8
Diesmal war es nicht die
Essensklappe, die geöffnet wurde, sondern die Tür. Tier sprang auf,
aber er blieb stehen, wo er war, weil das plötzliche Licht ihn
blendete.
»Wenn Ihr wollt, hoher Herr«, sagte eine leise
Stimme, die ebenso einem jungen Mann als auch einer Frau gehören
mochte, »könnt Ihr mit mir kommen. Wir werden Euch ein bequemeres
Quartier zur Verfügung stellen. Ich soll Euch auch um Verzeihung
bitten, weil man Euch so schlecht behandelt hat. Wir sind jetzt
erst so weit, Euch empfangen zu können.«
Tier wischte sich die Augen und blinzelte gegen die
Helligkeit an, die tatsächlich nur eine ziemlich trübe Laterne war,
die die Frau von hinten beleuchtete.
Ihm wurde klar, dass dieser Anblick geplant war.
Sie hielt die Laterne sorgfältig so, dass Tier gewisse Aspekte
ihrer Gestalt deutlich sehen konnte. Das leichte Zittern der Hand,
die die Lichtquelle hielt, war vielleicht ebenfalls gekünstelt -
aber er selbst hätte sich auch nicht gerne einem Mann gestellt, der
so lange eingesperrt gewesen war, also nahm er nicht gleich das
Schlimmste an.
»Ich bin kein vornehmer Herr«, sagte er
schließlich. »Sagt mir einfach, wem ich für meinen Aufenthalt hier
zu danken habe.«
»Wenn Ihr das wollt«, sagte sie, »bringe ich Euch
an einen Ort, an dem all Eure Fragen beantwortet werden.«
Tier hätte sie überwältigen können, und das hätte
er auch getan, wenn sie ein Mann gewesen wäre. Aber wenn sie, wer
immer sie sein mochten, eine Frau
schickten, um ihn zu holen, konnte das nur bedeuten, dass es ihm
nichts nützen würde, sie zu überwältigen.
»Ihr müsst mir einen Augenblick Zeit lassen«, sagte
er, »bis ich wieder sehen kann.«
Als seine Augen sich angepasst hatten, sah er, dass
die Frau ein fließendes Gewand trug, das den Körper darunter
deutlich betonte.
Ein Hurenkleid - aber diese Frau war keine
gewöhnliche Hure. Sie war ausgesprochen schön, selbst nach den
Maßstäben eines Mannes, der weniger weiche, zerbrechliche Frauen
bevorzugte. Vielleicht bestand das Netz aus Edelsteinen und Gold,
das einen Teil ihres goldenen Haars hielt, in Wirklichkeit nur aus
Messing und Glas - er konnte wirklich nicht sicher sein -, aber das
Tuch für ihr Kleid war sehr teuer gewesen.
»Könnt Ihr schon sehen?«, fragte sie.
»O ja«, sagte er liebenswert. Er würde abwarten,
bis er mehr Informationen hatte, und dann handeln. »Führt mich,
schöne Dame.«
Sie lachte leise und ging einen Flur mit vielen
Biegungen entlang. Tier fand, dass sie sich eher verhielt, als wäre
er ein Freier statt ein Mann, der seit Wochen im Gefängnis gesessen
hatte.
Die Decke des Flurs war so niedrig, dass er sie
leicht mit der Hand hätte berühren können. Zu beiden Seiten gab es
Türen, die er aufschieben konnte und hinter denen sich Räume
befanden, die ganz wie seine Zelle aussahen. Die Frau hatte Geduld
mit ihm, wartete, ohne leise vor sich hin zu murmeln, und blieb
schließlich neben ihm vor einer eisernen Tür stehen, die doppelt so
groß war wie die zu seiner Zelle. Die Tür blieb fest geschlossen,
als er sie berührte.
Die Frau schwieg. Als er ihr die Laterne abnahm und
sie heller einstellte, damit er sich die Tür näher ansehen konnte,
verschränkte sie nur die Arme unter den vollen Brüsten.
Er ignorierte sie, bis er sicher war, dass sich
auch hier die Türangeln auf der anderen Seite befanden und es zudem
dort zwei Eisenstangen gab - durch den schmalen Ritz zwischen Tür
und Rahmen kaum zu erkennen -, die sie verbarrikadierten. Wenn er
Zugang zu einer Schmiede hätte, hätte er etwas herstellen können,
um die Tür aufzubrechen - aber das war wohl sehr
unwahrscheinlich.
Er reichte seiner Gastgeberin die Laterne zurück
und ließ sich weiterführen.
Der Flur machte noch eine scharfe Biegung und
endete vor einer Doppeltür. Kurz vor diesem Ende gab es noch eine
Tür auf jeder Seite. Es war die linke, die die Frau öffnete, und
sie trat zurück, um ihn vorgehen zu lassen.
Dampf und das Geräusch fließenden Wassers kamen aus
der geöffneten Tür, also war Tier nicht überrascht, dahinter einen
Baderaum zu finden. Er wusste, wie so etwas aussah, weil der Sept
von Gerant in seinem Baderaum Besprechungen mit seinen Offizieren
abgehalten hatte - er sagte immer, das Geräusch des Wassers
verhindere, dass jemand sie belauschen könnte. Aber Gerants karg
eingerichteter Raum hatte mit dem, der nun vor Tier lag, so viel zu
tun wie ein Esel mit einem Streitross. Eine goldene Wanne, so groß,
dass fünf oder sechs Personen hineingepasst hätten, war randvoll
mit heißem, dampfendem Wasser, und daneben stand ein hoher Tisch
mit unterschiedlichen Seifen und Tiegeln mit Ölen. Aber der
beeindruckendste Teil des Raumes war zweifellos das kalte
Becken.
Wasser lief aus einer Öffnung in der Decke über ein
Sims aus bearbeiteten Steinen, wo es sich ausbreitete und
wie ein Vorhang zu dem taillenhohen Becken darunter stürzte. Dass
es taillenhoch war, sah Tier deshalb, weil zwei nackte,
verängstigte und offensichtlich frierende Frauen darin
standen.
»Ssst!«, zischte seine Führerin plötzlich
verärgert. »Ihr tut, als solltet ihr eure Tugend noch einmal
verlieren. Sieht der hier aus wie ein Mann, der Frauen
wehtut?«
Dann senkte sie ihre Stimme zu einem Samtton und
wandte sich wieder Tier zu. »Ihr vergebt ihnen sicher. Unser
letzter Gast war nicht besonders froh über seine Gefangenschaft und
hat es an denen ausgelassen, die nichts damit zu tun hatten.«
Tier lachte ehrlich amüsiert. »Nach diesen Worten
würde ich mich wirklich wie ein dummer Junge fühlen, wenn ich so
etwas versuchte.«
Im helleren Licht des Baderaums konnte er sehen,
dass Myrceria mehr als nur schön war - sie war faszinierend, eine
Frau, die die Blicke der Männer auch noch anziehen würde, wenn sie
achtzig war. Im Geist schlug er noch etwas auf ihren Preis auf.
Wieso bot man ihm also einen solchen Dienst an? Der Gedanke wischte
das Lächeln von seinen Lippen.
»Ich soll mich also waschen, bevor ich vorgestellt
werde, wie?«, fragte er lässig.
»Wir werden das für Euch erledigen, wenn Ihr
gestattet«, antwortete sie und senkte demütig den Kopf. »Wenn Ihr
fertig seid, gibt es hier saubere Kleidung, um die zu ersetzen, die
Ihr jetzt tragt. Es geht nur um Eure Bequemlichkeit. Wenn Ihr
wollt, könnt Ihr auch bleiben, wie Ihr seid, und ich führe Euch
sogleich weiter. Ich dachte, Ihr würdet es vorziehen, nicht im
Nachteil zu sein.«
»Nachteil, wie?« Er warf einen Blick auf seine
Kleidung. »Wenn sie einen Mann am Ende einer dreimonatigen Jagd
entführen, haben sie es eigentlich nicht besser verdient. Ich werde
mich waschen, aber Ihr Damen solltet lieber verschwinden, oder
meine Frau wird meinen Kopf verlangen.«
Die Frauen im Becken kicherten, als hätte er etwas
Geistreiches gesagt, aber sie warteten auf eine Geste von Myrceria,
bevor sie aus dem Becken stiegen. Sie wickelten sich in je eines
der Badetücher, die gefaltet auf einer Bank lagen, und verließen
den Raum durch dieselbe Tür, durch die er hereingekommen war.
»Ihr ebenfalls, Mädchen«, sagte er zu seiner
Führerin. »Der Adlige, dem Ihr dient, lässt sich beim Waschen
vielleicht gerne helfen, aber wir Rederni können das durchaus
selbst erledigen.«
Sie verbeugte sich lächelnd, ging und schloss die
Tür hinter sich. Er hatte draußen keinen Riegel bemerkt, aber er
hörte ein Klicken, das nichts anderes sein konnte, also machte er
sich nicht die Mühe, die Tür zu versuchen. Der Wasserfall war
interessanter.
Vier Schritte später hatte er Halt am untersten
Sims gefunden und konnte den Rest relativ einfach zurücklegen. Er
fand die Öffnung, durch die das Wasser hereinkam, aber sie war mit
eingemauerten Eisenstäben vergittert.
Er kletterte wieder zurück und sprang mitsamt
seiner schmutzigen Kleidung in das kalte Wasser. Er hatte nicht
erwartet, wirklich auf diesem Weg fliehen zu können, aber er musste
wissen, womit er es zu tun hatte. Irgendwann würde er einen Ausweg
finden - und in der Zwischenzeit brauchte er nicht schmutzig zu
bleiben.
Zunächst wusch er die Kleidung, die er getragen
hatte, dann warf er sie in die wartende Badewanne mit dem heißen
Wasser, wo er sowohl sich selbst als auch seine Sachen einseifen
würde, wenn er im kalten Becken fertig war.
Das kalte Wasser lief ihm übers Gesicht und verhalf
ihm zu einem klareren Kopf und klareren Gedanken, während er den
Dreck von sich abkratzte.
Er hatte nicht gehört, dass jemand hereingekommen
war, aber als er unter dem Wasserfall hervorkam, wartete saubere
Kleidung auf ihn.
Er ignorierte sie, setzte sich in die Wanne mit dem
heißen Wasser, seifte sich ein und tat dann das Gleiche mit seiner
Kleidung. Dann spülte er die Sachen im kalten Becken ab und hängte
sie so gut er konnte auf. Nun fror er, also trocknete er sich ab
und untersuchte die Kleidung, die sie bereitgelegt hatten.
Die Sachen waren brauchbar, ganz ähnlich wie die,
die er ausgezogen hatte, nur weniger abgetragen. Er betastete das
Hemd nachdenklich, bevor er es anzog. Die Lederstiefel passten ihm
so gut wie seine alten, die er irgendwann während der
Gefangenschaft verloren hatte.
Als er die Stiefel zuschnürte, kehrte seine
Führerin zurück - die Zeiteinteilung war zu exakt, als dass sie es
geraten haben konnte. Jemand hatte ihn beobachtet, und er hoffte,
das Theater hatte ihnen gefallen. Sie hielt ein Tablett mit einem
Kamm und einer schlichten Silberklemme und streckte es ihm hin. Er
fuhr sich mit dem Kamm durchs Haar und band es zu einem Zopf, den
er mit der Klemme schloss.
Dann drehte er sich einmal um, damit sie sich das
Ergebnis ansehen konnte, und sie nickte. »Das wird genügen. Wenn
Ihr mir jetzt folgen würdet? Der Meister erwartet Euch.«
»Meister?«, fragte er.
Aber sie hatte ihm alles gesagt, was sie verraten
wollte. »Kommt«, sagte sie und führte ihn wieder in den Flur.
Die Doppeltür am Ende des Flurs stand diesmal
offen, und ein Hauch von Rauch trieb in den Flur, zusammen mit
unrhythmischem Trommelschlag und dem Summen von Gesprächen. Aber
Tier hatte nur einen Herzschlag lang, um hineinzuschauen und einen
Blick auf einen großen Raum mit Tischen und Bänken zu erhaschen,
bevor die Frau die Tür direkt gegenüber dem Baderaum öffnete und
ihn hineinwinkte.
Was die Größe und den Mangel an Fenstern anging,
erinnerte der Raum an die Zelle, in der sich Tier befunden hatte,
obwohl der Steinboden hier mit einem fest gewebten Teppich bedeckt
war, der sich unter seinen Füßen weich anfühlte. Zwei passende
Behänge zierten eine Wand. Die einzigen Möbel waren zwei bequem
aussehende Stühle und ein kleiner runder Tisch.
Auf einem der Stühle saß ein Mann in einem
schwarzen Samtgewand, der an einem Kelch nippte. Er war vielleicht
zehn Jahre älter als Tier und hatte die Züge eines Adligen aus dem
Osten: breite Wangen und eine flache Nase. Wie sein Gesicht
gehörten auch seine Hände einem Aristokraten, waren schlank und mit
Ringen bedeckt.
Er blickte auf, als Tiers Führerin leise
hüstelte.
»Ah, danke, Myrceria«, sagte er freundlich und
stellte den Kelch auf den Tisch. »Das war alles.«
Die Tür schloss sich leise hinter Tiers Rücken, und
die beiden Männer waren allein im Zimmer.
Der Mann im Gewand faltete die Hände nachdenklich
unter dem Kinn. »Ihr seht nicht aus wie ein Reisender, Tieragan aus
Redern.«
Ein Reisender?
Tier zog eine Braue hoch und setzte sich auf den
leeren Stuhl. Er war ein bisschen niedrig für ihn, also streckte er
die Beine aus und kreuzte die Fußknöchel. Als er bequem saß, sah er
den Mann an, der wahrscheinlich für seine Gefangennahme
verantwortlich war, und sagte höflich: »Und Ihr seht nicht aus wie
eine Eiterbeule am Hinterteil einer Schnecke. Äußerlichkeiten
können trügen.«
Das Gesicht des anderen Mannes änderte sich nicht,
aber Tier spürte ein Aufwallen von Macht, von Magie - genau, was er
erwartet hatte.
Die Magie verging wieder, und der Zauberer
lächelte. »Ihr
seid wirklich verärgert, wie? Wir sollten uns vielleicht dafür
entschuldigen, dass wir Euch eingeschlossen haben, aber es ist
lange her, dass wir uns einer Eule bemächtigen konnten. Wir mussten
sicher sein, dass wir Eure Magie eindämmen konnten, bevor wir Euch
freiließen.«
Seine Magie eindämmen?
»Ihr scheint viel über mich zu wissen«, stellte
Tier fest. »Möchtet Ihr mir das Vergnügen bereiten, mir auch etwas
über Euch zu verraten?«
Der andere Mann lachte. »Ihr müsst mich
entschuldigen - Ihr seid nicht ganz, was ich erwartet hatte. Ich
bin Kerstang, Sept von Telleridge.«
Tier nickte. »Und was will der Sept von Telleridge
mit einem Rederni-Bauern?«
»Überhaupt nichts«, sagte Telleridge. »Aber ich
könnte etwas mit einem Reisenden und Barden anfangen.«
»Ich habe es Euch doch schon gesagt«, erklärte Tier
freundlich. »Ich bin kein Reisender. Wofür braucht Ihr mich?«
Telleridge lächelte, als freue er sich über Tiers
Antwort. »Zusätzlich zu meinen Pflichten als Sept habe ich die
schwierige Aufgabe, mich um die Jugend des Reiches zu kümmern. Die
Erbgesetze, so notwendig sie sein mögen, sorgen dafür, dass viele
jüngere Söhne von Adligen keine konstruktiven Möglichkeiten haben,
ihre Energie abzureagieren. Ich habe hier ein Nest für diese
verlorenen Seelen eingerichtet und bin für ihre Unterhaltung
verantwortlich.«
»Und ich soll diese Unterhaltung liefern?«, fragte
Tier. »Es gibt doch sicher Barden, die Ihr nicht zu entführen
braucht, um sie zum Singen zu überreden.«
Telleridge lachte. »Aber die wären nicht annähernd
so amüsant.« Das Lachen verklang, als wäre es nie dagewesen. »Und
sie wären auch nicht Eule. Im Augenblick müsst Ihr nur wissen, dass
Ihr für das nächste Jahr mein Gast sein werdet, ob Ihr das
wollt oder nicht. In dieser Zeit werdet Ihr meine jungen Freunde
unterhalten und hin und wieder an unseren Zeremonien teilnehmen. Im
Gegenzug dafür dürft Ihr um alles bitten, was Ihr wollt, außer zu
gehen, und wir werden es Euch liefern.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Tier.
»Ihr habt nicht die Möglichkeit, Euch zu weigern«,
erwiderte der Zauberer. »Ein Jahr und einen Tag werdet Ihr haben,
was immer Ihr wollt - oder Ihr könnt Euch wehren, mir ist das
egal.«
Diese Zeitspanne kam ihm bekannt vor. »Ein Jahr und
ein Tag«, sagte Tier. »Ihr macht mich für ein Jahr und einen Tag
zum Bettlerkönig.« Er summte ein paar Takte des alten Lieds. »Und
ich nehme an, Ihr werdet mich wie den Bettlerkönig am Ende den
Göttern opfern?«
»Genau«, stellte der Zauberer fest, als wäre Tier
ein besonders guter Schüler. »Ich sehe schon, dass eine Eule anders
sein wird als ein Rabe - die letzten drei Mal hatten wir Raben. Der
Jäger war interessant, obwohl wir ihn am Ende einsperren mussten.
Ich denke, Ihr werdet Eure Aufgabe gut erfüllen. Aber zunächst
…«
Er beugte sich vor und berührte Tier leicht, und
als er das tat, fiel Tier der Silberring mit dem Onyx an seinem
Zeigefinger auf.
Er wurde wieder abgelenkt, als die Stimme des
Zauberers eine ganze Oktave tiefer wurde und er in der
Reisendensprache sagte: »Bei Lerche und Rabe
binde ich dich, damit du weder mir noch einem anderen Zauberer im
schwarzen Gewand in diesen Hallen Schaden zufügst. Bei Kormoran und
Eule binde ich dich, damit du niemanden bitten wirst, dir bei einer
Flucht zu helfen. Beim Falken binde ich dich, damit du nicht von
deinem Tod sprechen wirst.«
Magie durchdrang Tier und bewirkte, dass er sich
nicht rühren konnte, bis der Zauberer fertig war.
»So«, sagte er und lehnte sich wieder zurück.
In der Tat, dachte Tier
erschüttert. Niemand hatte ihn je zuvor mit einem Bann belegt. Er
fühlte sich … geschändet und verängstigt. Es war so schnell
gegangen, und er hatte sich nicht einmal verteidigen können; kalter
Schweiß brach ihm im Nacken aus, und er schauderte und musste gegen
wachsende Übelkeit ankämpfen.
»Ist Euch übel?«, fragte Telleridge. »Auf manche
wirkt es sich so aus, aber ich konnte mich schließlich nicht auf
das Wort eines Reisenden und Bauern verlassen - selbst wenn Ihr
nachgegeben hättet. Meine jungen Freunde sind leicht zu
beeinflussen. Ich will wirklich keinen meiner Sperlinge zu früh
verlieren.«
»Sperlinge?«, fragte Tier, der nur flach durch die
Nase atmete und hoffte, nicht so erschüttert auszusehen, wie er
sich fühlte. »Ihr habt hier Vögel?«
Der Zauberer lächelte. »Wie ich schon sagte, ein
Barde könnte sehr interessant sein. Myrceria wird Euch sagen, was
Ihr über meine Sperlinge wissen müsst. Fragt sie nach dem Geheimen
Pfad, wenn Ihr wollt. Sie wartet vor der Tür auf Euch.«
Die Frau wartete tatsächlich auf ihn, kniete auf
dem kalten Steinboden, die Hände ruhig gefaltet. Bereit, dachte
Tier, mit einem Mann in jeder Stimmung zurechtzukommen. Sie regte
sich nicht, bevor er die Tür leise hinter sich schloss.
»Wenn Ihr wollt, werde ich Euch ins Nest bringen«,
sagte sie und zeigte mit der rechten Hand auf die Doppeltür. »Dort
gibt es andere, mit denen Ihr Euch unterhalten und essen und
trinken könnt. Wenn Ihr mir lieber Fragen stellen wollt, können wir
auf Euer Zimmer gehen. Ihr werdet feststellen, dass es erheblich
verbessert wurde.«
»Gehen wir reden«, sagte er.
Wie Myrceria versprochen hatte, hatte sich die
Zelle in seiner Abwesenheit verwandelt. Sie war geputzt und mit
einem der Betten möbliert worden, wie die Adligen sie benutzten -
es war keine der mit Binsen gefüllten Matratzen auf gespannten
Seilen, die er von zu Hause kannte. Überall gab es teure Stoffe und
seltenes Holz; der Raum hätte vollgestopft aussehen sollen, wirkte
aber stattdessen gemütlich. In der Mitte des Betts lag eine Laute,
der man deutlich ansah, dass sie schon oft benutzt worden war, und
die seltsam fehl am Platze wirkte.
Tier machte einen Schritt darauf zu, blieb dann
aber stehen. Er war nicht wie Seraph, er verspürte nicht das
Bedürfnis, prinzipiell das Gegenteil von dem zu tun, wozu alle ihn
bewegen wollten, aber das bedeutete nicht, dass es ihm gefiel,
manipuliert zu werden. Also nahm er sich vor, sich die Laute später
anzusehen, und konzentrierte sich auf eine andere Seltsamkeit. Der
Raum wurde von glühenden Steinen in kupfernen Kohlebecken
beleuchtet, die an strategischen Stellen im Zimmer angebracht
waren.
»Sie sind ziemlich ungefährlich«, sagte Myrceria
hinter ihm. Sie stieß sanft mit ihm zusammen und schmiegte sich an
ihn, bis ihre Brüste an seinem Rücken ruhten, dann griff sie um ihn
herum und nahm den faustgroßen Stein aus dem Kohlebecken, das er
hochgehoben hatte.
Er setzte das Becken vorsichtig wieder hin und
löste sich von ihr. »Ihr seid sehr hübsch, Mädchen«, sagte er.
»Aber wenn Ihr meine Frau kennen würdet, wüsstet Ihr, dass sie
meine Leber herausreißen und sie verschlingen würde, während meine
bebenden Überreste zusehen, wenn ich sie jemals betröge.«
»Sie ist nicht hier«, murmelte Myrceria, legte den
Stein zurück und drehte sich anmutig in einem Kreis, damit er sehen
konnte, was er da ablehnte. »Sie wird es nie erfahren.«
»Ich würde meine Frau niemals unterschätzen«,
antwortete er. »Und das solltet Ihr lieber auch nicht tun.«
Myrceria berührte das Netz an ihrem Haar und
schüttelte den Kopf, sodass Wellen von goldenem Haar über ihren
Rücken fielen, bis hinab zu den Fußknöcheln. »Sie wird glauben,
dass Ihr tot seid«, sagte sie. »Dafür haben sie gesorgt. Wird sie
Euch treu sein, wenn Ihr tot seid?«
Seraph hielt ihn für tot?
Er musste wirklich nach Hause zurückkehren.
»Telleridge behauptete, Ihr würdet meine Fragen
beantworten«, sagte er. »Wo sind wir?«
»Im Palast«, antwortete sie.
»In Taela?«
»Ja.« Sie lehnte sich an ihn.
Er beugte sich vor, bis sein Gesicht nahe an ihrem
war. »Nein«, sagte er leise. »Ihr habt Antworten auf meine Fragen,
und das ist alles, was mich interessiert.« In ihren Augen blitzte
so etwas wie Furcht auf, und er nahm an, dass eine Hure ihrer
Klasse sich wohl kaum freiwillig einem Gefangenen anbieten würde.
»Ihr könnt Telleridge über diesen Abend sagen, was Ihr wollt, und
ich werde es nicht abstreiten - aber ich breche die Schwüre nicht,
die ich abgelegt habe. Ich habe meine eigene Frau; was ich brauche,
sind Antworten.«
Sie stand einen Augenblick reglos da, ihr Blick
unergründlich - was ihm mehr darüber sagte, was sie dachte, als die
schlichte, aufs Praktische ausgerichtete Miene einer Hure.
Langsam, aber nicht verführerisch, band sie ihr
Haar wieder ins Netz. Als sie fertig war, hatte sie ihre
verführerische Ausstrahlung ebenfalls weggesteckt.
»Also gut«, sagte sie. »Was wollt Ihr
wissen?«
»Belügt mich«, sagte er.
Sie zog die Brauen hoch. »Eine Lüge?«
Ȇber irgendwas. Sagt mir, dass die Bettdecke blau
ist.«
»Die Bettdecke ist blau.«
Nichts. Er spürte
nichts.
»Sagt mir, dass sie grün ist.«
»Die Bettdecke ist grün.«
Er konnte nicht herausfinden, ob sie log. Das
einzig Nützliche an seiner Magie funktionierte nicht mehr. Er
öffnete den Mund, um sie zu bitten, ihm bei der Flucht zu helfen,
nur, weil er sehen wollte, ob er es konnte, aber kein Wort kam ihm
über die Lippen.
»Die Götter sollen ihn
holen!«, brüllte er wütend. »Die Götter sollen ihn holen, ihm
bei lebendigem Leib die Milz herausreißen und sie essen.« Er wandte
sich der Hure zu, und sie wich zurück, obwohl das wirklich nicht
nötig gewesen wäre. »Erzählt mir von diesem Ort, den Sperlingen,
dem Geheimen Pfad, Telleridge … von allem.«
Sie machte noch einen Schritt zurück und ließ sich
zimperlich auf der Bettkante nieder, weit von der Laute entfernt.
Rasch sagte sie: »Der Geheime Pfad ist eine Geheimorganisation von
Adligen. Die Räume, die Ihr heute gesehen habt, und ein paar
andere, befinden sich unterhalb eines unbenutzten Flügels des
Palasts. Viele Aktivitäten des Pfads werden nur von den jungen
Männern, den Sperlingen, ausgeübt. Die älteren Mitglieder und die
Meister, die Zauberer, befehlen, welche Aktivitäten das sein
sollen. Die Sperlinge sind die jüngeren Mitglieder des Geheimen
Pfads. Sie sind zwischen sechzehn und zwanzig, wenn sie
eintreten.«
»Wie nennt Ihr die älteren Mitglieder?«, fragte
Tier.
»Raubvögel«, erwiderte sie und entspannte sich ein
wenig. »Und die Zauberer sind die Meister.«
»Wer hat das Sagen - die Zauberer oder die
Raubvögel?«
»Der Hohe Pfad - eine ausgewählte Gruppe aus
Raubvögeln und Meistern, die von Meister Telleridge geführt
wird.«
»Und wer kann Mitglied werden?«, fragte er.
»Man muss ein Adliger sein und über den
angemessenen Charakter verfügen. Direkte Erben eines Sept sind
ausgeschlossen.
Die meisten Jungen kommen auf Empfehlung von anderen
Sperlingen.«
»Telleridge ist ein Sept«, sagte Tier, der
versuchte, sein Wissen in ein Muster einzupassen.
»Ja. Sein Vater und seine älteren Brüder waren
Opfer der Pest.«
»Hat er diesen … Geheimen Pfad gegründet?«
»Nein.« Sie lehnte sich ein wenig bequemer gegen
die Wand. »Es ist eine sehr alte Vereinigung, über
zweihundertfünfzig Jahre alt.«
Tier rief sich die Geschichte des Kaiserreichs vor
Augen. »Nach dem Dritten Bürgerkrieg.«
Myrceria nickte und lächelte ein wenig.
»Es war, glaube ich, Phoran der Achtzehnte, der
mitten im Krieg Kaiser wurde, nachdem sein Vater von einem
Attentäter umgebracht wurde«, sagte er. »Ein Mann, der für seine
diplomatischen Leistungen und nicht für seine Kriegskunst bekannt
war. Was war es noch, was zu dem Krieg führte …«
Ihr Lächeln wurde ausgeprägter. »Ich denke, das
wisst Ihr recht gut. Es heißt, Barden kennen sich mit der
Geschichte aus.«
»Die jüngeren Söhne einer Reihe von mächtigeren
Septs rissen die Ländereien ihrer Väter oder Brüder an sich,
während die Septs sich in einer Ratssitzung befanden. Sie
behaupteten, die Erbgesetze seien falsch, und beraubten jüngere
Söhne ihres gerechten Erbes. Der Krieg dauerte zwanzig
Jahre.«
»Dreiundzwanzig«, verbesserte sie ihn
freundlich.
»Ich wette, der Pfad wurde vom jüngeren Bruder
Phorans des Achtzehnten ins Leben gerufen - dem Offizier.«
Sie räusperte sich. »Tatsächlich von Phorans
jüngstem Sohn, aber Phorans Bruder gehörte zu den ursprünglichen
Mitgliedern.«
Nun hatte Tier das Muster gefunden: »Der Pfad lockt
die
jüngeren Söhne an, junge Männer, die dazu erzogen wurden, Macht
auszuüben, aber niemals welche haben werden. Nur die, die am
zornigsten über ihr Los sind, werden zugelassen. Als junge Männer
erhalten sie eine geheime Möglichkeit, denen zu trotzen, die an der
Macht sind - einen sicheren Ort, an dem sie ihre Kräfte verausgaben
können. Dann, nehme ich an, werden ein paar nach und nach in
Situationen geführt, wo sie wirklich Macht erlangen können -
Berater des Königs, Kaufmann, Diplomat. Positionen, in denen sie
Macht erlangen und in den Wohlstand des Reiches investieren können,
das sie so ablehnen. Der alte Phoran der Achtzehnte war ein
hervorragender Stratege.«
»Ihr seid sehr gebildet für einen … einen Bäcker«,
sagte sie, »aus einem kleinen Dorf im Hinterland.«
Er lächelte sie an. »Ich habe seit meinem
fünfzehnten Lebensjahr bis zum Ende des letzten Kriegs unter dem
Sept von Gerant gekämpft. Er gilt als eine Art Exzentriker. Ihn
kümmerte nicht, als was seine Kommandanten zur Welt gekommen waren;
für ihn war nur wichtig, dass sie so viel über Politik und
Geschichte wussten wie über Kriege.«
»Ein Soldat?« Sie dachte über die Idee nach. »Das
hatte ich vergessen - sie schienen es nicht für sonderlich wichtig
zu halten.«
»Ihr seid für Eure Position ebenfalls sehr
gebildet«, sagte er.
»Wenn schon jüngere Söhne keinen Platz im Reich
haben, dann sind ihre Töchter …« Abrupt brach sie ab und machte
einen Schritt zurück. »Wieso sage ich Euch das?« Ihre Stimme bebte
in ungekünstelter Angst. »Ihr dürft hier keine Magie wirken. Sie
sagten, das könntet Ihr auch nicht.«
»Ich wirke keine Magie«, sagte er.
»Ich muss gehen«, verkündete sie und verließ die
Zelle. Sie vergaß allerdings nicht, die Tür abzuschließen und den
Riegel vorzulegen.
Als sie weg war, zog er die Beine aufs Bett,
Stiefel und alles, und lehnte sich gegen die Wand.
Was immer der Pfad einmal hatte sein sollen, er
bezweifelte, dass derzeit sein einziger Sinn darin bestand, die
jüngeren Adligen zu beschäftigen. Telleridge kam ihm nicht so vor,
als interessiere er sich für einen anderen als sich selbst - und
ganz bestimmt nicht für den Bestand des Kaiserreichs.
Als er an Telleridge dachte, erinnerte sich Tier
wieder, was der Zauberer ihm angetan hatte. Seine Magie war
tatsächlich verschwunden - nicht, dass sie ihm in einer solchen
Situation viel nützen würde. Allein und ohne Zeugen saß Tier auf
dem Bett, schlug die Hände vors Gesicht und sah noch einmal vor
sich, wie Telleridges Hand seinen Arm berührte.
Zauberer sollten eigentlich nicht imstande sein,
solche Zauber zu bewirken. Sie mussten Tränke bereiten und Symbole
zeichnen - er hatte das alles schon gesehen. Nur Raben konnten
einen Bann mit Worten wirken.
Und Telleridge hatte die Sprache der Reisenden
gebraucht.
Tier richtete sich auf und starrte eines der
glühenden Kohlebecken an, ohne es wirklich zu sehen. Dieser Ring.
Er hatte diesen Ring schon einmal gesehen, an dem Abend, als er
Seraph kennengelernt hatte.
Es mochte zwanzig Jahre her sein, aber er war
sicher, dass er sich nicht irrte. Er hatte ein gutes Gedächtnis,
und der Ring, den Telleridge trug, hatte die gleiche Kerbe an der
Fassung wie der Ring dieses … wie war sein Name gewesen? Wresen.
Wresen war ebenfalls ein Zauberer gewesen. Ein Zauberer, der Seraph
verfolgte.
Wie konnte Telleridge wissen, dass Tier Barde war?
Tier war davon ausgegangen, dass sein unbekannter Besucher es dem
Zauberer erzählt hatte - oder vielleicht war dieser Besucher sogar
der Zauberer selbst gewesen. Aber nun klang es, als wäre Tiers
Bardentum der Grund für die Entführung. Niemand
außer Seraph wusste, was er war - obwohl sie ihm auch gesagt
hatte, dass jeder Rabe ihn als Barden erkennen würde.
Sie hatten ihn beobachtet. Myrceria hatte gewusst,
dass er Bäcker und Soldat gewesen war. Hatten sie ihn und Seraph
zwanzig Jahre lang beobachtet? Beobachteten sie Seraph immer
noch?
Er sprang auf und begann, auf und ab zu gehen. Er
musste nach Hause. Als er sich nach einer Stunde fruchtlosen
Nachdenkens immer noch in der abgeschlossenen Zelle befand, ließ er
sich wieder auf dem Bett nieder und griff zerstreut nach der Laute.
Er konnte nichts weiter tun, als für jede Gelegenheit zur Flucht
bereit zu sein und sie zu ergreifen, wann immer sie sich bot.
Er bemerkte mit ironischem Grinsen, welche Melodie
er begonnen hatte zu spielen. Beinahe trotzig zupfte er nun den
Kehrreim mit geschickter Präzision.
Ein Jahr und ein
Tag,
Ein Jahr und ein Tag,
Und der Bettler wird König sein,
Für ein Jahr und einen Tag.
Ein Jahr und ein Tag,
Und der Bettler wird König sein,
Für ein Jahr und einen Tag.
In dem Lied kamen verzweifelte Priester zu dem
Schluss, dass ein Opfer gebracht werden müsse, um eine schon zehn
Jahre andauernde Trockenzeit zu beenden - und es musste die
wichtigste Person im Land geopfert werden: der König. Der König
weigerte sich, aber er schlug den Priestern vor, einen Bettler von
der Straße zu holen. Der König würde sich ein Jahr lang aus dem Amt
zurückziehen und den Bettler König sein lassen. Die Priester
wandten ein, ein Jahr sei nicht lang genug - also wurde der Bettler
König für ein Jahr und einen Tag. Die Trockenheit endete mit dem
willigen Opfer des jungen Mannes, der sich damit als würdiger
erwies als der echte König.
Und Tier würde als Reisendenkönig des Geheimen
Pfads am Ende seiner Herrschaft ebenfalls sterben.
Er dachte an eine der Bindungen, die Telleridge ihm
auferlegt hatte. Die jungen Männer, die Sperlinge, wussten offenbar
nicht, dass er sterben würde - sonst hätte der Zauberer ihm wohl
kaum verboten, darüber zu sprechen.
Zweifellos würde sein Tod einem wichtigeren Zweck
dienen als der Nachahmung eines alten Lieds. Würde er die Götter
zufriedenstellen, wie das Opfer des Bettlerkönigs in der
Geschichte? Aber warum verbargen sie es dann vor den jungen
Männern? Was wollte ein Zauberer mit seinem Tod anfangen?
Magie und Tod - er erinnerte sich, dass Seraph
einmal darüber gesprochen hatte -, Magie und Tod waren eine sehr
mächtige Kombination. Je besser der Magier das Opfer kannte, desto
stärker war die Magie, die er wirken konnte. Die Hauskatze des
Magiers funktionierte besser als ein streunendes Tier. Ein Freund
besser als ein Feind … ein Freund für ein Jahr und einen Tag.
Er musste sich unbedingt mit Seraph in Verbindung
setzen. Er musste sie warnen, damit sie die Kinder beschützen
konnte.
Er spielte die Akkorde eines alten Kriegslieds.
Myrceria, dachte er. Ich werde an Myrceria arbeiten.
Phoran hielt das Pergamentbündel triumphierend in
der Hand, als er durch die Flure des Palasts zu seinem
Arbeitszimmer eilte. Als Erstes würden sie in seinen Gemächern nach
ihm suchen. Keiner außer dem alten Bibliothekar wusste von dem
Arbeitszimmer. Irgendwann würden sie Phoran finden, aber nicht
bevor er bereit war.
Es war eigentlich nur ein Impuls gewesen. Als
Douver, dieser alte Narr, die Dekrete geschickt hatte, die er für
den Rat der Septs unterschreiben sollte, hatte Phoran nach ihnen
gegriffen,
sie unter den Arm geklemmt und dem beinahe leeren Raum
angekündigt, dass er sie sich ansehen werde.
Er hatte sich auf dem Absatz umgedreht und war
gegangen, durch ein kompliziertes System von Geheimgängen - von
denen einige so gut bekannt waren, dass es ebenso gut hätten
reguläre Flure sein können, und andere, von denen er gern glaubte,
dass nur er sie kannte. Er hatte niemandem die Gelegenheit gegeben,
ihm zu folgen.
Die meiste Zeit seines Lebens hatte er einfach
unterschrieben, was man ihm vorlegte. Sein Onkel war zumindest so
freundlich gewesen, ihm immer zu erklären, was er da unterschrieb -
obwohl Phoran sich erinnern konnte, dass ihn das meiste davon nicht
interessiert hatte.
Aber der leere Raum war beleidigend gewesen. Wenn
der Kaiser zweimal im Jahr Dekrete und Gesetzesvorschläge
unterzeichnete, sollten mehr Leute anwesend sein, und sie wären es
auch gewesen, wenn sie glaubten, dass der Kaiser noch etwas anderes
tat, als automatisch alles zu unterzeichnen, was man ihm
vorlegte.
Er betrat die Bibliothek durch eine Seitentür, ging
unbemerkt zwischen den Pergamentbehältern und Bücherregalen
hindurch und schloss die Tür seines Arbeitszimmers auf. Es war ein
kleiner Raum, aber er ließ sich von innen ebenso abschließen wie
von außen, was alles war, das er brauchte.
Er setzte sich auf seinen Stuhl und begann
nachzudenken. Es war zwar schön und gut, dass er nicht länger nur
dem Namen nach Kaiser sein wollte, aber er hatte wirklich nicht die
Unterstützung, die er benötigte. Der Sept von Gorrish betrachtete
sich praktisch als Regent, und die Septs, die ihm folgten,
Telleridge und die anderen, würden ihr Bestes tun, gegen jedes
Zeichen von Unabhängigkeit anzukämpfen.
Wirklich, er sollte die verdammten Dinger einfach
signieren, dann würde er seine Ruhe haben.
Stattdessen öffnete er das Tintenfass, schnitt die
Federn zurecht und fing an zu lesen. Die ersten drei Pergamente
unterschrieb er - komplizierte Handelsabkommen zwischen diversen
Septs, und nichts, in das der Kaiser sich einmischen sollte. Aber
beinahe unwillkürlich merkte er sich die Namen derer, die diese
Bündnisse schlossen.
Das vierte Pergament war ein weiteres der immer
strenger werdenden Gesetze gegen die Reisenden. Er unterzeichnete
das ebenfalls. Sein Onkel hatte immer gesagt, die meisten Reisenden
seien Diebe, obwohl sie auch recht sympathisch sein konnten. Sie
hatten kein Land, auf dem sie sich niederlassen konnten, weil kein
Sept so etwas erlauben würde, also waren sie gezwungen, ihr Brot so
gut zu verdienen, wie sie konnten.
Stunden vergingen. Hin und wieder schlich sich
Phoran in die Bibliothek und holte Landkarten oder Bücher. Aber er
unterzeichnete die Pergamente eins nach dem anderen und legte nur
wenige beiseite, um sie sich noch einmal anzusehen.
Er fand zwei, die im vielleicht dienen könnten. Es
waren regionale Angelegenheiten, die den größten Teil des Rats
nicht sonderlich interessieren würden, und sie waren jeweils nur
von etwas mehr als der Hälfte der Ratsmitglieder
unterschrieben.
Das erste Dekret würde dem Sept von Holla
umfassende Fischrechte im Azalansee einräumen. Phoran hatte sich
Karten angesehen und festgestellt, dass der Azalansee ein kleines
Gewässer inmitten des Landes war, das dem Sept von Holla gehörte.
Und genau das machte das Dekret so merkwürdig - die Septs hatten
für gewöhnlich ohnehin die alleinigen Rechte auf jedes Gewässer,
das vollkommen von ihrem Land eingeschlossen war; Phoran war klar,
dass eine Geschichte dahinterstecken musste. Bei der zweiten
Vorlage ging es um ein kleines Stück Land, das dem Sept von Jenne
für seine »Dienste am Kaiserreich« zugesprochen wurde.
Er sah sich diese schlichten Worte mehrmals an, um
Hinweise zu finden, und ärgerte sich darüber, dass seine
Gleichgültigkeit ihn in den letzten Jahren veranlasst hatte, nicht
zu den Ratssitzungen zu gehen, denn inzwischen wusste er nicht
mehr, wer mit wem verbündet war. Geografie half - Hollas
Unterschriften kamen von den Septs im Nordosten, Hollas Nachbarn.
Sie hatten alle unterschrieben - bis auf einen. Dieser Nachbar,
begriff Phoran plötzlich, hatte wohl Fischer zum See seines
Nachbarn geschickt.
So könnte es gewesen sein - Holla hatte im Rat
wenig Einfluss. Aber Phoran würde lieber gerecht entscheiden.
Das zweite Pergament war frustrierend, weil das
fragliche Stück Land so klein war, dass er nicht viel darüber
herausfinden konnte.
Als er von einer Landkarte aufblickte, stand das
Memento im Zimmer.
Er hatte nicht gewusst, wie lange er schon hier
gewesen war. Er hatte die Lampendochte hin und wieder beschnitten,
wenn es notwendig gewesen war, ohne weiter darüber nachzudenken,
und es gab kein Fenster, das ihm hätte sagen können, dass die Sonne
untergegangen war.
Langsam legte Phoran die Feder hin und zog das
schwere Staatsgewand aus, damit er seinen Arm entblößen konnte. Die
Hoffnung, die ihn den größten Teil des Tages erfüllt hatte,
verpuffte bei der Berührung der kalten, kalten Lippen an seiner
Haut.
Es tat weh, und Phoran wandte den Blick ab, als das
Memento sich nährte.
»Weil ich dein Blut genommen habe, schulde ich dir
eine Antwort. Wähle deine Frage.«
Unendlich müde und immer noch zitternd von den
Überresten des Schmerzes, lachte Phoran harsch auf und fragte:
»Kennst du jemanden, der mir helfen könnte zu verstehen,
was so Besonderes an einem kleinen Stück Land des Sept von Gerant
ist, dass der Rat es dem Sept von Jenne geben will?«
Das Memento drehte sich um und schwebte zur
Tür.
»Ich dachte, du bist mir eine Antwort schuldig«,
sagte Phoran, aber ohne Zorn. Das hätte zu viel Leidenschaft
verlangt, und er hatte seine Pläne eigentlich schon aufgegeben. Er
würde keinem unschuldigen Mann schaden, nur weil dessen Petition
seinen Zwecken diente, und er vermutete, dass er in der Bibliothek
keinerlei Informationen finden würde, die begründen konnten, wieso
er Jennes Petition nicht unterschreiben sollte.
Er war bereits auf dem Rückweg zum Schreibtisch, um
zwei gut gezeichnete Landkarten mit einer dritten, weniger klaren,
aber mit mehr Einzelheiten versehenen zu vergleichen, als das
Memento sagte: »Komm mit.«
Phoran blickte auf und sah, dass es auf ihn
wartete. Er brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, was
er überhaupt gefragt hatte.
»Du kennst jemanden, der
helfen könnte?«
Es antwortete nicht.
Phoran starrte es an und versuchte nachzudenken.
Wenn ihn jemand sah … Er warf einen Blick auf die Pergamente und
Landkarten, die überall verstreut lagen, und griff nach denen, die
vielleicht hilfreich sein würden.