9
Sie blieben schweigend
sitzen, als Phoran mit seiner Geschichte fertig war, sich gegen ein
Ende des Tischs lehnte und die Flammen in der Feuerstelle
beobachtete. Der Kaiser bewegte sich jetzt weniger wie ein
übergewichtiger Höfling und mehr wie ein Kämpfer als bei ihrer
letzten Begegnung. Er wog immer noch ein bisschen zu viel und hatte
ein eher rundliches Gesicht, aber inzwischen hatte er Muskeln unter
den gepolsterten Schultern seiner Samttunika.
»Ich sehe, dass Toarsen und Kissel Euch begleiten
und nicht mit Gerant gegangen sind«, stellte Tier schließlich
fest.
Phoran lächelte. »Ich habe sie gebeten, ein paar
Gardisten zu finden, auf die sie sich verlassen können, und sie
sind zu dem Schluss gekommen, dass sie sich selbst am meisten
trauen. Gerant und Avar sorgen dafür, dass der Rest der Sperlinge …
der Kaisergarde beschäftigt ist, während wir in der Gegend
herumreisen.«
Sein Lächeln verschwand wieder; er ging zur
Feuerstelle und stützte sich auf das Sims. »Ich bin
hierhergekommen«, sagte er leise, »weil ich hoffte, dass Ihr mich
noch einmal retten könnt.«
»Ich weiß nicht viel über Mementos«, sagte Tier.
»Seraph wird mehr Hilfe sein, und Lehr bricht morgen früh auf, um
Brewydd zu finden.«
»Wer ist Brewydd?«, fragte Toarsen.
»Die Heilerin des Reisendenclans, der uns beim
Kampf gegen den Pfad geholfen hat«, erklärte Tier.
»Die alte Frau?«
Tier nickte. »Sie verließen uns, bevor wir
hierherkamen. Lehr könnte ein paar Tage brauchen, um sie zu
finden.« Er dachte kurz nach. »Brewydd sagte, das Memento werde
verschwinden, wenn es seine Rache hätte. Vielleicht glaubt es ja,
dass das noch nicht geschehen ist.«
»Der Zauberer, der entkam«, meinte Phoran.
Tier nickte. »Der Schatten.« Tier hatte dem Kaiser
schon vor ihrem Aufbruch aus Taela von seinem Verdacht erzählt,
aber Toarsen zuckte sichtlich zusammen. »Wir sind auch nicht froh,
dass er fliehen konnte. Wenn es das ist, was das Memento aufhält,
dann können wir vielleicht wirklich helfen. Wir sind selbst auf der
Suche nach ihm.«
»Nach dem Schatten?«, fragte Toarsen barsch. »Der
wurde schon vor langer Zeit getötet.«
»Nicht derselbe Schatten«, sagte Seraph mit vor
Erschöpfung heiserer Stimme. »Nicht der namenlose König. Wir reden
von einem anderen Zauberer, der eine Möglichkeit gefunden hat, von
der Macht des Pirschgängers stärker zu werden. Er scheint
allerdings noch nicht die gleiche Macht erreicht zu haben - und wir
wissen nicht, warum.«
»Seid Ihr sicher, dass es einen anderen Schatten
gibt?«, fragte Phoran.
Tier nickte, aber er sagte dem Kaiser nicht, dass
ihre Überzeugung sich vor allem auf Ellevanals Wort stützte.
Irgendwie dachte er, Phoran fände es glaubwürdiger, wenn er nicht
zu viel erklärte.
»Wer ist der Pirschgänger?«, fragte Toarsen.
»Die Schuld der Reisenden«, erwiderte Seraph.
»Obwohl ich Euch bitten möchte, das für Euch zu behalten. Vor sehr
langer Zeit, bevor es Reisende gab, existierte eine Zaubererstadt,
wo Magier voneinander und aus der dortigen Bibliothek lernten. Sie
waren ein arroganter Haufen und verließen sich
darauf, dass ihre große Macht sie retten würde, selbst wenn sie
sich mit Dingen beschäftigten, die man lieber nicht anrühren
sollte.«
»Sie schufen etwas«, übernahm Lehr den Faden.
»Etwas, das all ihre Macht und ihre Gelehrsamkeit nicht beherrschen
konnte. Also opferten die Zauberer die Stadt und alle darin, mit
Ausnahme ihrer selbst, und banden den Pirschgänger auf diese Weise.
Aber da sie wussten, dass selbst diese Fesseln unvollkommen waren,
schworen die Überlebenden, den Schaden zu bekämpfen, den er immer
noch anrichten konnte. Sie wurden zu Reisenden - und der Schatten
gehört zu den Dingen, die sie bekämpfen.«
Phoran rieb sich das Gesicht, und Tier sah ihm
seine Erschöpfung deutlich an. »Wir müssen also den Schatten töten,
damit ich das Memento loswerde?«
Tier zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht
sicher. Habt Ihr das Memento schon gefragt?«
»Seit es meine Angreifer tötete, ist es nicht
wieder aufgetaucht.«
»Er nährt sich nicht von Euch?« Seraph richtete
sich erstaunt auf. »Das ist gefährlich, Phoran. Wenn es immer noch
an Euch gebunden ist und sich nicht mehr nährt, wird es
verblassen.«
»Das wäre doch gut, oder?«, fragte Toarsen.
»Es wird den Kaiser mitnehmen, wenn es geht.«
Seraphs Stimme hatte eine gewisse Schärfe, aber das schien Toarsen
nicht zu stören.
»Wenn es genug Leute umgebracht hat, wird es eine
Weile keine Nahrung brauchen. Ein Magier nährt es längere Zeit; die
Meister des Pfads zählten zu den Zauberern, die den Raben getötet
haben, welcher das Memento gebar, und so könnte ihre Ermordung es
durchaus länger laben als der Tod von anderen.« Henneas Stimme aus
dem Nebenraum klang ruhig und
aufmerksam, und man konnte ihr nichts von der Erschöpfung anhören,
die bei Seraph so deutlich war.
Eine Matratze raschelte, und dann kam Hennea aus
ihrem Zimmer. Das Haar hing ihr wirr über die Schultern, was sie
aussehen ließ, als stünde sie Rinnies Alter näher als dem von
Seraph.
»Phoran, Ihr erinnert Euch sicher an Hennea«, sagte
Tier.
Der Kaiser nickte. »Selbstverständlich.
Rabe.«
»Euer Hoheit«, sagte Hennea so gelassen, als trage
sie Hofkleidung statt eines Nachthemds. »Könnt Ihr das Memento
rufen, wenn Ihr das wollt?«
»Nein.« Phoran hatte schon versucht, es auf jede
erdenkliche Weise zu sich zu holen.
»Also gut«, sagte Seraph. »Es wird schon kommen.
Hennea, hast du gehört, was Phoran erzählte?«
Hennea nickte. »Wie viel davon wissen Eure
Männer?«
»Toarsen weiß selbstverständlich alles, ebenso wie
Kissel«, erwiderte der Kaiser. »Den anderen habe ich gesagt, mir
sei von den Meistern ein Bann auferlegt worden, und Ihr«, er machte
eine Geste, die alle im Raum umfasste, »könntet mir vielleicht
helfen.« Er kniff kurz die Lippen zusammen. »Ich wage nicht, ihnen
alles anzuvertrauen.«
»Es hat mich immer überrascht, dass Rufort vom Pfad
rekrutiert wurde«, sagte Tier. »Ich wette mein Leben, dass er einer
der ehrenhaftesten Männer ist, die ich kenne.«
»Er ist im vergangenen Jahr ein bisschen ruhiger
geworden«, sagte Toarsen. »Zuvor war er schrecklich aufbrausend.
Wenn er ausging und ein paar getrunken hatte, fing er für
gewöhnlich Streit mit dem größten Idioten an, den er finden konnte.
Damit hörte er erst auf, als Kissel ihn grün und blau schlug.
Danach hörte er auf, Kämpfe anzuzetteln. Er sagte mir einmal, ein
Mann mit einem gebrochenen Bein habe eine Menge Zeit, auf dem
Rücken zu liegen
und darüber nachzudenken, was er mit seinem Leben anfangen
solle.«
Toarsen hielt inne, dann sagte er: »Sie hätten
Rufort nicht mehr lange am Leben gelassen - die Raubvögel und die
Meister des Pfades. Vielleicht haben sie sogar schon versucht, ihn
umzubringen. Nur ein paar Wochen, bevor man Tier zu uns brachte,
wurde ein anderer Sperling tot in der Nähe von Ruforts Zimmer
gefunden. Er war ein unangenehmer Kerl, und niemand vermisste ihn,
aber Kissel, der die Leiche sah, sagte, die Person, die ihn getötet
habe, müsse ein großer, kräftiger Mann gewesen sein wie Rufort. Wir
dachten nicht viel darüber nach, bis Ihr uns zeigtet, dass der Pfad
mehr Sperlinge tötete, als er zu Raubvögeln machte.«
»Ielian kenne ich nicht besonders gut«, sagte Tier.
»Ich erinnere mich daran, dass er ziemlich still war - und einer
der besseren Schwertkämpfer.«
»Er ist ein guter Mann«, sagte Toarsen. »Er hat
sich bei dem Kampf im Nest hervorragend bewährt. Es gibt nur wenig
Männer, die ich lieber in meinem Rücken wüsste.« Er gähnte.
Seraph stand auf. »Es ist Zeit zu schlafen. Phoran,
Ihr könnt unser Zimmer …«
Aber der Kaiser schüttelte bereits den Kopf. »Nein,
das geht nicht. Ich würde nie eine Dame aus ihrem Bett vertreiben.
Die Scheune ist gut genug für uns - ein Heubett wird erheblich
weicher sein als alles andere, worauf wir in diesen letzten Wochen
geschlafen haben.«
»Ihr seid schnell geritten«, sagte Tier, »um uns so
bald wie möglich zu erreichen.«
»Toarsen kennt alle Abkürzungen, und wir haben die
Pferde mit Getreide gefüttert«, sagte Phoran. Er machte einen
Schritt auf die Tür zu und blieb dann wieder stehen. »Ihr habt mir
noch nicht gesagt, wieso Ihr Lehr schon vor unserer Ankunft zu der
Heilerin schicken wolltet.«
»Ich habe ein Geschenk der Meister mit
zurückgebracht«, sagte Tier. »Ich hoffe, dass Brewydd sich darum
kümmern kann. Nichts, worum Ihr Euch Sorgen machen müsst. Jes,
kannst du sie nach draußen bringen und bei den anderen einen Platz
für sie finden?«
»Wartet«, wandte Jes ein. »Hennea, bevor du
eingeschlafen bist, hast du mich gebeten, dich an Papa, Landkarten
und Colossae zu erinnern. Du sagtest, es sei wichtig.«
Sie runzelte die Stirn. »Ich kann mich nicht
erinnern.«
»Es wird dir schon wieder einfallen«, sagte Jes
überzeugt.
Lehr schloss die Augen und ließ seinen Körper den
Rhythmus des Trabs seiner Stute aufnehmen. Er hatte nie zuvor auf
einem solchen Pferd gesessen.
Akavith hatte sie vielleicht für weniger verkauft,
als er aus dem Haus eines Adligen erhalten hätte, aber das war
immer noch mehr Geld, als Lehr je zuvor in der Hand gehalten
hatte.
Die Fuchsstute scheute ein wenig, und Lehr öffnete
die Augen, um zu sehen, was sie erschreckt hatte. Er konnte nichts
erkennen, beobachtete aber ihre beweglichen Ohren. Etwas befand
sich links von ihnen im Wald.
Es hätte etwas vollkommen Unwichtiges sein können.
Aber sie waren jetzt schon mehrere Stunden unterwegs, und Seide
hatte auf flatternde Fasane und ein erschrockenes Kaninchen
erstaunlich überlegen reagiert.
Er bat sie, in Schritt zu fallen, und sie
schüttelte widerstrebend den Kopf, bevor sie ihr Tempo zu einem
Tänzeln verlangsamte. Siehst du, sagte sie
ihm mit jedem stolzen Schritt, ich bin nicht
müde, und das hier ist zu langsam.
Lehr atmete ruhig ein und aus, wie Brewydd es ihn
gelehrt hatte. Beruhige deinen Geist, Junge.
Höre darauf, was deine Sinne dir zu sagen haben.
Dann roch er es, wild und beängstigend: das
Ungeheuer, das im Schatten lauerte und einen fressen würde, wenn
man nicht vorsichtig genug war.
»Jes«, sagte er und zügelte die Stute, bis sie
stillstand. »Was tust du hier?«
Der Wolf erschien unter den Bäumen, als hätte er
nur auf Lehrs Ruf gewartet. Seide hob den hinreißenden Kopf und
beobachtete ihn, aber Lehr spürte, dass sie sich nicht anspannte.
Der Wolf hatte Jes’ dunkle Augen.
»Ich brauche keinen Schutz«, beantwortete Lehr
seine eigene Frage.
Der Wolf setzte sich und kratzte sich am Ohr, dann
kam er mit einem Schnauben, das vielleicht ein leichtes Niesen
gewesen war, wieder auf die Beine. Er trabte zu der Stute,
ignorierte Lehr vollkommen und grüßte Seide, indem er ihre Schnauze
mit der seinen berührte. Dann trabte er ohne einen Blick zurück den
schmalen Jagdweg entlang.
»Verflucht, Jes«, murmelte Lehr, »ich brauche keine
Hilfe!«
Der Wolf war hinter einer Biegung des Wegs
verschwunden.
»Aber Gesellschaft wäre nicht übel«, sagte er zu
der Stute.
Sie schnaubte und sprang in einen Kanter, als er
das Gewicht verlagerte. Mit einem freudigen Hochwerfen des Kopfs
schoss sie davon wie ein Hase. Als sie an Jes vorbeikamen, gab er
ein vergnügtes Kläffen von sich und schloss sich der Jagd an.
Sie brauchten drei Tage, um Colbern zu
erreichen.
Wie erwartet, war die Stadt ummauert. Sie wirkte
kleiner als Leheigh, aber Lehr nahm an, dass das nur wegen der
Mauer so aussah. Der Raum drinnen war eingeschränkt, also wohnten
die Menschen dichter beieinander.
Die Stadttore sahen nicht so beeindruckend aus wie
die Mauer; sie waren sowohl niedriger als auch weniger stark.
Eine Ramme hätte mit ihnen kurzen Prozess
gemacht. Aber es hatte seit Generationen in dieser Region keinen
Krieg mehr gegeben, also nahm Lehr an, dass die Tore durchaus
angemessen waren. Sie waren fest geschlossen, und behelfsmäßig
aussehende gelbe Fahnen hingen über dem oberen Teil und warnten die
Durchreisenden, dass die Einwohner gegen eine Seuche
kämpften.
Jes legte die Ohren an und knurrte leise.
»Ich rieche es ebenfalls«, sagte Lehr zu seinem
Bruder. Es war der Gestank nach Tod - Krankheit und verfaulende
Leichen. Er zog die Tunika so hoch, dass sie seine Nase bedeckte,
und stieg ab.
Seide schien sich von dem Gestank nicht stören zu
lassen, aber sie war auch als Jagdpferd ausgebildet. Blut und Tod
setzten ihr nicht so zu wie den meisten anderen Pferden.
»Du solltest lieber ein Mensch sein, Jes, wenn
jemand das Tor öffnet.« Bei diesen Worten warf Lehr einen Blick
über die Schulter - und fand sich dem ausdruckslosen
Menschengesicht seines Bruders gegenüber.
»Ich mag diese Stute«, sagte Jes und rieb Seide
unter einem Riemen des verschwitzten Halfters. »Sie ist
hübsch.«
Lehr schlug wieder gegen das Tor, aber niemand
antwortete. Er machte ein paar Schritte zurück, sprang nach oben
und packte die Oberseite des Tors. Dann schwang er die Beine zur
Seite, setzte einen Fuß oben aufs Tor, zog sich weiter hoch und
rollte schließlich darüber hinweg zur anderen Seite.
Zwei- und dreistöckige Gebäude ragten über schmalen
Straßen auf und schufen eine Atmosphäre der Enge, die sich noch
schlimmer anfühlte, weil sich nirgendwo etwas oder jemand bewegte.
Lehr sah sich misstrauisch um, aber es gab keine Anzeichen, dass
jemand ihn beobachtete.
Er zog die schweren Balken, die das Tor
verriegelten, aus ihrer Halterung und öffnete es.
»Ich habe niemanden gesehen«, sagte er zu seinem
Bruder. »Sei wachsam.«
Der Hüter versetzte ihm ein zähnestarrendes Lächeln
und führte Seide auf das Kopfsteinpflaster der Stadtstraße. »Kannst
du feststellen, ob die Reisenden hier waren?«
Lehr kehrte wieder zu dem Pfad aus gestampfter Erde
zurück, der vor dem Tor verlief. Er holte tief Luft und setzte sich
auf die Fersen, um den Boden genauer zu betrachten. Es dauerte eine
Weile, weil irgendwann in der vergangenen Woche ein Gewitter die
Spuren verwischt hatte, nach denen er suchte.
»Sie sind hier«, stellte er schließlich fest und
kehrte zurück, um Seides Zügel zu nehmen. »Sie sind hergekommen und
haben die Stadt nicht wieder verlassen.«
Der Hüter sah sich in der stillen Stadt um. »Ich
bin nicht sicher, ob das eine gute Sache ist.«
Lehr empfand dasselbe, aber er würde es nicht
zugeben. Er versuchte, das unheimliche Gefühl als Nebenwirkung von
Jes’ Weisung abzutun - aber wenn das so war, warum hatte er dann
das Bedürfnis, sich näher an seinen Bruder zu drängen?
Er sah sich noch einmal um, dann verließ er sich
darauf, dass der Hüter gut aufpassen würde, damit er selbst sich
darauf konzentrieren konnte, den Spuren zu folgen, die der Clan auf
den schmalen, kopfsteingepflasterten Straßen hinterlassen
hatte.
Sie kamen an einem Gasthaus mit einem Stall vorbei,
und der Hüter packte ihn am Arm.
»Warte kurz. Ich will etwas überprüfen«, sagte er,
dann verschwand er im Stall. Er kam beinahe ebenso schnell wieder
heraus. »Alle tot - aber es war keine Krankheit, die sie umgebracht
hat. Nach den Maden zu schließen, sind sie mindestens eine Woche
tot. Niemand hat versucht, sich von ihnen zu ernähren. Es gab auch
ein paar tote Menschen. Einer wurde
erstochen, die anderen starben an der Seuche. Ich bin nicht nahe
genug herangegangen, um sagen zu können, wie lange sie tot
sind.«
»Suchen wir die Reisenden und kehren dann nach
Hause zurück«, sagte Lehr und wurde schneller. Er glaubte nicht,
dass sie den Clan von Rongier dem Bibliothekar lebend finden
würden, aber er musste weitersuchen. Das war er Brewydd
schuldig.
Als sie tiefer in die Stadt kamen, wurde der
Gestank schlimmer. Einige Straßen waren mit aufgeschichteten Möbeln
und Haushaltsgegenständen verbarrikadiert worden, um die Pestopfer
fernzuhalten, aber das hatte nichts genutzt. Lehr und Jes sahen
Aasvögel, Ratten und einmal einen streunenden Hund, aber keine
Menschen.
Sie fanden Rongiers Clan auf einer der kleinen
Flächen, die unbebaut geblieben waren, damit die Tiere der
Stadtbewohner hier grasen konnten. Der Hüter kniete sich neben die
erste Leiche und schnupperte, ohne sie zu berühren.
»Sie sind etwa eine Woche tot. Wie die
Pferde.«
Lehr hockte sich neben eine Frau, die mit dem
Gesicht nach unten lag; ihr helles Haar erinnerte ihn an das seiner
Mutter. Sie war, wie der Rest von Rongiers Clan, nicht an der
Seuche gestorben. Die Reisenden waren von den Menschen umgebracht
worden, denen sie helfen wollten.
Er berührte ihr Haar - solange sie mit dem Gesicht
nach unten lag, war sie eine Fremde. »Jemand glaubte, dass sie die
Krankheit eingeschleppt hatten, wie sie das auch von den Pferden
dachten, die du im Stall gefunden hast, und ich nehme an, von den
Katzen, Hunden, Hühnern und Ziegen, die wir nicht gesehen
haben.«
Dann drehte er die Leiche vorsichtig um, als ob es
ihr wehtun könnte, wenn er zu grob war. Er hatte diese Frau beim
Kochen neben seiner Mutter gesehen, oder wie sie einem kleinen
Kind das Hemd zurechtzupfte, aber er kannte ihren Namen
nicht.
Er stand wieder auf und ging zu weiteren Leichen,
setzte Namen zusammen für die Totenliste in seinem Kopf. »Hier ist
Benroln«, sagte er.
Lehr sah an den toten Stadtbewohnern, die den
Clanführer umgaben - und daran, wie sein Körper verstümmelt worden
war -, dass Benroln heftig Widerstand geleistet hatte.
»Isfain«, bemerkte der Hüter mit so seltsamer
Stimme, dass Lehr aufblickte. Isfain, erinnerte er sich, war
derjenige, der Wache gehalten hatte, als man Jes mit dem Foundrael festhielt.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Lehr.
Der Hüter nickte. »Ich dachte, ich wollte, dass er
stirbt«, sagte er, dann ging er zu der nächsten Leiche.
»Kors.«
Sie waren alle tot, Männer, Frauen und - das
zerriss ihnen endgültig das Herz - auch die Kinder. Die rothaarigen
Zwillinge, die immer irgendwelchen Unfug im Kopf gehabt hatten,
waren feierlich aufgebahrt, ihre Kehlen durchschnitten. Das
Kleinkind, das immer am Daumen gelutscht hatte, wenn Lehr gerade
hinsah, war zu einem kleinen, gebrochenen Häuflein Elend
zusammengesackt.
Es gab noch mehr Stadtbewohner unter den Toten. Ein
paar, die mit Schwertern bewaffnet waren, mochten Wachen gewesen
sein, aber die meisten hatten sich nur mit Keulen oder Werkzeugen
bewaffnet. Verzweifelte Menschen tun
verzweifelte Dinge, sagte Papa oft.
Lehr wandte sich von der Leiche eines Mannes ab,
der ein scharfes Sattlermesser in der Hand hatte, und wäre beinahe
über eine Frauenleiche gestolpert.
Ihre eisblauen Augen hatten die Krähen geholt, aber
er erkannte die schmale, scharfe Nase und den breiten Mund:
Igraina, die ein besonders Vergnügen daran gefunden hatte, ihn
herumzukommandieren und dabei ein wenig mit ihm zu
liebäugeln. Neben ihr lag der Clanschmied. Lehr erinnerte sich
nicht an seinen Namen, jedoch an das schüchterne Lächeln des
Mannes.
Als sie fertig waren, hinterließ der Hüter Reif auf
dem Boden, den er betrat. Lehr wusste nicht, ob er das tat, weil er
wütend oder traurig war. Es gab niemanden mehr, den der Hüter
verteidigen oder an dem er sich rächen konnte. Nach den leeren
Straßen zu schließen, die sie gesehen hatten, als sie durch die
Stadt kamen, waren die Leute, die für diese Morde verantwortlich
waren, sehr wahrscheinlich ebenfalls tot.
Nur Brewydd konnten sie nicht finden. Lehr
betrachtete das nicht unbedingt als hoffnungsvolles Zeichen.
Wahrscheinlich war sie unterwegs gewesen und hatte versucht,
jemanden zu heilen, als der Wahnsinn die Stadtbewohner erfasst
hatte.
»Es sind zu viele, um sie begraben zu können«,
sagte Lehr hilflos. »Aber wir können sie nicht so liegen
lassen.«
Der Hüter sah sich um. »Ich erinnere mich an … an
Schlachtfelder voller Leichen. Ehrenhafte Soldaten, die nicht
verdient hatten, als Aas für die Geier zurückgelassen zu werden.
Komm her, Lehr. Stell dich neben mich, damit dir nichts
passiert.«
Lehr trat so nahe, wie er es wagte, an seinen
Bruder heran, bis die Kälte des Hüters ihm in die Finger biss und
seine Angst es ihm schwer machte zu atmen. Seide legte bedrückt die
Ohren an, blieb aber neben Lehr. Offenbar waren sie nahe genug,
denn der Hüter begann zu singen, ein seltsames, tonloses Geräusch,
das mehr an ein Wolfsheulen erinnerte als an ein Lied.
Es schmerzte Lehr bis ins Herz, und Tränen, gegen
die er zuvor angekämpft hatte, liefen über seine Wangen, als wäre
er nicht älter als Rinnie. Er hatte diese Menschen gekannt - hatte
Feuerholz mit ihnen geholt, hatte an ihrer Seite gekämpft. Und nun
waren sie alle tot. Waren gestorben bei dem Versuch, diese Stadt zu
retten, die sie getötet hatte.
Als Antwort auf das Lied des Hüters begann der
Boden zu beben.
Magie drang in einer plötzlichen, beinahe
schmerzhaften Welle durch Lehrs Füße in ihn ein und brachte
schließlich seine Ohren zum Klirren. Rings um die Leichen von
Reisenden und Stadtbewohnern riss der Boden auf und verschlang sie,
und danach zeigte nur noch aufgeworfene Erde, wo sie gelegen
hatten.
Das Lied des Hüters endete.
»Was …« Lehr brach seine Frage ab und schob die
Schulter unter seinen Bruder, als dieser bleich und schwitzend
zusammensackte. Jes schluchzte heiser, und Lehr half ihm zu einer
grob behauenen Bank im Schatten eines kleinen Ahornbaums.
»Ganz ruhig«, sagte er und kniete sich vor ihn. Er
wünschte sich, er könne mehr tun. Aber Jes hatte sich ihm entzogen,
sobald er auf der Bank saß, und Lehr wusste, dass er seinen Bruder
mit einer Berührung nicht trösten konnte. »Sie haben jetzt keine
Schmerzen mehr, Jes. Nichts kann ihnen mehr wehtun.«
Jes hob den Blick. »So viel Trauer«, keuchte er.
»Brewydd, glaube ich. Ganz in der Nähe.«
Lehr erinnerte sich daran, dass Jes ein Empath
war.
Er stand auf und sah sich langsam um. Wenn Jes
spürte, dass Brewydd trauerte, bedeutete dies, dass die alte Frau
immer noch lebte. Sein Blick fiel auf einen kleinen gedeckten
Wagen, der von Hand oder von einem Pferd gezogen werden konnte -
Brewydds Karis.
Er legte Jes Seides Zügel in die Hand. »Halte sie
für mich«, bat er. »Seide ist wahrscheinlich ebenfalls unglücklich,
Jes.«
Sein Bruder beugte sich vor, bis seine Stirn am
Vorderbein der Stute ruhte. Sie drehte sich ein wenig, um mit der
Schnauze seinen Rücken zu berühren.
Lehr kam zu dem Schluss, dass er für Jes so gut
gesorgt hatte, wie er konnte, und ging zu dem Karis - wobei er sorgfältig darauf achtete, die
Stellen zu meiden, wo der Boden weich war.
Als er die Tür des kleinen Wagens öffnete, schlug
ihm der Geruch von Krankheit entgegen. Brewydd brauchte so wenig
Platz, dass er sie beinahe für eine zusammengeknüllte Decke
gehalten hätte, bevor sie sich bewegte.
»Du bist hier, Junge«, sagte sie. »Ich habe mir
schon Sorgen gemacht, ihr würdet zu spät kommen, aber dann spürte
ich, wie die Erde auf den Ruf eines Hüters hin ihre Kinder aufnahm.
Ich wusste, dass du hier bist.«
Er nahm sie in die Arme und trug sie hinaus in die
Sonne, denn er hoffte, dass die Wärme ihr helfen würde. Sie schien
nur noch halb so viel zu wiegen wie bei ihrer letzten
Begegnung.
»Wir hätten mit euch kommen sollen«, sagte er.
»Rinnie war bei Tante Alinath in Sicherheit. Wenn wir mitgekommen
wären, wäre das hier nicht passiert.«
Sie streckte die Hand aus, um seine Wange zu
berühren, und tätschelte sie sanft, und er erkannte, dass sie blind
war.
»Wer weiß, was geschehen wäre. Das hier ist bereits
niedergeschrieben, Junge, und dir und mir steht es nicht zu, es
noch zu ändern.«
»Brewydd?« Jes hatte seine Bank verlassen. Lehr
blickte auf und sah, dass sein Bruder aufgehört hatte zu weinen.
»Wir bringen dich nach Hause, und Mutter wird sich um dich kümmern,
wie sie es bei Papa tut.«
»Nein, Junge«, erwiderte die alte Frau freundlich.
»Ich bin nur geblieben, um mit euch zu reden. Eine meiner
Begabungen bestand in Voraussicht - eine schwach ausgeprägte
Begabung, aber sie sagte mir, ich solle warten. Trauere nicht um
mich, Lehr.« Sie wischte eine Träne mit dem Daumen ab. »Ich
bin eine sehr alte Frau. Zu alt, um diese Krankheit als das zu
erkennen, was sie war. Das hätte ich tun sollen. Ich wusste
schließlich, dass es einen neuen Schatten gab.«
»Was ist passiert?«, fragte Lehr. Er trug sie zu
dem Ahornbaum und der Bank und setzte sich hin, wobei er sie weiter
im Arm behielt, als könne sie das irgendwie schützen.
»Ich heilte die Menschen, und am nächsten Tag kamen
sie zurück, und es ging ihnen noch schlechter als zuvor. Es war
eine Schattenseuche, Junge. Tod, um die Macht des Schattens zu
nähren. Ich wusste, wonach ich Ausschau halten sollte, aber ich
hatte es vergessen, alte Frau, die ich bin. Als es mir schließlich
einfiel, war ich selbst schon krank, und der halbe Clan ebenfalls.
Ich habe sie geheilt und dann mich selbst, aber es war zu spät. Das
Heilen nahm mir mehr, als ich zu geben hatte, also werde ich
sterben. Ebenso, wie diese Stadt gestorben ist. Vom Schatten
getötet. Ich habe es gesehen.«
»Mutter sagt, Lerchen können Schatten nicht sehen«,
sagte Lehr leise.
Sie schüttelte den Kopf, »Doch. Wir können es alle
ein wenig, es ist nur schwer für die, die nicht die Augen eines
Jägers oder die Instinkte eines Hüters haben. Die Weisungen haben
mehr gemeinsam, als sie unterscheidet, auch wenn die Raben gern das
Gegenteil behaupten.«
»Der Schatten hat diese Stadt umgebracht«, sagte
Jes.
Brewydd nickte. »Alle, die nicht Opfer von Messer
oder Keule wurden. Der Schatten wird nun seine volle Kraft erreicht
haben. Sagt eurer Mutter, sie soll vorsichtig sein.«
»Ist es ein Mann?«, fragte Lehr.
Sie schüttelte den Kopf, »Das weiß ich nicht. Man
sollte nichts im Vorhinein annehmen. Es könnte jeder sein. Ihr habt
Fragen, die ich beantworten sollte. Wichtig genug, dass ich bis
jetzt überlebte.«
»Phorans Memento ist immer noch da«, sagte
Jes.
Lehr berichtete über den gescheiterten
Attentatsversuch, der Phoran dazu gebracht hatte, aus Taela zu
fliehen.
»Papa denkt, das Memento wird nicht verschwinden,
bis der Schatten vernichtet wurde.«
Wieder nickte die alte Frau. »Wenn das Memento
nicht verschwunden ist, als die anderen starben, dann ist das wohl
so. Aber es wird auch stärker und dem Mann ähnlicher werden, zu dem
es einmal gehörte. Es könnte sein, dass selbst der Tod des
Schattens es nicht befreien wird - wie bei den Edelsteinen mit den
Weisungen.« Sie schluckte. »Sagt das eurer Mutter. Das Memento ist
wie die Edelsteine mit den Weisungen - aber seine Weisung ist eher
an Phoran gebunden als an einen Stein. Das könnte ihr
helfen.«
Sie hielt inne und atmete nur langsam und flach.
»Was sonst noch?«, fragte sie ungeduldig. »Es gab zwei Dinge - ich
weiß, dass es zwei waren.«
»Papa«, murmelte Jes. »Lehr wird es dir
sagen.«
»Mutter glaubt, dass etwas, was der Pfad getan hat,
die Verbindung zwischen Papa und seiner Weisung schwächt. Sie sagt,
sie sieht Löcher darin, als wäre die Weisung ein Stoff. Sie konnte
die meisten davon flicken.«
»Tatsächlich? Sag mir, wie.«
»Ich soll dir sagen, sie habe einen der
Lerchensteine, das Tigerauge, dazu überreden können, ihr zu helfen.
Du weißt, welcher Ring das war.« Er räusperte sich. »Sie hat Magie
verwendet, um Garn herzustellen, und die Weisung der Lerche wurde
zu einer Nadel, die sie mit ihrer eigenen Weisung benutzte, um die
Risse zu flicken und sie zu schließen. Ist das irgendwie
verständlich?«
Brewydd gab ein seltsames Geräusch von sich, das
Lehr erschreckte, bis ihm klar wurde, dass sie lachte. »Verwegenes
Kind«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Sie hatte
Glück, dass die Lerche, die halb in diesem Edelstein gefangen
sitzt, sie nicht umbrachte.«
»Sie sagt, das Flickwerk werde nicht lange halten.
Sie hoffte, du könntest es besser machen.«
»Nein, Junge.« Ihre Hand fiel von seinem Gesicht,
und er vermisste das Gefühl ihrer Berührung sofort. »Nicht einmal,
wenn ich wieder zwanzig wäre. Ich kann die Weisungen nicht
berühren, und eigentlich hätte sie das auch nicht tun können. Nein.
Was sie braucht, ging verloren, als Colossae fiel.«
Lehr spürte, wie ihn ein Schauder überlief.
»Ist es immer noch dort?«
Lehr riss den Kopf hoch, um den Hüter anzustarren -
aber stattdessen begegnete er dem liebevollen Blick seines
Bruders.
»In Colossae?«, fragte sie. »Das weiß ich nicht.«
Sie rang nach Atem, während Lehr sie in seinen Armen wiegte. Sie
war zu leicht; es war beinahe so, als hielte er ein Kind.
Ihr Atem wurde wieder ruhiger. »Ich habe von
Colossae geträumt, als ich auf euch wartete. Das habe ich nie zuvor
getan. Ihr wart dort. Ihr und euer schwarzer Hund und ein
Turm.«
»Wir fanden Pläne von Colossae«, sagte Lehr. »Im
Tempel des Pfads in Redern.«
»Es stimmt also.« Die alte Frau lächelte. »Der
Traum war für euch bestimmt. Deshalb musste ich hierbleiben. Um
euch zu sagen, dass ihr nach Colossae gehen müsst.« Sie hielt inne
und entspannte sich ein wenig. »Ja, das war es. Ihr werdet dort
vielleicht keine Antworten finden, aber wenn ihr nicht geht, findet
ihr überhaupt nichts.« Macht, roh und heiß, rammte sich in Lehrs
Körper, als er die Decke berührte, in die Brewydd gewickelt war. Er
konnte kaum mehr atmen, als die Heilerin mit einer Stimme wie eine
Glocke sagte: »Wenn ihr Colossae nicht findet, wird Tier
dahinschwinden, und der Kopf des Kaisers wird die Mauer seines
Feindes zieren.«
Dann wurde sie schlaff in seinen Armen, und die
seltsame Macht sickerte davon, bis sie weg war.
»Brewydd?«, flüsterte Lehr.
Er fürchtete, sie sei tot. Aber als sie seine
Stimme hörte, regte sie sich wieder.
»Ich bin immer noch hier, Junge. Sag es deiner
Mutter. Ich habe über diese Steine mit den Weisungen nachgedacht.
Vor ein paar Tagen ist es mir eingefallen. Ich hielt es nicht für
wichtig, aber wenn ihr nach Colossae geht, könnte es helfen.«
Sie schloss die Augen, und einen Moment lang atmete
sie nur. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihre Farbe ein wenig
besser geworden. »Es heißt, dass es in den Bibliotheken der
Mermori nichts über die Weisungen gibt, und
nach den Suchen, die eure Mutter, Hennea und ich im Lauf der Jahre
durchgeführt haben, muss ich dem zustimmen. Nichts. Aber als die
überlebenden Zauberer Colossae verließen, nachdem sie seine
Bewohner geopfert hatten, waren sie imstande, die Weisungen zu
schaffen. Solsenti-Magie - und die Magie
der Zauberer aus Colossae war genau das - braucht langes Studium
und bestimmte Formen. Dinge, die man niederschreibt. Eine große
Magie wie die Schaffung der Weisungen, die sich über Jahrtausende
auswirken soll, würde so viel Vorarbeit verlangen, meine Kinder! An
was sonst könnten sie gearbeitet haben?«
»Am Pirschgänger?«, warf Jes ein.
Sie nickte. »Das ist natürlich möglich. Aber sie
wussten bereits, wie man die Weisungen schafft; sie müssen es
irgendwo niedergeschrieben haben. Ein Rabe braucht nicht viel
Schriftliches. Es gab eine Bibliothek.«
»Rongier der Bibliothekar«, murmelte Jes.
Sie nickte. »Und sagt eurer Mutter noch mehr: Wenn
Tier seine Weisung verliert, wird ihn das vernichten. Sein Körper
wird nicht sterben, nicht, wenn andere sich darum kümmern, aber die
Weisung wird Tier mitnehmen und nichts zurücklassen.
Nichts. Wenn das geschieht, solltest du dich lieber um ihn
kümmern, Jäger. Dein Vater wird tot sein, und das Gleiche sollte
für seinen Körper gelten.«
Wieder schloss sie die blinden Augen und tätschelte
Lehrs Hand. »Also gut«, sagte sie. »Ich habe meinen Teil an dieser
Sache zu Ende gebracht. Jetzt kann ich das Problem des Schattens
denen überlassen, die dazu geeigneter sind.« Ihr Atem geriet ins
Stocken, als hätte sie Schmerzen beim Luftholen. »In meinem
Karis liegt eine Tasche. Gebt sie eurer
Mutter; sie wird wissen, was es ist und was sie damit tun
soll.«
»Still«, sagte Lehr. »Ruh dich aus.«
Stattdessen schloss sie die linke Hand um seine.
»Jes«, sagte sie und streckte die freie Hand aus. »Komm und nimm
meine Hand. Und jetzt hört ihr beide zu.« Aber sie sagte nichts
mehr, sondern entsandte ihre Magie durch ihn wie eine Flamme, die
ihn beinahe bis zum Schmerz wärmte, aber nicht ganz. Jes’
verblüffte Miene sagte Lehr, dass sie mit ihm das Gleiche
tat.
»Jetzt seid ihr sicher«, sagte sie schließlich ein
wenig kurzatmig. »Die Seuche kann euch nicht töten oder von euch
auf andere übertragen werden. Mehr kann ich nicht tun. Wenn ihr
geht, schließt das Tor. Zwei Wochen, bevor es sicher ist, die Stadt
wieder zu betreten. Sorgt dafür. Haltet die Menschen fern.«
»Ich weiß wie«, versprach Lehr. »Ich kann dafür
sorgen, dass zwei Wochen lang niemand hierherkommt.«
»Vorsichtig.«
»Immer, Großmutter«, sagte er.
Sie drückte seine Hand, aber sie sprach nicht mehr.
Einen Augenblick später spürte er, wie sie sich entspannte und
einschlief.
Jes säuberte den Karis,
während Lehr die alte Frau im Arm hielt. Er fand irgendwo frisches
Bettzeug - Lehr fragte nicht, wo. Dann legte Lehr sie in ihren
Karis und blieb bei ihr sitzen.
Jes legte die Hand auf seine Schulter, dann ließ er
die beiden allein.
Als es auf den Abend zuging, ging Lehr nach
draußen, um nach Seide zu sehen, aber sie war bereits abgesattelt,
gestriegelt und gefüttert und befand sich auf einer kleinen Koppel,
die der Zaunhöhe nach zu schließen gewöhnlich Ziegen beherbergte.
Jes war nirgendwo zu sehen, also kehrte Lehr zu Brewydd
zurück.
Sie hatte ihn gerettet, als er bis in die Seele
verwundet gewesen war.
Er hatte Menschen getötet. Er hatte sich im Dunkeln
an sie angeschlichen und ihnen die Kehle durchgeschnitten, bevor
sie auch nur gewusst hatten, dass er da war. Er hatte sie
kaltblütig umgebracht, hatte jede Bewegung bereits geplant. Es war
kein ehrlicher, gerechter Kampf gewesen, denn das hatte er sich
nicht leisten können - nicht, wenn der Preis im Leben seiner Mutter
bestand.
Danach hatte Brewydd ihn unter ihre Fittiche
genommen und ihm beigebracht, was es bedeutete, ein Jäger und ein
Mensch zu sein - und er war ziemlich sicher, dass sie auch etwas
von ihrer Heilkunst auf seine Seele ausgeübt hatte. Unter ihrer
ruppigen Art und scharfen Zunge lag ein weiches Herz.
»Hier«, sagte Jes.
Lehr blickte auf und nahm das trockene Fladenbrot,
das Jes ihm reichte. Es stammte aus ihrem Gepäck, nicht aus dieser
Stadt. Lehr biss ein Stück ab und schluckte. »Wo bist du
gewesen?«
»Ich habe mich nach Überlebenden umgesehen«,
berichtete Jes mit abgewandtem Blick. »Wir sollten keine
Überlebenden hierlassen. Aber alles ist tot. Menschen und
Tiere.«
»Ich werde sie nicht hierlassen«, sagte Lehr. Er
sprach nicht aus, dass sie starb, oder dass es eine sinnlose
Grausamkeit wäre, sie zu bewegen. Jes würde das wissen.
»Ich warte mit dir«, sagte sein Bruder und setzte
sich auf den Boden.
Brewydd erwachte nicht mehr, sondern driftete
irgendwann in der Nacht davon, als Lehr döste.
Jes fand eine Schaufel und half Lehr, neben dem
Ahornbaum ein Grab auszuheben. Lehr wickelte sie fest in ihr
Bettzeug und legte sie hinein.
Jes stand neben ihm, als er mit Zuschaufeln fertig
war. »Irgendwo«, sagte er, »fliegt eine neue Lerche.« Er drückte
Lehrs Nacken liebevoll, ließ ihn aber schnell wieder los. »Wir
müssen gehen, bevor andere kommen.«
Lehr sattelte Seide und ging neben ihr und Jes her,
bis sie zu den Toren kamen. Dann schickte er Jes mit der Stute
weiter, während er die Tore von innen schloss und verbarrikadierte.
Von dieser Seite aus hinüberzuklettern war einfacher, und er ließ
sich schon bald neben Jes auf den Boden fallen.
Er hob beide Hände zu den Mauern und kümmerte sich
als Erstes um den leichteren Teil. Mauern wurden gebaut, um Leute
fernzuhalten, und das verstärkte er mit seiner Macht. Niemand würde
imstande sein, über oder durch diese Mauern zu gelangen, bis die
Energie, die Lehr hinterließ, verschwunden war, und das würde
wahrscheinlich einen Monat oder länger dauern.
Das Tor erwies sich als schwieriger. Als er fertig
war, waren sowohl die Stute als auch Jes ein wenig
ungeduldig.
»Zumindest gibt es nur dieses eine Tor«, sagte
Lehr, als er schließlich zufrieden war. Die Mauer hatte ihm das
gezeigt.
»Mauern und Tore«, sagte Jes. »Warum, Jäger?«
»Weil Jäger Fallen stellen.« Er hatte Jes’ knappe
Worte problemlos deuten können. Dann stieg er müde in den Sattel.
Er tätschelte Seide entschuldigend den Hals, weil er das so
ungeschickt getan hatte. »Brewydd sagte, dass Zäune, Mauern,
Tore, Schlösser und Türen mir gehorchten, weil sie Dinge hinter
sich festhalten und damit unter meine Weisung fallen.«
»Ja, Jäger fangen einen Teil ihrer Beute mit der
Hilfe von Fallen«, sagte Jes nachdenklich.
Lehr lenkte Seide auf den Weg nach Hause, wobei er
sich darauf konzentrieren musste, im Sattel zu bleiben. Er hatte in
der vergangenen Nacht nicht viel geschlafen, und die Magie, die er
heraufbeschworen hatte, hatte ihn erschöpft.
»Die Tasche«, sagte er plötzlich erschrocken. »Hast
du die Tasche geholt, die Brewydd Mutter schicken wollte?«
»Ja«, sagte Jes. »Eine Tasche mit Mermori. Die von Rongier dem Bibliothekar und
andere, die zu Benroln gekommen waren. Insgesamt fünf. Mutter wird
nicht froh darüber sein. Sie hat schon zu viele von ihnen.«
Die Sonne war warm, und Lehr musste sich
anstrengen, um auch nur die Augen aufhalten zu können. Seine Lider
brannten, und der Hals tat ihm weh.
»Geh und schlafe ein bisschen«, sagte der Hüter an
Seides Schulter. »Jes und ich werden auf dich aufpassen. Du
brauchst nicht mehr zu tun, als zu schlafen.«
»Ich bin krank«, stellte Lehr überrascht
fest.
»Ja«, sagte der Hüter. »Ruh dich aus.«