7
Nachdem der Hüter wieder
friedlich geworden war, lauschte Jes dem leisen Gespräch im
Schlafraum seiner Eltern.
»Ich dachte, ich sollte einfach zu der Stelle
zurückreiten, wo Benroln sich von uns getrennt hat«, sagte Lehr
gerade. »Von da an kann ich ihrer Spur folgen.«
»Es gibt vielleicht eine einfachere Möglichkeit«,
wandte Tier ein. »Deine Mutter sagte, Willon habe euch eine
Landkarte gegeben, bevor ihr nach Taela aufbracht.«
»Ich hole sie«, sagte Lehr. »Das kann ich tun«,
rief Jes leise. »Ich weiß, wohin Mutter sie gelegt hat.«
Mutter hatte sie in die Truhe gepackt, in der Papa
ein paar Andenken an seine Soldatenzeit aufbewahrte. Jes holte die
Karte heraus und kletterte die Leiter hoch.
Seine Mutter lag im Bett unter der Decke. Ihr Haar
war dunkel von Schweiß, und auch sie hatte Ringe unter den Augen,
die beinahe wie blaue Flecke aussahen. Sie atmete nur flach und gab
leise Geräusche von sich wie ein müdes Kind.
Der Hüter kam heraus, um sich zu überzeugen, dass
sie in Sicherheit war. Jes berührte die Decke direkt oberhalb ihrer
Füße; sie schlief so fest, dass sie nicht einmal träumte.
Als der Hüter wusste, dass gut für sie gesorgt war,
beruhigte er sich wieder. Papa setzte sich auf seine Seite des
Betts, und Lehr hatte sich im Schneidersitz auf den Boden gehockt;
beide
hatten den Hüter beobachtet und ihm die Zeit gelassen, die er
brauchte.
Es gab genug Platz für Jes in dem schmalen Raum
zwischen dem Fußende des Betts und der Leiter. Er reichte Papa die
Landkarte und setzte sich auf den Boden.
»Danke«, sagte Papa, als er die Karte entgegennahm
und sie vor sich auf das Bettzeug legte.
Er betrachtete sie einen Augenblick, dann tippte er
mit dem Finger auf eine Stelle. »Dort haben wir uns getrennt. Das
ist die Straße, die Benroln nahm.« Er zog den Finger über die Karte
auf sich zu.
Jes konnte die Beschriftung, die für ihn auf dem
Kopf stand, nicht lesen - die Schrift war zu kunstvoll für ihn -,
aber der Hüter konnte es.
»Edren«, sagte Papa. »Upsarian. Colbern.« Er
zögerte, dann berührte er mit dem Finger die letzte Stadt, die er
erwähnt hatte. »Willon nahm diese untere Straße zurück nach
Redern.« Er fuhr mit der Hand entlang der unteren von drei Straßen,
die nach Osten und Westen verliefen. »Sie ist besser für Wagen
geeignet - es gibt Brücken und nicht nur Furten. Er sagte, er sei
in Colbern vorbeigekommen. Die Stadt ist etwa so groß wie Leheigh.
Sie hatten ihre Tore für Besucher verschlossen. Eine Seuche.«
Der Hüter, der sich bisher damit amüsiert hatte,
Jes zu erklären, an welchen Punkten die Karte nicht stimmte, wurde
sofort aufmerksam.
Papa sah Lehr an. »Ich habe mich schon gefragt,
welches Desaster Benroln gerufen hat, wenn es hier immerhin einen
vom Schatten besudelten Troll gab, den er hätte bekämpfen können.
Eine Seuche mag so etwas durchaus bewirken.«
»Lehr darf nicht gehen«, grollte der Hüter.
Lehrs Brauen kletterten beinahe zum Haaransatz,
aber bevor er die Antwort geben konnte, die ihm zweifellos auf der
Zunge lag, sagte Papa: »Ich bin ganz deiner Meinung. Es ist zu
gefährlich.«
Lehr ballte die Fäuste. »Ich bin kein Kind mehr.
Ich weiß, wie ich mich vor der Pest schützen kann. Ich werde
niemanden berühren. Ich werde mit niemandem Essen oder Kleidung
teilen. Mutter sagte, ich solle zu Brewydd gehen, und genau das
werde ich tun.« Er stand auf, aber der Hüter erhob sich ebenfalls
und stellte sich ihm in den Weg.
Lehr hat recht, sagte Jes
zu ihm. Vater braucht Brewydd, und Lehr ist
nicht dumm. Er weiß, wie man auf sich aufpasst.
Dann hatte er plötzlich das Bild eines Sterbenden
im Kopf. Das Gesicht der Person lag im Dunkeln, also konnte er
nicht einmal sehen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau
handelte. Er spürte nur die alles verschlingende Trauer des
Hüters.
Brewydd wird dort sein,
erinnerte er ihn.
»Jes?« Die leise Stimme seines Vaters drang in
seine innere Auseinandersetzung ein.
»Brewydd wird dort sein«,
stimmte der Hüter zu und zog sich langsam wieder zurück. Brewydd
würde nicht zulassen, dass Lehr krank wurde.
»Brewydd wird dort sein«, sagte Jes laut zu Papa
und hörte, wie Lehr erleichtert seufzte.
»Lass mich gehen«, bat Lehr ihren Vater. »Ich bin
überzeugt, dass ich es kann.«
Papa rieb sich müde das Gesicht. »Also gut. Also
gut. Versuche, heute Nacht gut zu schlafen, und brich morgen früh
auf. Nimm die Karte mit.« Er faltete sie und reichte sie Lehr. »Sie
wird dir den schnellsten Weg zeigen.«
Jes stand auf und stieg die Leiter hinab, damit
Lehr an ihm vorbeikam.
»Ich möchte noch mit dir reden, Jes«, sagte
Papa.
Jes nickte und sprang auf den Boden, wobei er in
die Knie
ging, damit er leise aufkam und Hennea oder Rinnie nicht
weckte.
Lehr, der hinter ihm auf der Leiter war, sagte
leise: »Danke.«
Jes nickte und kletterte zurück zu seinem Vater.
»Papa?«
»Schließ die Tür und setz dich, Sohn.«
Jes schloss die Tür, dann nahm er Lehrs Platz ein,
denn bei geschlossener Tür wurde es dort, wo er zuvor gesessen
hatte, zu eng für ihn.
»Erinnerst du dich an den Schmied, dem wir auf dem
Rückweg geholfen haben?«, fragte er. Jes wusste, dass es sich nicht
wirklich um eine Frage handelte, aber er nickte. »Als der Hüter
sagte, er habe einen Nebelmahr gerochen, fragte ich ihn, woher er
diese Wesen kannte.«
Dem Hüter gefiel dieses Gespräch überhaupt nicht,
und Jes tat sein Bestes, beruhigende Gedanken zu senden.
»Du hast geantwortet, du wüsstest es nicht.«
»Ich erinnere mich«, sagte Jes. »Ich wusste es
nicht.«
»Und der Hüter?«
Es ist schon gut, wir wollten
ohnehin mit Papa über diese Sache reden, erinnerst du dich? Er
erhielt zur Antwort nur ein unruhiges Aufbrausen, das ihm nicht
sonderlich weiterhalf.
»Jes«, sagte Papa mit nur einer Spur von Macht in
seiner Stimme.
Es genügte, damit Jes die Aufmerksamkeit wieder ihm
zuwandte. »Er hat sich erinnert«, berichtete er. »Aber wir wissen
selbst nicht, wie. Es regt ihn auf.« Er holte Luft. »Ich glaube
nicht, dass er sich gerne erinnert.«
»Bist du sicher, dass er nicht noch mehr weiß?«,
fragte Papa sanft. »Ich habe den Hüter gefragt, Jes, und er ließ
dich herauskommen, um zu antworten. Ich denke, er weiß mehr
darüber, und er will nicht, dass du es …«
Der Hüter schob Jes weg, so weit, dass dieser nicht
einmal den Rest von Papas Satz hörte.
»… erfährst.« Tier hielt inne, um sich auf die
Unruhe einzustellen, die ihn veranlassen wollte, von dem Mann, der
zu seinen Füßen saß, wegzurücken. Jes war weg, und nur der Hüter
war geblieben.
»Ich will nicht, dass er Angst bekommt«, sagte der
Hüter.
»Es ist gefährlich, Geheimnisse zu haben«,
erwiderte Tier. »Deine Mutter macht sich Sorgen um dich. Sie sagte
mir, es sei wichtig, dass ihr euch sehr nahesteht, du und
Jes.«
Der Hüter erhob sich mit der ihm eigenen
Geschmeidigkeit und Kraft. Tier fühlte sich erinnert an
Situationen, in denen er geglaubt hatte, einen Hund vor sich zu
haben, und dann feststellen musste, dass es ein Wolf war. Jes und
der Hüter hatten in ihren Bewegungen keinerlei Ähnlichkeit
miteinander.
»Es gibt einige Dinge, die er nicht wissen muss«,
erklärte der Hüter.
»Er hatte recht«, stellte Tier überrascht fest. »Du
fürchtest dich tatsächlich.«
Der Hüter zischte.
»Du kannst mich nicht belügen.« Tier sprach
weiterhin leise, obwohl sein Herzschlag schneller geworden war.
»Jeder hat irgendwann einmal Angst. Es ist in Ordnung, wenn Jes
ebenfalls Angst hat. Aber es ist nicht gut, dass du Dinge vor ihm
verbirgst. Du musst ihm mehr vertrauen.«
»Du weißt überhaupt nichts«, fauchte der Hüter. »Du
bist ein Barde - gesegnet, nicht verflucht.«
Tier zog eine Braue hoch. »Du bist nicht verflucht!
Man hat dir nur ein sehr steiniges Feld zu bearbeiten gegeben. Mir
kommt es so vor, als würdest du gute Arbeit leisten. Aber ihr müsst
gemeinsam arbeiten, oder du wirst es nicht schaffen, Sohn.«
»Ich bin nicht dein Sohn«, sagte der Hüter. »Jes
ist dein Sohn. Ich bin der Dämon, mit dem er verflucht ist.«
Das kam vollkommen gefühllos heraus, aber kein
Vater konnte den Aufschrei in diesen Worten überhören.
»Du bist mein Sohn«, erwiderte Tier und beugte sich
dicht genug zu dem Hüter, dass sein Atem zu eisigem Nebel wurde.
»Ich liebe dich. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Du machst dir Sorgen um Jes«, sagte der Hüter und
wandte den Kopf ab.
Die finstere Überzeugung des Hüters erinnerte Tier
plötzlich daran, wie er zwei Tage vor seinem Aufbruch in den Krieg
mit seinem Vater gesprochen hatte. Sein Vater hatte sich umgedreht
und seinen Sohn stehen lassen, während Tiers verzweifelter
Aufschrei noch im Haus widerhallte: »Du liebst
die Bäckerei mehr als mich.«
Er dachte über diesen aufbrausenden jungen Mann
nach, der sein Sohn war, dann sagte er das Erste, was ihm einfiel.
»Du erinnerst mich an meine Schwester Alinath. Niemand konnte sie
jemals von etwas überzeugen, wovon sie nicht überzeugt werden
wollte.«
»Ich bin kein bisschen wie Alinath!« Der Hüter
verschränkte die Arme und setzte sich auf die Fersen.
»Doch. Sie hat ihre Ansicht immer nur dann
geändert, wenn sie schließlich aufhörte zu widersprechen und anfing
zu denken. Also denk darüber nach, was ich gesagt habe - sag Jes,
wovor du dich fürchtest. Man kann die Last der meisten Probleme
lindern, indem man sie einem anderen mitteilt. Hab Vertrauen zu
Jes.«
Der Hüter schwankte leicht von einer Seite zur
anderen, wie es Jes tat, wenn er aufgeregt war.
»Warum gehst du heute Abend nicht in den Wald?«,
schlug Tier freundlich vor. »Ich habe festgestellt, dass Bewegung
und Einsamkeit einem vieles klarer machen können.«
Ohne ein Wort öffnete der Hüter die Tür und verließ
den Raum. Tier hörte, wie die Haustür leise geöffnet und
geschlossen
wurde, dann wandte er sich seiner schlafenden Frau zu. »Ich hoffe,
das hat ihm geholfen.« Er küsste Seraph, dann blies er die Laterne
aus und war bald schon eingeschlafen.
Als Jes wieder zu sich kam, lag er auf einem Ast,
die Klauen tief in die Rinde geschlagen, als ob der Hüter sie
geschärft hätte.
Es gelang ihm, vom Baum zu klettern, bevor er die
Katzengestalt verlor. Das war nicht einfach, aber immer noch
angenehmer, als herunterzufallen.
Als er wieder Menschengestalt hatte, beugte er sich
vor, streckte sich und versuchte zu erkennen, wo er sich befand. Er
fühlte sich nicht allzu müde - es war nicht diese tiefe Müdigkeit,
die ihn manchmal überfiel, wenn er aufwachte, nachdem der Hüter ihn
ausgeschlossen hatte. Hoffentlich würde er nicht lange brauchen, um
wieder nach Hause zu kommen.
Er fragte sich, was Papa wohl zu dem Hüter gesagt
hatte, das ihn in den Wald laufen ließ.
»Wir müssen reden.« Der
Hüter wirkte beinahe kleinlaut.
»Also gut.« Jes’ allzu menschliche Stimme hörte
sich so tief im Wald irgendwie falsch an. Er hätte auch nicht
unbedingt laut sprechen müssen - aber es half ihm zu verfolgen, wer
was sagte.
»Papa sagt, ich solle nichts
vor dir verbergen. Nicht einmal Dinge, die mir Angst
machen.«
»Was macht dir denn Angst?«
»Wenn ich mich
erinnere.«
»Das weiß ich.«
Ungeduld und Enttäuschung überwältigten ihn; Jes
schüttelte den Kopf in dem vergeblichen Versuch, diese Gefühle
loszuwerden.
»Also gut, erklär es mir«, brachte er schließlich
hervor. »Warum ist es so beängstigend, dich zu erinnern?«
»Ich war einmal etwas anderes.
Ich war mehr. Etwas Gefährliches, das dir wehtun könnte.«
»Du warst immer schon gefährlich«, widersprach Jes.
»Darum geht es doch bei unserer Weisung, oder? Wie können wir sie
beschützen, wenn wir nicht gefährlich sind?«
Der Hüter gab keine Antwort, also begann Jes mit
dem Heimweg. Während sie sich unterhalten hatten, hatte er im
Mondlicht drei charakteristische Punkte entdeckt, die ihm eine
recht gute Vorstellung davon gaben, wo er sich befand und wie er am
schnellsten nach Hause gelangen würde.
»Ich hatte immer angenommen,
ich sei ein Teil von dir, ein Teil, der nur durch die Weisung von
dir getrennt bleibt.«
»Du bist ein Teil von mir.«
Widerspruch überwältigte ihn, und Jes stolperte
über einen heruntergefallenen Ast, der auf seinem Weg lag. Er blieb
stehen.
»Ich bin tatsächlich ein Teil
der Weisung«, sagte der Hüter. »Aber ich
war einmal mehr als das. Nun bin ich nur noch ein Blutegel, der
dich irgendwann vernichten wird.«
Die Schuldgefühle des Hüters trieben Jes Tränen in
die Augen.
»Du bist ein Teil von mir«, widersprach er. »Du
hilfst mir, meine Familie zu beschützen. Morgen werden wir Lehr
folgen und für seine Sicherheit sorgen. Das ist es, was wir
tun.«
»Ich verderbe dir dein Leben.
Um meinetwegen will sie dich nicht sehen. Und ich werde schließlich
bewirken, dass du den Verstand verlierst.«
»Nein«, sagte Jes.
»Ich erinnere mich. Ich
erinnere mich an den Wahnsinn. Ich werde dich um den Verstand
bringen, wie ich es schon mit anderen getan habe. Ich sehe ihre
Gesichter, wenn ich träume. Deshalb will Hennea uns nicht
haben.«
»Noch bin ich nicht verrückt«, erwiderte Jes. »Und
ich fühle mich auch nicht so, als würde es bald geschehen.
Vielleicht
bin ich anders als all die anderen. Mutter glaubt das jedenfalls.«
Er lächelte in sich hinein. »Sie sagt, es liegt vielleicht an
meinem störrischen Solsenti-Blut. Sie sagt,
wenn Tante Alinath zu stur sei, sich der Vernunft zu beugen, dann
kann ich auch zu stur sein, den Verstand zu verlieren.«
»Sie will uns um meinetwegen
nicht haben.«
Jes wusste, wen er mit »sie« meinte. Er lächelte
intensiver. »Papa sagt, Hennea liebt uns. Geben wir ihr Zeit zu
verstehen, dass wir stärker sind, als sie glaubt.«
Er wartete noch einen oder zwei Herzschläge, aber
der Hüter hatte alles gesagt, was er sagen wollte.
Tier ruhte, aber er konnte nicht schlafen. Hatte
er Jes genug gesagt? Oder zu viel? Er wusste nicht so viel über die
Weisung des Hüters, wie er wissen sollte - aber nach dem, was
Seraph ihm erzählt hatte, ging das allen anderen ebenso.
Er hörte, wie Lehr sich in dem Raum unten unruhig
im Schlaf bewegte. Er machte sich auch um Lehr Sorgen. Lehr war ein
besonnener junger Mann, er würde kein Risiko eingehen, solange es
keine andere Möglichkeit gab. Wenn er unterwegs nur auf ein halbes
Dutzend Banditen stoßen würde, wäre Tier nicht einmal halb so
nervös gewesen. Aber gegen eine Seuche halfen Vorsicht und
Fähigkeiten nur wenig. Er musste sich darauf verlassen, dass Lehrs
Weisung ihn sicher zu Benrolns Clan brachte und dass Brewydds
Fähigkeiten seinen Sohn vor der Seuche bewahren konnten.
Es ging ihm gegen den Strich, dass sein Sohn für
ihn sein Leben aufs Spiel setzen würde. Es kam ihm vollkommen
verkehrt vor. Ein Vater sollte sein Leben opfern, um seine Familie
zu retten - und sich nicht auf seinen Sohn verlassen müssen. Aber
er hatte während seiner Gefangenschaft beim Pfad, als er glaubte,
nicht überleben und sein Zuhause nie wiedersehen zu können, Zeit
genug gehabt, um zu dem Schluss zu kommen,
dass seine Familie ohne ihn zu verwundbar war. In fünf Jahren
würde das nicht mehr unbedingt der Fall sein, aber jetzt brauchten
sie ihn noch. Und er wusste, dass es ihm trotz Seraphs Flickarbeit
nicht wirklich gut ging.
Sein Aufenthalt beim Pfad hatte mehr als nur
körperliche Probleme verursacht, und er war sicher, dass ihm mehr
drohte, als nur seine Singstimme zu verlieren. Seraph hatte ihm oft
genug gesagt, dass die Weisung keineswegs nur eine Fassade
darstellte, die sich leicht von dem Mann, der er war, trennen ließ:
Sie war so sehr Teil von ihm wie sein rechter Arm. Er hatte Angst,
dass die Meister es mit ihrer Magie geschafft hatten, seine Weisung
von ihm abzutrennen, und er es nicht mehr aufhalten könnte, dass
sein Lebensblut aus ihm herausfloss.
Seraph rollte sich zu ihm, schlang die Arme um
seinen Arm und schmiegte das Gesicht an ihn, bis sie sich in ihrer
liebsten Schlafposition befand. Sie entspannte sich wieder in ihrem
erschöpften Schlaf, aber die Wärme ihres Atems an seinem Arm
tröstete ihn ein wenig. Er döste weiter und wartete darauf, dass
Jes zurückkehrte, damit er schlafen konnte, weil er wusste, dass
seine Familie in Sicherheit war.
Die Tür öffnete sich knarrend, und Jes sagte:
»Papa, der Kaiser ist zu Besuch gekommen.«
Phoran dachte bei sich, dass der Hauptraum von
Tiers Häuschen mehr als fünfmal in sein Wohnzimmer im Palast
gepasst hätte. Er tat hinter Jes ein paar Schritte nach drinnen,
und seine Gardisten folgten ihm.
»Jes?« Eine müde Stimme erklang von der anderen
Seite des Zimmers. Dann wurde sie scharf und klar. »Der Kaiser?«
Die Vernunft sagte ihm, dass es Tiers jüngerer Sohn Lehr war,
obwohl er in der Dunkelheit nichts weiter sehen konnte als den
Umriss eines sitzenden Mannes.
In einem Raum unterm Dach wurde eine Laterne
angezündet,
und das Licht fiel durch die Ritzen zwischen den Dielen in der
Tür. »Phoran?«
Tiers melodische Stimme klang wie eine Glocke.
Phoran spürte, wie die Angst, die auf dem gesamten Ritt von Taela
bis hierher nicht von ihm gewichen war, nun langsam von ihm
abfiel.
Die Laterne in der Hand und ein breites Grinsen im
Gesicht, kam Tier die Leiter vom Speicher herunter. »Ich hatte
nicht erwartet, Euch hier zu sehen, mein Kaiser.« Er hob die
Laterne und blickte hinter Phoran, wo er vier Männer sah, die
früher einmal Sperlinge des Geheimen Pfads gewesen waren und Phoran
nun als Leibwächter dienten. Und da Tier nun einmal Tier war,
kannte er sie alle. »Willkommen, Kissel, Toarsen, Rufort und …« Er
hob die Laterne höher. »Oh, Ielian, nicht wahr? Willkommen in
meinem Haus. Was führt Euch her?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Phoran.
»Wenn es Euch nicht stört, würde ich meine Männer gern nach draußen
schicken, damit sie in Eurer Scheune schlafen können. Wir sind so
schnell geritten, wie unsere Pferde uns tragen konnten, und wir
sind alle müde.«
»Selbstverständlich«, sagte Tier. »Jes, kannst du
sie zur Scheune bringen? Es gibt dort ein wenig Segeltuch, das sie
auf das Heu legen können. Die Pferde - wie viele Hengste,
Phoran?«
»Zwei.«
»Dann bring Scheck und die neue Stute auf die
kleine Koppel. Die Hengste können in den Boxen stehen, mit einer
Wand zwischen sich, und die anderen Pferde solltet ihr in den
großen Pferch bringen.«
»Ich bitte um Verzeihung, Euer Gewaltigkeit«, sagte
Ielian. »Aber Ihr müsst einen von uns bei Euch behalten.«
Phoran schluckte seinen Ärger herunter. Es war
leichter zu gehorchen, als zu widersprechen - und Toarsen und
Kissel wussten ohnehin alles, was er Tier erzählen wollte.
»Also gut«, sagte er. »Toarsen, du bleibst hier.
Kissel, du hilfst Jes mit den Pferden, und dann solltet ihr alle
ein wenig schlafen. Das hier könnte eine Weile dauern.«
Er wartete, bis Jes die drei Wachen zur Scheune
geführt hatte, dann wandte er sich Tier zu.
»Es tut mir leid, mit meinem Ärger
hierherzukommen«, sagte er. »Aber Ihr seid der Einzige, der mir
eingefallen ist und eine Lösung für mein Problem finden
könnte.«
»Der Pfad?«, fragte Tier.
»Der Pfad gehört auch dazu«, sagte Phoran. »Warten
wir, bis Jes wieder da ist - ich will die Geschichte nicht zweimal
erzählen müssen. Und Seraph sollte sie wahrscheinlich auch
hören.«
»Ich werde Tee kochen, Papa«, sagte Lehr und zog
sich wieder an.
Er rollte sein Bettzeug schnell auf und nahm es von
seinem Lager - das sich als breites Brett auf zwei Bänken erwies.
Tier packte ein Ende einer Bank und Toarsen das andere, und sie
trugen sie zu dem großen Tisch an der Feuerstelle. Als Lehr die
zweite Bank ebenfalls dorthin ziehen wollte, hob Phoran die andere
Seite an und half ihm.
Während Lehr Tee kochte, kletterte Tier zu seinem
Schlafzimmer hinauf, um seine Frau zu wecken.
»Das könnte ein wenig dauern«, sagte Lehr leise.
»Mutter hat sich heute Abend ziemlich verausgabt - wir hatten hier
ebenfalls einigen Ärger.«
»Ich hoffe, nichts Ernstes«, sagte Toarsen. »Wenn
es um etwas geht, wobei der Sept helfen könnte …« Der Sept von
Leheigh, der Mann, der Tiers Ecke der Welt regierte, war Toarsens
älterer Bruder.
Lehr schüttelte den Kopf. »Nein, nicht diese Art
von Problem. Ich werde morgen aufbrechen, um Benrolns Clan zu
finden.«
Also ging es um Magie. Phoran hatte wirklich ein
schlechtes Gewissen, weil er mit seinen Problemen hierhergekommen
war, denn es klang, als hätte Tier selbst genug Ärger, aber der
junge Kaiser kannte sonst niemanden, dem er vertrauen konnte.
Tatsächlich gab es nicht einmal Leute, denen er nicht traute, die ihm helfen konnten. Er ging auf
und ab und versuchte, nicht auf das Gemurmel von unter dem Dach zu
achten.
Jes kam wieder aus der Scheune. Wenn Phoran es
nicht besser gewusst hätte, hätte er ihn für einfältig gehalten,
aber er hatte gesehen, was Jes beim Kampf gegen den Pfad geleistet
hatte.
Phoran kannte den Unterschied zwischen einem Kampf,
der nur mit brutaler Kraft ausgetragen wurde, und einem, der
Intelligenz und Fähigkeiten bewies. Er hatte auch bemerkt, dass es
keinen Reisenden überrascht hatte, dass dieser Junge für die
schrecklichen Tode der Meister des Pfades verantwortlich sein
sollte. Was Jes nicht wirklich war, aber die Reisenden waren davon
ausgegangen, er könne es sein.
Tier hatte ihm erzählt, dass Jes über eine dieser
seltsamen magischen Weisungen verfügte, wie sie Reisende manchmal
hatten. Phoran hatte das Gefühl, dass es sich dabei um eine
schreckliche Sache handeln müsse.
»Die Pferde sind in Ordnung«, sagte Jes und starrte
dabei lieber seine Schuhe an, als dem Kaiser in die Augen zu sehen;
Phoran erinnerte sich, dass ihm das schon bei seiner ersten
Begegnung mit Tiers älterem Sohn aufgefallen war. »Ich habe den
Hengsten ein wenig Getreide gegeben, denn Euer Grauer fühlt sich an
diesem fremden Ort unwohl.«
»Danke«, erwiderte Phoran. »Er kann ein bisschen
problematisch sein. Ich hätte mit dir rausgehen sollen.«
»Jes kennt sich mit Pferden aus«, sagte Lehr und
zündete noch mehr Laternen an. »Er kann gut mit Tieren
umgehen.«
»Wer ist da drüben?«, fragte Phoran, dem zum ersten
Mal auffiel, dass auf der der Feuerstelle gegenüberliegenden Seite
des Hauses ein stoffbespannter Rahmen einen Teil des Raums
abtrennte.
»Hennea - sie ist ein Rabe wie Mutter«, sagte Lehr.
»Ihr seid ihr begegnet, aber Ihr habt zur gleichen Zeit so viele
Leute kennengelernt … Dennoch werdet Ihr Euch vielleicht an sie
erinnern. Und meine Schwester Rinnie ist auch da. Sie ist zehn
Jahre alt.«
Ja, Phoran erinnerte sich an Hennea, und eine
Tochter von Tier musste einfach vertrauenswürdig sein. Das Gemurmel
unter dem Dach war verklungen, und Tier kam wieder herunter. Sein
Hinken war besser geworden, seit er Taela verlassen hatte.
Seraph folgte ihm. Als sie sich umdrehte und das
Laternenlicht auf ihr Gesicht fiel, konnte Phoran sehen, dass Lehr
nicht übertrieben hatte. Sie sah aus, als hätte sie wochenlang
nicht geschlafen.
»Es tut mir leid, Euch zu stören«, sagte
Phoran.
»Unsinn«, erwiderte sie - und machte ihn verlegen,
indem sie ihm die Wange tätschelte, bevor sie zur Bank schlurfte.
Sie setzte sich hin und stützte die Ellbogen auf, damit sie den
Kopf in die Hände legen konnte.
Alle waren da. Zeit, mit seiner Geschichte
anzufangen - aber er wusste einfach nicht, wie er das tun
sollte.
»Ich nehme an, es war nicht einfach, mit dem Pfad
fertig zu werden«, sagte Tier, nachdem er sich neben Seraph gesetzt
hatte. »Warum fangt Ihr nicht damit an.«
Phoran stellte fest, dass er sich nicht hinsetzen
konnte, und er konnte sie auch nicht ansehen, während er
sprach.