15
In Tiers Zelle (denn es
handelte sich immer noch um eine Gefängniszelle, auch wenn sie
eingerichtet war wie für einen König) sah Seraph, dass sie mit
ihrer Spekulation, was die anderen machten, richtig gelegen hatte:
Lehr wirkte verlegen, Jes unergründlich, und die Frau, Myrceria,
sah sehr erschrocken aus.
»Es tut mir leid«, sagte Seraph zu ihr. »Ich wollte
Euch nicht beleidigen, Myrceria, aber ich weine für gewöhnlich
nicht vor Fremden. Wir hatten Tier vor ein paar Monaten für tot
gehalten, und ich konnte kaum glauben, dass er wirklich hier ist
und in Sicherheit.«
Myrceria war eindeutig erleichtert über Seraphs
Ruhe. »Selbstverständlich verstehe ich das; ich überlasse Euch
Eurem Wiedersehen, Tier.«
»Danke«, sagte Tier. »Sagt mir Bescheid, wenn Ihr
etwas über die Disziplinierung erfahrt.«
Sie blieb an der Tür stehen. »Ich werde niemandem
verraten, dass Eure Familie hier ist«, versprach sie.
»Das hatte ich auch nicht angenommen«, erwiderte
Tier. »Schlaft gut.«
»Das werde ich wohl«, sagte sie und schloss die Tür
hinter sich.
Tier setzte sich aufs Bett, zog Seraph neben sich
und legte den Arm um sie. Lehr setzte sich auf seine andere Seite,
nahe an seinen Vater, aber ohne ihn zu berühren.
»Also«, begann Tier, »erzählt mir von euren
Abenteuern. Nicht du, Seraph, ich will nicht nur einen knappen
Bericht, sondern auch Einzelheiten erfahren. Lehr, was ist
passiert? Ihr dachtet, ich wäre tot?«
Seraph überließ Lehr gern den größten Teil des
Erzählens. Tier schien zu denken, dass sie im Augenblick hier alle
in Sicherheit waren, und sie gab sich mit seiner Einschätzung
zufrieden. Sie schloss die Augen, atmete Tiers Duft ein und spürte
seine Wärme an der Haut.
Am Ende der Geschichte schüttelte Tier den Kopf.
»Meine Liebste«, sagte er, und sie sah das Lachen in seinen Augen.
»Du hast dich verändert; du hast einen ganzen Reisendenclan
überredet, nach Taela zu kommen, um mich zu retten. Wann hast du
gelernt, so überzeugend zu sein?«
Sie sah ihn verärgert an. »Als ich entdeckte, dass
es nützlicher war, Spielfiguren zu haben, die taten, was ich von
ihnen wollte, als sie umzubringen und dann alles selbst erledigen
zu müssen.« Sie grinste triumphierend, als sie bemerkte, dass Tier
nicht vollkommen sicher war, wie ernst sie das meinte, und Lehr
lachte.
Tier verdrehte die Augen. »Man geht für ein paar
Wochen, und schon passiert etwas. Die Frauen und Kinder erinnern
sich nicht mehr daran, dass sie einem Respekt schulden. Was hast du
mit einem ganzen Clan vor?«
»Wir hätten ohne sie nie in den Palast gelangen
können«, sagte Seraph.
Lehr lachte. »Offenbar hat einer der Kaiser vor ein
paar Generationen Reisende für ein wenig Magie bezahlt. Er wollte
allerdings nicht mit ihnen gesehen werden, also brachte er sie auf
einem geheimen Weg herein.«
»Wir kamen durch einen unterirdischen Tunnel«,
sagte Jes mit verträumter Stimme. »Pilzfäden hingen an der Seite
des Ganges wie geschmolzener Käse.«
»Jes hat eine Freundin gefunden«, sagte Lehr.
Tier warf Seraph einen Blick zu, aber es war auch
für sie das Erste, was sie davon hörte. Jes lächelte liebenswert
und sagte nichts.
Die Mädchen des Rongierclans machten, wenn möglich,
einen großen Bogen um Jes. »Hennea?«, fragte sie.
Lehr grinste. »Ich denke, es geht ihr ebenso wie
ihm - sie ist vielleicht ein wenig erschrocken, aber Jes ist sehr
zufrieden mit sich.«
»Hennea ist der Rabe, den ihr gefunden habt, nicht
wahr?«, fragte Tier.
Sie nickte.
»Mach dir keine Sorgen, Mutter«, bat Jes.
Tier lächelte und küsste sie auf den Kopf. »Du
solltest Jes vertrauen«, sagte er. »Er wird es schon richtig
machen.« Dann sah er Lehr an. »Wie gefällt es dir, ein Jäger zu
sein?«
»Er war immer ein Jäger«, sagte Seraph bissig. Sie
war nicht sicher, ob sie Lehrs Antwort auf diese Frage hören
wollte. Sie konnte nicht ertragen, dass ihre Söhne unglücklich
waren. »Er wusste es nur nicht.«
»Die Lerche von Rongiers Clan hat mir ein paar
ziemlich interessante Dinge beigebracht«, sagte Lehr.
Tier streckte die Hand aus und tätschelte
mitfühlend Lehrs Knie.
»Rinnie wollte ein Hüter sein«, sagte Jes und sah
seinen Bruder liebevoll an. »Sie wollte sich in einen Panther
verwandeln können, genau wie ich.«
»Das kann ich mir denken«, sagte Tier. »Ihr habt
mir alle so gefehlt!«
»Wir sollten gehen, Papa«, sagte Jes
plötzlich.
»Das können wir nicht«, stellte Seraph fest. »Einer
von Tiers Freunden ist in Gefahr, und außerdem haben die Zauberer
Tier einen Bann auferlegt, sodass er die Domäne des Pfads
nicht verlassen kann.« Sie sah in den Augen ihres Sohnes, dass der
Hüter sich erhob, und sagte: »Ich kann etwas gegen diesen Zauber
tun, aber ich brauche Zeit, um ihn zu studieren. Und außerdem
werden wir ohnehin nicht gehen, ehe Tiers Freund in Sicherheit ist.
Tier, Lehr hat dir unsere Geschichte erzählt - jetzt wollen wir
wissen, wie es dir ergangen ist.«
Sie waren kein so höfliches Publikum wie er und
unterbrachen ihn häufig. Seraph bohrte nach Einzelheiten über das
wenige, woran er sich von seinen Begegnungen mit den Zauberern des
Pfads erinnern konnte. Lehr neckte ihn wegen der Frauen, die ihn
gewaschen und sein Haar geflochten hatten, und machte sich Gedanken
über die magische Gefangenschaft. Jes war still, bis Tier ihnen von
seinem kaiserlichen Besucher erzählte.
»Der Kaiser?«, fragte Jes. »Der Kaiser kam in deine
Zelle?«
»Woher wusste er, dass du hier warst?«, fragte Lehr
misstrauisch.
»Ich habe geschworen, darüber zu schweigen, also
brauche ich seine Erlaubnis, um es erzählen zu können«, sagte Tier.
»Aber das ist ohnehin eine vollkommen andere Geschichte.«
Beide Jungen freuten sich, als Tier berichtete,
dass er begonnen hatte, die Sperlinge auf seine Seite zu
ziehen.
Seraph schüttelte den Kopf. »Sie ahnten nicht, was
sie taten, als sie dich entführten.«
»Nun«, sagte Tier, »vielleicht war ich zu gut. Offenbar hat Telleridge versucht, einen
meiner Jungen dazu zu bringen, einen anderen zu schikanieren -
etwas, das dieser Junge schon ein paarmal getan hatte. Diesmal
weigerte sich Kissel jedoch, und da er ein offener, direkter junger
Mann ist, sagte er Telleridge, er werde es nicht tun, weil es mir
nicht gefallen würde.«
»Ist das derjenige, um den du dir Sorgen machst?«,
fragte Seraph.
»Myrceria sagte mir heute Abend, dass die Meister,
die Zauberer
des Pfads, eine sogenannte Disziplinierung veranstalten wollen.«
Er erzählte ihnen, was er darüber wusste. »Ich glaube nicht, dass
sie wirklich Kissel im Auge haben; er hat wichtige Freunde. Ich
glaube, sie werden den Jungen nehmen, den Kissel schikanieren
sollte.«
Er lehnte den Kopf an die Wand. »Seraph, du
sagtest, Bandor und der Meister in Redern seien umschattet
gewesen.«
»Ja. Lehr und Jes konnten es beide sehen.«
Er holte tief Luft. »Als Phoran und ich alle
Informationen zusammensetzten, die wir über den Pfad hatten, kamen
wir zu beunruhigenden Schlüssen. Die Pest, die vor zwanzig Jahren
so viele Reisendenclans tötete, drang auch in die adligen Häuser
des Reiches ein, und als sie zu Ende war, war der Kaiser tot, und
nur ein Kind blieb als Thronerbe zurück. Außerdem wurde ein hoher
Prozentsatz der Anhänger des Pfads zu Septs, obwohl zuvor
vielleicht acht oder zehn Leute zwischen ihnen und ihrem Erbe
gestanden hatten.«
»Du glaubst, es könne einen anderen geben.« Ein
Schauder überlief Seraph. »Nicht nur umschattet, sondern freiwillig
umschattet wie der namenlose König. Denkst du, es könnte Telleridge
sein?«
Er nickte. »Phoran hat nach meinem alten
Kommandanten, dem Sept von Gerant, geschickt. Er ist auf dem Weg
hierher. Mit seinem militärischen und taktischen Rat hofft Phoran,
den Pfad brechen zu können. Wenn wir sie überraschen und Phoran
gnadenlos genug vorgeht, können wir alles in Ordnung
bringen.«
»Aber Gerant wird nicht rechtzeitig hier sein, um
deinen Jungen zu retten«, wandte Seraph leise ein.
»Wahrscheinlich nicht.«
»Diese Sperlinge«, sagte Seraph nachdenklich. »Sie
werden nichts damit zu tun haben wollen, einem anderen Jungen
wehzutun.«
»Das glaube ich auch«, sagte Tier. »Vielleicht
einige von ihnen, aber die meisten werden sich nicht beteiligen
wollen.«
Seraph lächelte. »Dann werden die Meister
versuchen, ihnen mit ihrer gestohlenen Bardenmagie ihren Willen
aufzuzwingen. Sag mir, Tier, wenn alle vom Pfad im selben Raum
wären, wie viele würden es sein?«
»Es gibt etwa sechzig Sperlinge«, sagte er. »Ich
weiß nicht genau, wie viele Raubvögel - ich kenne die Namen von
etwa hundert. Vielleicht doppelt so viele.«
»Und die Zauberer«, sagte Seraph. »Du sagtest, es
wären fünf.«
»Fünf«, stimmte er zu. »Und eine Handvoll Lehrlinge
und Leute, die nur ein klein wenig zaubern können.«
»Wir haben eine Eule, einen Falken, einen Adler und
zwei Raben«, sagte Seraph. »Ich weiß nicht, über wie viele
gewöhnliche Zauberer der Clan verfügt, aber auch wir werden nicht
allein sein. Es gibt sicher mindestens fünfzig Leute beim Clan, die
nichts lieber täten, als einen Haufen Solsenti anzugreifen, die Reisende getötet
haben.«
»Euch fehlt eine Eule«, sagte Tier. »Sie haben
etwas mit mir gemacht, damit meine Magie mir nicht zur Verfügung
steht, erinnerst du dich?«
Seraph runzelte die Stirn. Diese geheimnisvolle
Magie, mit der die Meister Tier belegt hatten, gefiel ihr ganz und
gar nicht. »Solche Dinge funktionieren besser bei Zauberern als bei
solchen, die eine Weisung haben.« Sie tippte mit den Fingern gegen
ihre Lippen, als sie weiter darüber nachdachte. »Du sagtest, es
verhindert nur, dass du deine Magie bei ihnen anwenden kannst, aber
bei anderen funktioniert sie?«
Er nickte.
»So etwas wäre sehr schwierig zu bewerkstelligen«,
sagte Seraph. »Sie würden von jedem ihrer Anhänger etwas
Persönliches brauchen - Blut oder Haar. Es wäre ein unglaublich
komplizierter Bann, und die Macht, die so etwas verlangte …« Sie
hielt inne, als ihr etwas Besseres einfiel. »Ich werde Hennea
fragen, damit ich wirklich sicher sein kann, aber für mich hört es
sich so an, als sei ihr Zauber einfach unvollkommen und launisch.
Hennea sagte schon, dass diese Leute nicht wirklich so viel über
die Weisungen wissen, wie sie glauben. Wenn sie genug Macht haben,
ist es für sie einfach, die Macht eines gewöhnlichen Zauberers zu
brechen. Aber um die Macht eines Magiers zu blockieren, der eine
Weisung hat, müssten sie sehr genau wissen, was sie alles aufhalten
wollen. Ich wette, dass einige der selteneren Formen von Magie dir
immer noch zugänglich sind. Und weil sie es nicht richtig gemacht
haben, wird ihr Zauber langsam zerfallen.« Sie nickte, denn das
passte zu dem, was sie über Magie und Tiers Erfahrung mit dem Pfad
wusste. »Deine Magie funktionierte bei ihnen nicht, weil ihr
überzeugt wart, dass es nicht funktionieren würde. Aber selbst das
wird mit der Zeit vergehen.«
Sie lächelte ihn an. »Und selbst, wenn es nicht so
sein sollte, hast du bereits deinen Beitrag geleistet, indem du so
viele Sperlinge auf deine Seite gezogen hast. Wenn wir sie bei der
Disziplinierung angreifen, werden wir die Reisenden auf unserer
Seite haben, sowohl die Krieger als auch die Zauberer, unsere
eigenen Magier und die meisten Sperlinge. Du sagtest, die Sperlinge
müssen alle bei der Disziplinierung anwesend sein, aber nicht die
Raubvögel.«
»Das bedeutet nicht, dass sie nicht dort sein
werden«, sagte er. »Aber ich verstehe, worauf du hinauswillst. Sie
werden alle dort sein, besonders die Meister, die die wahre Gefahr
darstellen. Wenn wir sie vernichten können, kann sich Phoran Zeit
lassen, den Rest zu eliminieren. Wir müssen jedoch vorher mit
Phoran sprechen. Wenn möglich, möchte ich ohne seine Erlaubnis
keinen Reisendenclan in seinen Palast bringen.«
Es klopfte leise an der Tür, und Tier sprang auf.
»Einen Augenblick«, sagte er und sah sich im Zimmer um, obwohl er
wusste, dass es keine Verstecke gab.
»Ganz ruhig«, flüstert Seraph. »Niemand wird Jes
sehen, und …« Sie wandte sich Lehr zu, sah ihn aber ebenfalls
nicht. »Ich muss einmal mit Brewydd darüber reden, was sie Lehr
beibringt«, murmelte sie. »Geh und öffne die Tür, Tier. Sie werden
mich auch nicht sehen, es sei denn, er ist einer deiner Zauberer.«
Mit einem Flüstern von Magie sorgte sie dafür, keine Aufmerksamkeit
zu erregen.
Tier zog die Brauen hoch, und er verzog amüsiert
den Mund - amüsiert über sich selbst, dachte Seraph. Es war eine
Sache zu wissen, dass alle in der Familie Magie wirken konnten, und
eine andere, sie dabei zu beobachten.
»Toarsen«, sagte er, nachdem er die Tür geöffnet
hatte. »Tretet ein.«
»Ich kam, sobald ich es hörte«, sagte Toarsen. »Die
Gerüchte breiten sich im gesamten Nest aus. Es wird eine
Disziplinierung geben.«
»Das habe ich auch schon gehört«, sagte Tier.
Seraph konnte sehen, dass ihr Mann zu einer Entscheidung kam.
»Toarsen«, sagte er, »wenn Ihr unbedingt den Kaiser
sehen wolltet, könntet Ihr das tun? Selbst so spät am Abend?«
»Ich - ich denke schon«, sagte Toarsen. »Aber nicht
ohne die Hilfe meines Bruders Avar.« Er zögerte und schob das Kinn
vor. »Aber ich werde nichts tun, das meinen Kaiser in Gefahr bringt
- selbst wenn er ein dummer Säufer ist, der sich mehr für den
neuesten Wein aus Carek interessiert als für sein Reich.«
»Einverstanden«, sagte Tier. »Ich möchte, dass Ihr
Euren Bruder überredet, zum Kaiser zu gehen - sagt ihm, es sei
dringend. Und dann …« Tier hielt inne und schüttelte den Kopf.
»Dann sagt Phoran, dass Ihr eine Botschaft für ihn habt, die
Ihr ihm nur allein übergeben könnt, oder bestenfalls ihm und Avar.
Der Kaiser weiß zu viel über Euch, mein Junge, um sich Euch
anzuvertrauen, aber er vertraut Avar. Wenn Ihr drei alleine seid,
sagt Ihr Phoran, sein Barde müsse dringend mit ihm sprechen, wenn
er nichts dagegen habe. Sagt Phoran, ich hätte einen Plan, aber
nicht viel Zeit.«
Toarsen starrte ihn an. »Phoran weiß von
Euch?«
Der Barde grinste boshaft. »Ihr solltet den Kaiser
nicht einfach abtun, Junge; ich habe das Gefühl, dass er von vielen
unterschätzt wurde und diesen Leuten ein raues Erwachen
bevorsteht.«
Toarsen nickte bedächtig. »Also gut. Ich tue es.
Wenn es nicht klappt, komme ich allein hierher zurück.«
»Gut«, sagte Tier, tätschelte Toarsens Schulter und
schob ihn nach draußen. Er wartete, bis der Klang von Toarsens
Schritten auf dem Flur leiser wurde.
»Das war Toarsen, der jüngere Bruder des Sept von
Leheigh«, sagte er und setzte sich wieder neben Seraph. »Er wird
Phoran für uns holen.«
»Weißt du«, murmelte Seraph, die über Tiers
Geschichte nachgedacht hatte, während er sich mit dem Jungen
unterhielt, »Ich wusste, dass wir Ärger bekommen würden, als all
unsere Kinder mit Weisungen geboren wurden. Ich hätte schon vor
Jahren davon ausgehen sollen, dass ich einmal zusammen mit dem
Kaiser gegen einen neuen Schatten kämpfen würde.«
Jes sah sie gleichmütig an, aber Lehr lächelte.
»Vielleicht entschädigen sich die Götter so für all diese Brunnen
und unfruchtbaren Felder, um die du dich seit Jahren nicht
gekümmert hast.«
Seraph verdrehte die Augen, wie Tier es so gern tat
- wenn sie wollte, konnte sie ihn gut nachahmen. »Unverschämt! Man
trägt sie neun Monate, ernährt sie, kleidet sie, und was kommt
dabei heraus? Unverschämtheit.«
»Seraph«, fragte Tier, »Wenn sie meine Weisung
wollen, warum haben sie sich diese nicht einfach genommen? Warum
warten sie ein Jahr?«
»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte Seraph. »Aber
Magie funktioniert besser, je mehr man etwas kennt. Ich könnte dir
leichter einen Bann auferlegen als einem Fremden. Ihre Magie ist
nicht vollkommen zuverlässig, und viele ihrer Steine funktionieren
nicht richtig. Das Jahr hat vielleicht den Zweck, dass einer ihrer
Zauberer dir näherkommen kann, sodass ihr Bann wirklich
funktioniert.«
Tier rieb sich das Gesicht. »Ich kann einen
Solsenti-Zauberer nicht von anderen
unterscheiden, solange er keine Magie heraufbeschwört - kannst du
das?«
Seraph schüttelte den Kopf. »Ich kann Reisenden
ihre Weisung ansehen, wenn ich sie mithilfe meiner Magie betrachte.
Aber einfache Zauberer kann ich nicht erkennen.«
Tier gähnte. Seraph sah ihn stirnrunzelnd an.
»Wie viele Nächte warst du wach, um über deine
Pläne nachzudenken?«, fragte sie, aber sie wartete nicht auf eine
Antwort. »Jungs, könnt ihr bitte still sein? Tier, du wirst
niemandem etwas nützen, wenn du vor Müdigkeit umfällst. Leg dich
hin, und die Jungen und ich werden Wache halten, bis der Kaiser
kommt.«
Er setzte zum Widerspruch an, aber es zeigte, wie
müde er war, dass er wieder innehielt. »Meine Liebste, wenn du dich
selbst bequem hinsetzt, werde ich den Kopf in deinen Schoß legen
und ein ganzes Jahr lang schlafen.«
»Siehst du«, sagte Lehr in dramatischem Flüsterton,
»so bringt man Frauen dazu, Dinge für einen zu tun. Das solltest du
auch einmal versuchen, Jes. Glaubst du, Hennea wird zulassen, dass
du deinen müden Kopf in ihren Schoß legst?«
»Lehr«, sagte Jes, »halt den Mund und lass Papa
schlafen.«
Seraph selbst schlief nicht, obwohl sie ebenfalls müde war, aber
ruhig auf dem weichen Bett zu sitzen, den Kopf ihres Mannes im
Schoß, war so wirkungsvoll wie eine Woche Schlaf. Während sie
wartete, arbeitete sie daran, die Magie zu lösen, mit der die
Solsenti-Zauberer Tier gebunden hatten. Sie
kämpfte nicht dagegen an, sondern ermutigte einfach nur eine
Auflösung, die die Zeit ohnehin bewirkt hätte.
Nachdem sie getan hatte, was sie konnte, öffnete
sie ein Auge halb und sah, dass Lehr im Sitzen schlief. Jes war
aufmerksam und wachsam - er nickte ihr zu, damit sie wusste, dass
er ihren Blick bemerkt hatte. Der Frieden, der sich in ihr Herz
senkte, sagte ihr, dass es wirklich Jes war, der Wache hielt, und
nicht der Hüter. Sie hielt es für ein gutes Zeichen, dass der Hüter
Jes so viel Vertrauen schenkte.
Sie schloss die Augen und genoss die Stille.
»Jemand kommt«, sagte Jes leise.
Tier kam auf die Beine und streckte sich. »Danke,
meine Liebste. Würdet ihr bitte alle aufstehen und euch so
hinstellen, dass ihr nicht in direkter Linie mit der Tür seid? Aber
bitte keine Magie. Wenn das hier nicht Phoran ist, möchte ich
lieber verheimlichen, dass ihr hier seid, aber wenn es wirklich der
Kaiser ist, sollte er nicht denken, dass wir einen Hinterhalt
gelegt haben.«
»Es sind drei Personen«, sagte Lehr, als er
gehorsam zur Seite rutschte, ohne aufzustehen. »Einer von ihnen ist
Toarsen, einer hat viel Metall an sich, und der Dritte trägt Schuhe
mit weichen Sohlen.«
Tier warf Lehr einen überraschten Blick zu. Nun,
dachte Seraph, sie hatte ihm schließlich gesagt, dass die Kinder
lernen würden, ihre Eigenschaften zu nutzen.
»Woher weißt du, dass es Toarsen ist?«, fragte
Tier.
Lehr verzog das Gesicht. »Ich weiß es einfach. Und
das beunruhigt mich. Mutter sagt, ich werde mich daran gewöhnen.
Aber es gefiel mir besser, als ich noch glaubte, einfach ein guter
Fährtenleser zu sein - zu wissen, dass es von der Magie kommt,
nimmt mir die Freude darüber, eine besondere Fähigkeit zu haben.
Toarsen trägt feste Lederstiefel, und in einem Absatz steckt ein
Nagel. Das führt zu einem Schritt-Klick-Schritt-Klick-Gang.«
Es klopfte leise an der Tür, und Jes’ lautlose
Reaktion ließ Seraph vor Kälte schaudern.
»Wer ist da?«, fragte Tier und legte es bewusst
darauf an, verschlafen und verärgert zu klingen.
»Phoran«, erwiderte eine feste Tenorstimme nicht
weniger ärgerlich. »Auf Euren Befehl.«
Tier grinste und öffnete die Tür. »Danke, dass Ihr
gekommen seid, Euer Gewaltigkeit. Kommt herein.«
»Diese Anrede kann ich überhaupt nicht leiden«,
sagte ein junger Mann, der niemand anderes sein konnte als der
Kaiser. Er richtete seinen wachen Blick auf Seraph und Jes, dann
sah er Lehr an und schließlich wieder Tier. »Es ist schlimm genug,
Ruhmreiche Majestät und Euer Hoheit genannt zu werden, und das von
Leuten, die mich für einen Idioten halten. Aber wenn man mich wegen
meines Gewichts beleidigt«, er tätschelte seine dickliche Taille,
»ist das wirklich unzumutbar. Ich hoffe, Ihr habt mich nicht wecken
lassen, damit ich Eure Familie kennenlerne - obwohl Eure Frau
zweifellos schön genug ist, um all meine Anstrengungen wert zu
sein. Ich fürchte, Avar ist verärgert, weil sein Bruder so
unverschämt war, ihn zum Aufstehen zu zwingen - und doppelt so
verärgert, weil ich ihm nicht erzählt habe, dass ich mich tief
unten im Palast mit einem Gefangenen getroffen habe.«
Tier grinste ihn an. »Woher wusstet Ihr, dass sie
meine Familie sind?«
Phoran schnaubte. »Eine hübsche Reisende und zwei
Jungen - einer sieht aus wie sie und der andere wie Ihr. Also
bitte! Die Leute mögen mich für einen Säufer halten, aber ich bin
kein vollkommener Idiot. Ich weiß, dass Ihr mir gesagt hattet, sie
würde kommen, aber ist sie nicht ein wenig früh dran?«
Er drehte sich anmutig und zeigte auf den großen,
kräftigen Mann, der hinter sich die Tür geschlossen hatte - der
Mann, von dem Lehr gesagt hatte, er trüge Metall. »Avar, ich möchte
dich Tier aus Redern vorstellen - aus deiner eigenen Sept. Tier,
das hier ist Avar, Sept von Leheigh, und mein Freund.«
»Mein Sept«, sagte Tier und deutete eine Verbeugung
an.
»Wer seid Ihr, dass Ihr den Kaiser bitten könnt, zu
Euch zu kommen?«, fragte Avar, der Tiers Gruß ignorierte.
Ist er etwa eifersüchtig?,
fragte sich Seraph.
»Ich bin sein demütiger Diener«, sagte Tier
sofort.
»Er hilft mir«, sagte Phoran. »Der Pfad ist
gefährlicher, als du denkst. Ich habe es Tier zu verdanken, dass
ich das nun weiß. Er hat mir geholfen herauszufinden, wer die
Raubvögel sind, und gleichzeitig die Sperlinge auf seine Seite
gezogen.«
»Deshalb habt Ihr die Schwertübungen begonnen!«
Toarsen wirkte plötzlich enttäuscht.
Seraph, eine Mutter, hörte, was er nicht aussprach:
Ihr habt Euch nicht wirklich für uns
interessiert.
»Er sagte mir«, warf Phoran ein, ohne Toarsen
anzusehen, »dass es einige junge Männer gebe, die nur ein wenig
Anleitung brauchten, um meine besten Helfer zu werden, wenn ich
mein Reich wirklich selbst regieren will.«
»Ihr dachtet, wir könnten
dem Kaiser helfen?«, fragte Toarsen beinahe schockiert.
Als wäre es eine so großartige Sache, vom Kaiser
benutzt zu werden - manchmal fand Seraph die männliche Hälfte der
Spezies wirklich nicht sonderlich beeindruckend.
»Ich weiß, dass Ihr es könnt«, sagte Tier. »Wo
sonst wird er einen Haufen Heißsporne herbekommen, die kämpfen
können und nicht die geschworenen Bewaffneten eines Sept sind?«
»Collarns neuer Posten«, sagte Toarsen. »Ihr habt
dafür gesorgt!«
»Tatsächlich«, warf der Kaiser mit einem Räuspern
ein, »war ich das.«
Toarsen sah vollkommen verblüfft aus, als er sich
Tier zuwandte. »Der Kaiser ist dekadent und versoffen«, sagte er,
als stünde Phoran nicht direkt neben ihm. »Er folgt Avar überall
hin wie ein Welpe und tut, was immer Avar ihm sagt. Ihr, Tier, seid
nichts als ein gelangweilter Soldat, der eine Beschäftigung
brauchte, um das Jahr in Gefangenschaft so schnell wie möglich
herumzubringen. Ihr findet die Raubvögel unangenehm und die Meister
noch schlimmer. Also sucht Ihr eine Möglichkeit, sie zu ärgern und
gleichzeitig die Bewunderung der Sperlinge zu gewinnen. Und als Ihr
damit anfingt, stelltet Ihr fest, dass Ihr einige von uns
tatsächlich mögt.«
»Man hat mir nie erlaubt, etwas anderes zu sein als
ein dekadenter Säufer«, sagte Phoran kühl, aber ohne Zorn. »Und
alle folgen Avar wie die Welpen.«
»Ich sah einen Haufen rauflustiger Jungen, die von
einem Rudel Aasfresser in die Hölle geführt wurden«, erwiderte
Tier. »Und da ich einige von Euch tatsächlich mag, und Männer, die
mit den Leben anderer spielen, mich anwidern, habe ich versucht zu
tun, was ich kann.«
»Und es funktioniert nur, weil er Euch wirklich
mag«, fügte Lehr hinzu. »Wenn er versuchen würde, Euch zu benutzen,
hättet Ihr ihn sofort durchschaut.«
Avar, der an der Tür lehnte, rieb sich das Gesicht.
»Könnte uns vielleicht jemand sagen, warum wir hier sind? Es gibt
doch sicher bessere Tageszeiten für solch theatralische Szenen als
die frühen Morgenstunden.«
»Der Pfad will etwas unternehmen, um zu verhindern,
dass ich ihm die Kontrolle über die jungen Männer vollkommen
abnehme«, berichtete Tier. »Myrceria sagte mir, die Meister planten
eine Disziplinierung - ein besonders brutales Spektakel, das sie
inszenieren, um ihre Geheimnisse zu bewahren. Ein Junge wird
ausgewählt und auf brutale Weise bestraft. Ich hörte, dass die
Jungen, die diszipliniert wurden, das nicht immer überlebten.
Wahrscheinlich werden sie Collarn nehmen - aber es könnten auch
Toarsen oder Kissel sein, einfach, weil sie mir am nächsten
stehen.«
Phoran schnaubte, dann sagte er: »Ich kann Collarn
auf dem Rückweg zu meinem Schlafzimmer warnen, ohne dass jemand
davon erfährt. Aber wir sollten die Vorstellungen fortsetzen, bevor
wir weitermachen. Haltet Euch daran, was Eure Eltern Euch zum Thema
Manieren gesagt haben, und stellt uns Eure Familie vor,
Tier.«
Tier verbeugte sich und grinste verlegen. »Das hier
ist Seraph, meine Frau, Rabe vom Clan von Isolda der Schweigsamen.
Mein Sohn Jesaphi, den wir Jes nennen. Er ist Hüter. Mein jüngerer
Sohn Lehr, Jäger. Seraph, Jes, Lehr, darf ich euch Phoran den
Siebenundzwanzigsten vorstellen?«
Über das höfliche Gemurmel und Rascheln hinweg
sagte Toarsen: »Der Sechsundzwanzigste.«
Phoran grinste. »Nur, wenn man den Ersten nicht
mitzählt. Ich tue das immer, denn ohne ihn hätte es kein
Kaiserreich gegeben, was immer sein Sohn Phoran der Erste oder
Zweite sagte.«
Toarsen lächelte widerstrebend. Kein Wunder, dass
ihr Mann diesen jungen Kaiser mochte, dachte Seraph. Sie waren sich
sehr ähnlich.
»Ich hatte vor, Collarn selbst zu warnen«, wandte
sich Tier wieder dringlicheren Angelegenheiten zu. »Aber meine Frau
wies mich darauf hin, dass diese Disziplinierung unsere beste
Gelegenheit ist, sie alle am gleichen Ort zu erwischen. Angeblich
soll jeder von ihnen teilnehmen. Sie werden ein wenig Widerstand
von den Sperlingen erwarten - zu viele von ihnen
haben angefangen, die Anforderungen des Pfads näher zu betrachten
-, aber keinen Angriff von außen.«
»Wann wird es geschehen?«, fragte Phoran
»Irgendwann in den nächsten paar Tagen«, erwiderte
Tier.
Phoran schüttelte den Kopf. »Es sind zweihundert -
und fünf Zauberer, und der Sept von Gerant und seine Männer sind
noch nicht da. Ich habe …«
»Ich habe zwanzig Männer hier«, sagte Avar. »Meine
eigenen Leute, nicht die meines Vaters.«
»Und meine Frau sagt, sie kann weitere fünfzig
mitbringen - überwiegend mit Messern und ein paar Schwertern
bewaffnet«, sagte Tier. »Reisende.«
Misstrauisch fragte Avar: »Warum sollten sich
Reisende für diese Dinge interessieren?«
»Weil unser Volk ausstirbt«, antwortete Seraph.
»Solange ich mich erinnern kann, haben die Septs versucht, es zu
vernichten. Wenn meine Freunde Euch helfen, Phoran - würdet Ihr
Ihnen dann ebenfalls behilflich sein?«
Phoran nickte bedächtig. »Ich werde tun, was ich
kann. Ich habe nicht die Macht, die ein Kaiser haben sollte, und
mich auf die Seite der Reisenden zu stellen, wird mich nicht gerade
beliebter machen. Aber ich werde tun, was ich kann.«
»Wird das genügen?«, fragte Avar.
Seraph lächelte. »Der Pfad hat seit jeher Reisende
umgebracht. Wir wussten das bisher nur nicht - wenn Phoran uns
nicht bitten würde, ihm zu helfen, würden wir den Pfad auch allein
angreifen. Aber es ist viel sicherer, auf kaiserlichen Befehl in
den Palast einzudringen.«
»Myrceria will versuchen herauszufinden, wann diese
Disziplinierung stattfinden soll«, fuhr Tier fort.
»Ich werde es noch eher erfahren«, sagte Toarsen.
»Myrceria wird warten müssen, bis ihr jemand davon erzählt - aber
ich werde eine Einladung erhalten. Mit Eurer Erlaubnis«, er
warf einen Blick von Tier zu Phoran, als wisse er nicht genau,
wessen Erlaubnis er denn nun brauchte, »werde ich auch Kissel
Bescheid sagen, falls sie sich doch entschließen, mich als zu
disziplinierendes Beispiel zu verwenden.«
»Wie viel Zeit braucht Ihr, um die Reisenden
herzubringen?«, fragte Phoran, und sie begannen zu planen.
Seraph lehnte sich zurück und steuerte ihre
Informationen bei. Der Kaiser, Avar und Tier hatten offenbar viel
Spaß bei der Organisation des Angriffs, und die jüngeren Männer
waren beinahe genauso schlimm - bis auf Jes, der sich lieber im
Hintergrund hielt.
Es amüsierte Seraph zu sehen, dass der Kaiser, der
Sept von Leheigh und sein jüngerer Bruder die Führerschaft allesamt
Tier überließen, obwohl sie einen so viel höheren Rang hatten als
er - und sie hingen geradezu an seinen Lippen.