mir leid, Mutter. Mir ist nur ein bisschen schwindlig.« Dann trat eine Spur ihres üblichen Grinsens auf ihre Züge, und sie blickte zu Jes. »Das war noch besser, als sich in ein Tier zu verwandeln.«
»Mutter«, warf Lehr ein, »was soll ich mit Onkel Bandor machen? Ich kann ihn nicht ewig festhalten.«
Bandor war umschattet. Sie packte das Messer fester, aber bevor sie mehr tun konnte, als wieder aufzustehen, sagte Hennea: »Nein, Seraph. Ich habe gelogen. Der Schatten kann vertrieben werden.«
Seraph erstarrte. »Was?«
Hennea saß neben dem toten Priester auf dem Boden, die Wangen mit seinem Blut bestrichen. »Ich habe gelogen. Ich habe geschworen, dass dieser Mann sterben wird. Und es ist nur angemessen, dass er während der Ausübung seiner Sünden starb. Aber mit deiner Hilfe werde ich den Bäcker läutern können.«
»Seraph? Bandor?« Alinaths Stimme erklang im Flur.
Wenn sie Bandor helfen wollten, hatte Seraph jetzt nicht die Zeit, auf die andere Reisende wütend zu werden.
»Jes? Kannst du Alinath in Schach halten, ohne dir oder ihr wehzutun?«, fragte sie. »Wenn wir heute Nacht noch mehr Magie wirken wollen, können wir nicht brauchen, dass sie uns stört.«
»Ja«, sagte Jes und stieß sich von der Wand ab, um auf die Beine zu kommen. Mit ein paar wie betrunken wirkenden Schritten ging er zur Tür. Alinath war schon eher da, blieb aber vor ihm stehen.
»Wir müssen es hinter uns bringen«, sagte Seraph. »Ich denke, ich könnte vielleicht so gerade eben ein Licht anzünden. Hast du genug Magie, und kannst du dich gut genug konzentrieren, um sie zu benutzen?«
Hennea kam unter Schmerzen auf die Beine, wobei sie ihren unverletzten Arm als Stütze nahm. »Ich denke, ich bin zu taub, als dass mir viel wehtun könnte, und ich habe mich nicht so verausgabt wie du. Ich werde es schon schaffen.«
Sie hinkte zu Lehr und Bandor und sprach ein Wort. Glühende Linien zogen sich um Bandors Handgelenke und Fußknöchel.
»Bitte lass ihn los«, sagte sie, und Lehr trat zurück.
Mithilfe der silbrigen magischen Schnüre zwang Hennea Bandor, sich umzudrehen, sodass er mit dem Rücken an der Wand stand.
Er spuckte sie an. »Schattenbrut-Hexe. Du solltest in einem Feuer aus guter Eberesche und Eiche brennen.«
Hennea ignorierte ihn, griff nach seinem Kopf und zwang ihn, sie anzusehen. Seraph kam so nahe heran, wie sie es wagte.
Hennea packte Bandors Haar fest und legte ihm dann eine weitere glühende Linie über die Stirn, um seinen Kopf so zu fixieren, wie sie es brauchte.
»Du darfst nicht zulassen, dass sie uns ablenken«, erklärte sie Seraph in der Sprache der Reisenden. »Wenn ich noch einmal von vorn anfangen muss, ist es doppelt so schwer.«
Sobald sie verhindert hatte, dass Bandor sich bewegen konnte, legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Er versuchte sich zu wehren, kämpfte wie ein Verrückter gegen die Fesseln an - aber Hennea hatte gute Arbeit geleistet, und er konnte nicht einmal den Kopf bewegen.
»Die Umschattung ist schwer zu finden. Es würde helfen, wenn ich ihn besser kennen würde. Erzähl mir etwas von ihm - wie der Schatten ihn erwischen konnte.«
»Er heißt Bandor«, sagte Seraph. »Er ist mit der Schwester meines Mannes verheiratet. Er war immer ein ausgeglichener Mann, und gerecht, wenn auch ein bisschen geizig.« Aber nur ein bisschen. Der niedrigere Preis, den er ihr für Jes’ Honig gegeben hatte, hatte nicht zu ihm gepasst, erkannte sie jetzt. Der Familie gegenüber war er immer großzügig gewesen. »Seine Eltern waren keine Rederni, und er wurde nie wirklich akzeptiert, bevor er Alinath heiratete, die Schwester meines Mannes.«
Hennea schickte tastende Ranken von Magie aus, die durch Bandor gingen wie ein heißes Messer durch die Butter, hierhin und dorthin.
»Was wünscht er sich?«, fragte Hennea. »Was treibt ihn an?«
Das war schon schwieriger. »Ich weiß es nicht«, sagte Seraph schließlich. »Ich bin nicht dazu in der Lage, einen Mann auf eine Handvoll Worte zu reduzieren.« Sie wandte sich ihrer Jüngsten zu, die ihn am besten kannte.
»Rinnie«, sagte sie in der Allgemeinen Sprache. »Wenn Onkel Bandor alles auf der Welt haben könnte, was würde er wählen?«
»Kinder«, antwortete Rinnie sofort, obwohl ihre Stimme zitterte. »Er und Tante Alinath wünschen sich Kinder mehr als alles andere. Er macht sich auch Gedanken, dass Papa vielleicht in die Bäckerei zurückkehren könnte. Letztes Jahr, als die Ernten nicht gut waren, war er sicher, dass Papa die Bäckerei wieder übernehmen wollte. Nichts, was Papa sagte, konnte ihn beruhigen.«
Jetzt erinnerte sich Seraph daran; es war ihr damals nicht wichtig vorgekommen.
Eine der Ranken von Henneas Magie erfasste etwas und wurde straff wie das Netz eines Fischers. Eine weitere glitt an den gleichen Platz und erstarrte ebenfalls. Eine dritte erfasste etwas an einer anderen Stelle.
»Mehr«, sagte Hennea. »Erzähl mir mehr von ihm, Kind.«
»Er liebt Tante Alinath«, sagte Rinnie nun selbstsicherer. »Aber er macht sich Gedanken, dass sie Papa lieber mag. Er will, dass sie ihn für einen besseren Mann als Papa hält.«
Der Rest der Ranken versteifte sich wie die Saiten einer Geige, und sie gaben Laute von sich, als ob ein unsichtbarer Musiker an dem Instrument zupfte.
»Neid«, murmelte Hennea in der Sprache der Reisenden. »Kleine Dunkelheiten, die dem Schatten erlauben, ihn zu erfassen und ein bisschen zu schütteln, bis die kleine Dunkelheit wie ein Fleck auf seiner Seele wächst. Du wirst sie alle herausfinden müssen, Seraph, und keine darf dir entgehen. Ist es möglich, dass dein Jäger etwas sieht?«
»Lehr«, sagte Seraph, »komm und sieh dir das an. Umschließt das Netz, das sie gewoben hat, den Makel?«
Lehr sah seinen Onkel sehr genau an. »Nicht ganz«, sagte er.
»Er wünscht«, murmelte Seraph. »Er liebt. Er hasst. Er fürchtet.«
»Er hat Angst vor dir, Mutter«, sagte Rinnie schließlich. »Und Jes mag er auch nicht besonders.« Sie warf einen entschuldigenden Blick zum Rücken ihres Bruders. »Er ist nicht gerne in der Nähe von Leuten, die so seltsam sind wie Jes.«
Hennea, auf deren Gesicht sich die Anstrengung deutlich abzeichnete, entsandte mehr Magie.
»Das ist alles«, sagte Lehr.
»Mutter«, rief Jes.
Seraph drehte sich um und sah, dass Alinath nicht mehr allein in der Tür stand. Karadoc war bei ihr. Es war ihm gelungen, ein paar Schritte vorwärts zu machen, sich in den Raum zu drängen, aber als Jes ihn ansah, blieb er wieder stehen.
»Wir sind gleich fertig«, sagte Hennea. »Ich würde das hier ohne jemanden, der den Schatten sehen kann, nicht riskieren. Ansonsten kann man zu leicht etwas falsch machen - und man erfährt es erst, wenn der Umschattete alle umbringt, die ihm am nächsten stehen.«
»Wie der namenlose König, der Schatten«, meinte Seraph. »Als er als Erstes seine Söhne tötete.«
»Er erlaubte keine Reisenden in seinem Reich«, sagte Hennea. »Also gehen wir jetzt dorthin, wo wir gebraucht werden, nicht dorthin, wo man uns will.«
»Was geschieht als Nächstes?«, fragte Seraph.
Hennea lächelte müde. »Der letzte Teil ist mehr Kraft als Feinarbeit. Ich werde versuchen, den Schatten aus ihm herauszubrennen.«
»Lass mich helfen«, sagte Seraph. »Ich bin ziemlich aufgebraucht, aber du kannst gern alle Magie haben, die mir noch geblieben ist.« Sie folgte ihren Worten mit Taten, legte das blutige Messer auf den Boden und ließ die Hände auf Henneas Schultern ruhen.
Hennea dankte ihr mit einem Nicken und begann, die Haken zu zerstören, die der Pirschgänger in Bandors Seele gebohrt hatte. Seraph sah, dass es ganz ähnlich funktionierte, wie wenn sie auf magische Weise Holz verbrannte - Hennea nutzte nur einen anderen Brennstoff. Wenn sie es einmal selbst tun müsste, würde sie wissen, wie es vonstattenging.
»Fertig«, sagte Hennea, aber Seraph, die gespürt hatte, wie die letzte Umschattung gewichen war, war bereits zurückgetreten.
Bandor hatte schon lange aufgehört, sich zu wehren, aber jetzt hing er vollkommen schlaff in den Fesseln, die ihn an der Wand hielten, das Gesicht ausdruckslos, der Mund schief. Ein Tropfen Speichel fiel ihm vom Kinn.
»Lehr«, sagte Seraph, »hilf mir mit Bandor.«
Lehr half seiner Mutter, den Bäcker zu stützen, sodass Hennea die Fesseln lösen konnte. Sobald er wieder auf den Beinen stand, schien sich Bandor ein wenig zu erholen. Die Ausdruckslosigkeit wich langsam aus seinem Gesicht, und man konnte etwas von seiner Persönlichkeit erkennen, als würde ein Weinschlauch wieder mit Wein gefüllt.
Lehr stützte ihn immer noch, aber Seraph trat zurück - sie erinnerte sich, was Rinnie über Bandors Angst vor ihr gesagt hatte. Sie wollte ihn nicht noch mehr bekümmern.
»Also gut, Jes«, sagte sie ruhig. »Lass sie herein.«
Jes starrte sie an, dann senkte er den Kopf. Sie verbarg einen erleichterten Seufzer: Die nächsten Minuten würden auch interessant genug werden, ohne dass Jes außer Rand und Band geriet. Alinath eilte ohne einen Blick um sie alle herum und stellte sich vor Bandor.
»Ist es wahr?«, fragte sie. »Geht es ihm jetzt besser? Ist er unverletzt?«
Seraph zog eine Braue hoch und sah Hennea an, die sich erschöpft an die Wand lehnte. Sie nickte.
»Er wird wieder in Ordnung kommen«, sagte Seraph. »Lass ihm eine Weile Zeit, um sich zu erholen, und dann wird alles wieder gut.«
Alinats Mund zitterte, und sie machte einen weitern Schritt, bis sie direkt an ihren Mann gedrückt stand. Sie sah klein und zerbrechlich aus. »Bandor«, sagte sie. »Bandor.«
Karadoc, der sich schwer auf seinen Stab stützte, sah Jes an.
»Ellevanal mag dich, Junge, obwohl du nie in seinen Tempel kommst; das sagte mir schon, dass mehr an dir ist, als ich dachte. Ich hatte allerdings nicht so viel mehr erwartet. Du hast einiges von der Magie deiner Mutter in dir, wie, und sie genutzt, damit wir nicht hereinkamen?«
»Ja«, stimmte Seraph zu. »Jes ist mehr, als er scheint.«
»Reisende«, sagte Karadoc streng, als erinnere er sich an seine Pflicht. »Reisende, was ist hier geschehen?«
»Schatten und Magie, Priester«, sagte sie. »Volis und Bandor waren umschattet. Wenn ich gewusst hätte, dass man auch den Priester hätte heilen können, hätte ich …« Sie erinnerte sich daran, wie befriedigend es sich angefühlt hatte, ihn mit ihrem Messer aufzuhalten, und sagte nur noch: »Aber ich wusste nicht genug.«
»Woher wusstest du, dass sie umschattet waren?« Der alte Mann, dachte sie, spielte die Rolle des strengen Priesters hervorragend. Das war ein gutes Zeichen. Wäre er von all der Magie wirklich verängstigt gewesen, dann hätte er sich nicht die Zeit genommen, für sein Publikum zu agieren; er hätte sofort den Rest der Ältesten geholt.
»Seraph fand mich heute Abend, nachdem Bandor gegangen war«, sagte Alinath, während sie und Lehr Bandor halfen, sich auf den Boden zu setzen. »Ich war geschlagen worden und gefesselt. Ich sagte ihr, dass etwas mit Bandor nicht stimme. Selbst nach all diesen Jahren nährte er immer noch eine bittere Eifersucht auf meinen Bruder.« Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, was genau er getan hat, aber er hatte mit dem Tod meines Bruders zu tun.«
Sie setzte sich neben ihren Mann und hob das Kinn auf eine Weise, die Seraph nur zu gut kannte. »Ich habe die Entscheidungen, die mein Bruder getroffen hat, nie wirklich akzeptieren können«, sagte sie. »Ich kann mit Magie und mit Seraph nichts anfangen. Das weißt du, Karadoc. Ich würde mich nie gegen meinen Bandor und auf ihre Seite stellen. Aber ich weiß auch, dass Bandor, wenn er er selbst wäre, mich niemals schlagen würde. Er hätte sich nie zum Sklaven eines anderen gemacht, wie er sich von diesem falschen Priester versklaven ließ.« Sie spuckte die Worte geradezu aus. »Wenn Seraph sagt, dass er umschattet war … nun, dann muss ich ihr eben glauben.«
Niemand, dachte Seraph insgeheim erheitert, konnte übersehen, wie sehr es Alinath störte, Seraph zustimmen zu müssen.
Karadoc nickte förmlich. »Akzeptiert.« Er grinste Seraph an und verwandelte sich damit sofort von einem säuerlichen alten Mann in einen schelmischen Gnom. »Du solltest wissen, dass Alinath schon vor ein paar Tagen zu mir kam, weil sie sich wegen des seltsamen Verhaltens ihres Mannes Sorgen machte. Ich sagte ihr, sie solle ihn weiter beobachten, denn Menschen, die wie wir in der Nähe von Schattenfall leben, müssen immer vorsichtig sein, wenn solche Dinge geschehen.«
Er schüttelte den Kopf. »Aber wir werden allen anderen natürlich eine andere Geschichte erzählen müssen, oder Seraph wird nicht hierbleiben können, und niemand wird glauben, dass Bandor wirklich geläutert ist.«
Der Bäcker kauerte neben seiner Frau und hatte den Kopf gesenkt, damit seine Stirn an ihrer Schulter liegen konnte. Seraph hörte seine leisen, halb zusammenhängenden Entschuldigungen.
Karadoc stützte sich auf seinen Stab. »Lasst mich euch erzählen, was heute Abend geschah. Volis war ein böser Magier und kein echter Priester. Er brauchte einen Tod, um finstere Magie zu nähren, und wählte Rinnie, weil sie ungeschützt war. Ihr Vater ist tot …«
»Tatsächlich«, warf Lehr ein, »lebt er vielleicht noch. Das war es, was Mutter und ich untersuchten, als Rinnie geholt wurde. Wir gingen zu der Stelle, wo der Jäger Überreste gefunden hatte, die er für die von Vater hielt. Aber die Knochen waren nicht Vaters Knochen. Wir denken, dass eine Gruppe von Magiern Papa überrascht und ihn entführt hat.«
»Am Leben«, sagte Alinath. »Tier ist am Leben?«
»Am Leben?«, keuchte Rinnie und packte Jes’ Hand, so fest sie konnte.
»Ich denke schon«, erwiderte Seraph.
»Ah«, sagte Karadoc, »dann gehörte Volis zu einer Gruppe korrupter Magier, die ihm bei seinen bösen Taten geholfen haben. Er war für eine Anzahl schrecklicher Dinge verantwortlich. Tiers Verschwinden … oh, mir fallen bestimmt noch mehr Ereignisse ein. Ich bin sicher, dass jemandem im letzten Monat oder so ein Haustier gestorben ist. Volis hat euren Hof mithilfe von Magie beobachtet …«
»Magie funktioniert nicht so«, sagte Seraph. »Nicht einmal Solsenti-Magie.«
»Das werden sie nicht wissen«, wies Karadoc sie zurecht. »Als er sah, dass ihr anderen weit entfernt wart, entführte er Rinnie. Alinath bemerkte, dass er Rinnie an der Bäckerei vorbeischleppte. Sie kam zu meinem Tempel, um Bandor zu holen, der zu mir gekommen war, weil er ebenfalls befürchtete, dass mit Volis etwas nicht in Ordnung war. Ich bin ein alter Mann. Alinath und Bandor konfrontierten Volis - er verletzte Alinath, und Bandor hat ihn getötet.«
»Was ist mit uns?«, fragte Seraph.
»Ihr wart alle nicht einmal hier. Ich weiß nicht, wer Ihr seid, junge Dame«, sagte er zu Hennea, »aber ich kann sehen, was Ihr seid, und Ihr werdet fern von diesem Ort mehr Sicherheit finden.«
»Sie kann mit zum Bauernhof kommen«, sagte Seraph.
»Woher wisst Ihr, dass Tier noch lebt?«, fragte Alinath.
»Weil sie ihn entführt haben, um seine Magie zu benutzen«, erwiderte Hennea. »Das können sie nicht tun, wenn er tot ist - nicht so schnell.«
»Lügnerin«, sagte Alinath und stand auf. »Mein Bruder hatte keine Magie.«
Bandor, der immer noch auf dem Boden saß, streckte den Arm aus und griff nach der Hand seiner Frau. »Doch«, sagte er. »Doch, die hatte er.«
Alinath erstarrte und sah die Hand an, die sie hielt. Dann setzte sie sich wieder hin.
»Wisst Ihr, wohin sie ihn gebracht haben?«, fragte Karadoc, als offensichtlich wurde, dass Alinath nichts weiter sagen würde.
»Nach Taela«, antwortete Hennea. »Zum kaiserlichen Palast in Taela.«
»Bevor wir aufbrechen, werden Hennea und ich den Tempel durchsuchen und uns überzeugen, dass nichts geblieben ist, was Schaden anrichten könnte«, versprach Seraph müde. Sie würden auch alle Weisungssteine suchen. Sie warf einen Blick zu Volis, aber die Hände des Priesters waren nackt. Hennea hatte die Ringe, die er getragen hatte, offenbar bereits an sich genommen.
»Und morgen fangen wir an, Papa zu suchen?«, fragte Lehr.
Seraph dachte darüber nach. »Übermorgen. Wir müssen in Ruhe packen.«
»Wenn ihr geht, wird der Verwalter des Sept euch die Rechte auf euer Land nehmen«, unkte Alinath.
»Nein«, erwiderte Karadoc. »Das wird er nicht tun. Er wird nie wieder jemanden finden, der so dicht an den Bergen einen Hof bebaut. Ich werde selbst mit ihm reden.«
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