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»Kein Wunder, dass er in
dieser götterverlassenen Gegend lebt. Wenn es in der Nähe einen
guten Schmied gäbe, würde er verhungern«,
sagte Benroln säuerlich, während sein kräftiger Fuchs mit dem
kleinen Pferd, das Tier ritt, Schritt hielt. Brewydd hatte sich mit
Tiers Segen entschieden, auf Scheck ins Lager zurückzureiten. Lehr
hatte die Heilerin zu den Pferden zurücktragen müssen, so erschöpft
war sie gewesen, aber die Verletzten würden sich wieder
erholen.
»Nach hiesigen Maßstäben ist seine Arbeit gut
genug«, erwiderte Tier. »Du kannst von einem Mann, der überwiegend
Nägel und Pflugscharen herstellt, nicht die Künste eines
Waffenschmiedemeisters erwarten. Wenn du um einen Pflug gebeten
hättest, wärest du sicher zufriedener gewesen.«
»Nur, dass wir keinen Pflug brauchen«, knurrte
Benroln. »Und auch keine Nägel. Aber beides hätte uns mehr genutzt
als drei Paar schlecht austarierte Messer mit klotzigen
Griffen.«
»Dann kann euer eigener Schmied das Metall nehmen,
um etwas anderes daraus zu machen«, tröstete ihn Tier. »Du weißt
ebenso wie ich, dass der echte Vorteil dieses Tages darin besteht,
dass du - wie jeder andere Reisende - willkommen sein und gerecht
behandelt werden wirst, wenn du das nächste Mal herkommst.«
»Beschwert Benroln sich immer noch?« Seraph lenkte
ihr Pferd an Tiers Seite. Sie sah Benroln streng an. »Wenn du
wirklich einen guten Handel gewollt hättest, dann hättest du dafür
gesorgt, bevor wir den Mahr töteten und Brewydd die Verwandten des
Schmieds heilte. Danach hast du bekommen, was er dir geben wollte,
und du solltest dankbar dafür sein.«
Benroln murmelte etwas und ließ sich zurückfallen,
um mitleidigere Zuhörer zu suchen.
»Diese Messer sind gar nicht so schlecht«, sagte
Tier. »Sie entsprechen nur einfach nicht den Maßstäben des
Clanschmieds.«
Seraph sah ihn forschend an. »Was ist los?«
»Meine Knie«, log er. Sie sah mit diesem
klaräugigen Blick wirklich zu viel. »Aber sie werden bald wieder in
Ordnung sein.«
Er würde sie verlieren, dachte er. Sie würde noch
eine Weile bei ihm bleiben, weil die Kinder sie brauchten und weil
sie ihm ihr Wort gegeben hatte. Aber die Jungen waren bereits junge
Männer und ihre Tochter kein hilfloses Kind mehr. Wie lange würde
seine Liebe sie von dem Leben fernhalten können, zu dem sie geboren
war?
Sie war zu einer Frau geworden, die mit der
Verantwortung fertig wurde, vor der sie eigentlich hatte flüchten
wollen, als sie zu ihm gekommen war. Sie war ein Rabe, und er
glaubte vielleicht zum ersten Mal zu verstehen, was das
bedeutete.
»Wir können eine Weile Rast machen, damit du deine
Knie ausruhen kannst«, sagte Seraph. »Brewydd hätte wahrscheinlich
auch nichts gegen eine Pause.«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Brewydd ist müde,
aber sie muss einfach nur auf Scheck sitzen, bis wir wieder im
Lager sind. Was meine Knie angeht … ich bin heute einfach zu viel
gelaufen. Sie werden wieder heilen. Es macht im Augenblick keinen
Spaß, aber es ist zu ertragen.«
Ganz und gar unerträglich war, dass er keine
Möglichkeit sah, Seraph zu halten, ohne dass es sie zerstörte. Im
Vergleich
dazu waren seine Knie nichts. »Es kommt schon alles wieder in
Ordnung.«
Am nächsten Vormittag erreichten sie einen
Kreuzweg, und Benroln ließ alle anhalten. Sobald das passiert war,
ging er direkt zu Tier und Seraph.
»Wir werden zur südlichen Abzweigung gerufen«,
sagte er angespannt.
Seraph lächelte ihn an. »Ist das das erste
Mal?«
Benroln nickte ruckartig.
»Einige Anführer vernehmen nie einen solchen Ruf«,
sagte sie, dann warf sie Tier einen Blick zu und erklärte: »Wenn
die Hilfe des Clans gebraucht wird, weiß der Clanführer das oft.
Meinem Bruder ging es ebenso. Er sagte, es sei wie ein Flüstern
oder wie eine Schnur, an der gezogen wird.«
»Eine Schnur«, sagte Benroln, der ein wenig errötet
war. »Sie zieht an meinem Herzen. Mein Vater sagte, sein Vater habe
es ebenfalls gekannt - aber nie wirklich daran geglaubt.«
»Also geht«, sagte Tier. »Wir wenden uns weiter
nach Westen. Es ist jetzt nicht mehr weit.«
Benrolns Gesicht verlor seinen abwesenden Ausdruck.
»Ihr müsst mitkommen. Ohne euch sind es nur die Heilerin und ich.
Brewydd sagt, es gibt einen neuen Schatten.«
Tier sah sich um. »Ich sehe hier viele Leute. Du
willst doch sicher nicht jeden, der keine Weisung hat, als nutzlos
abtun?«
Benroln schnaubte frustriert. »Du weißt, was ich
meine.«
Tier nickte. »Ja. Aber im Augenblick passen meine
Verwandten, die überhaupt keine Magie haben, auf meine kleine
Tochter auf. Als meine Söhne den Schatten jagten …«
»Wir wussten nicht, dass er der Schatten war«, warf
Seraph ein.
»Also gut«, gab Tier nach. »Aber selbst, wenn er
nicht wie der namenlose König war, trug er doch die Gewänder
eines Meisters des Geheimen Pfads, also muss er ein Zauberer
gewesen sein. Was bedeutet, dass er Reisende tötete und ihre
Weisungen stahl, wie es auch die anderen taten. Er wird nicht froh
darüber sein, dass wir seine Arbeit vernichtet haben - und ich habe
den unangenehmen Verdacht, dass er vor allem mich dafür
verantwortlich macht, obwohl ich den größten Teil des Kampfs in
Ketten verbrachte. Benroln, meine Tochter Rinnie sitzt in Redern
wie der Köder in einer Bergkatzenfalle. Ich werde sie nicht länger
allein lassen als unbedingt nötig.«
»Woher soll er denn von deiner Tochter wissen? Der
Zauberer, Schatten oder nicht, befand sich in Taela - das ist weit
entfernt von Redern.«
»Der Pfad hat unsere Familie von jemandem
beobachten lassen«, erwiderte Tier und verspürte erneut einen
Anflug von Zorn, wie er ihn schon empfunden hatte, als er es
erkannt hatte. Was, wenn sie beschlossen hätten, nicht ihn zu
entführen, sondern eines der Kinder? Was, wenn er gestorben wäre?
Hätte der Pfad sich die Kinder eins nach dem anderen geholt? Der
Gedanke verstärkte sein Bedürfnis, seine Familie zusammenzuhalten,
noch mehr - er wollte sie alle an einem Ort haben, wo er sie im
Auge behalten konnte. Er musste nach Redern gehen.
»Er weiß von Rinnie«, sagte Tier entschlossen. »Es
tut mir leid, Benroln, aber ich werde sie nicht aufs Spiel
setzen.«
»Du wirst einen Weg finden zu tun, wozu du gerufen
wurdest, auch wenn wir nicht bei dir sind«, sagte Seraph
bestätigend.
Hennea, der andere Rabe, gehörte ebenfalls nicht zu
Benrolns Clan, sondern war in Redern zu Seraph gekommen und dann
zusammen mit Tiers Familie nach Taela, der Hauptstadt des
Kaiserreichs, gereist, um ihn zu retten. Sie hatte keine echte
Verbindung zu ihm.
»Vielleicht geht Hennea ja mit«, sagte er also zu
Benroln.
Jes war näher gekommen, um nachzusehen, warum sie
angehalten hatten, und Gura folgte ihm. Der große Hund hatte sie
kaum aus den Augen gelassen, nachdem sie den Nebelmahr getötet
hatten, und rannte von einem seiner Leute zum anderen - ein
bisschen wie Jes.
Bevor Benroln eine Antwort auf Tiers Vorschlag
geben konnte, schüttelte Jes den Kopf und erklärte mit fester
Stimme: »Hennea bleibt bei uns.«
Tier zog die Brauen hoch, ließ sich aber ansonsten
die Sorge nicht anmerken, die er wegen der aufkeimenden Beziehung
zwischen Hennea und Jes verspürte. »Hennea ist ein Rabe und wird
tun, was sie will, Jes. Ich dachte, das wüsstest du, nachdem du bei
deiner Mutter aufgewachsen bist. Warum suchst du Hennea nicht, und
wir sehen, was sie dazu sagt?«
Unterwegs hielt Hennea sich für gewöhnlich im
hinteren Teil des Clans. Dort fand Jes sie auch diesmal, zusammen
mit etwa einem halben Dutzend anderer und mit Lehr, der nach der
Minze und den Kräutern roch, die er offenbar für die Heilerin
gesammelt hatte.
Lehr blickte auf, sah Jes und fragte: »Warum haben
wir haltgemacht?«
Jes spürte das Gewicht der allgemeinen
Aufmerksamkeit, und er spürte auch die Furcht der anderen,
verbunden mit Neugier. Er mochte das nicht, ebenso wenig wie der
Hüter. Also senkte er den Blick und versuchte, die anderen nicht
wahrzunehmen und zu ignorieren, wie sie zurückwichen.
»Benroln wird nach Süden gerufen«, sagte er zum
Boden. »Wir ziehen weiter nach Redern, weil Papa befürchtet, der
Schatten könnte versuchen, Rinnie wehzutun.«
Der Hüter war der gleichen Ansicht wie Papa. Er
glaubte
ebenfalls, dass der Mann, den sie gejagt hatten, ein Schatten
gewesen war und nicht nur umschattet.
Jes hörte Henneas erste Worte nicht, aber der Rest
- »Ich denke, ich sollte mit Benroln gehen« - genügte, um den Hüter
an die Oberfläche zu bringen.
»Nein«, sagte Jes, aber mehr konnte er über das
Knurren des Hüters hinweg, das andere nicht mitbekamen, nicht
herausbringen.
»Sie kommt mit uns! Sie gehört
mir!«
Jes stimmte dem Hüter zwar zu, aber er war sicher,
dass es nicht gut wäre, wenn er es Hennea direkt sagte. Also
versuchte er, ihn zu beherrschen. Es half nicht gerade, dass der
Hüter sich bereits erhoben hatte und seine eisige Präsenz die Angst
von allen anderen noch vergrößerte. Ihre Gefühle rauschten um ihn
herum wie der Fluss bei einem Unwetter, bis Hennea ihm die Hand auf
den Arm legte und damit die kühle Erleichterung brachte, die so
sehr Teil von ihr war. Er konnte die anderen immer noch spüren,
aber Henneas Gegenwart schirmte ihn irgendwie gegen das Schlimmste
ab.
»Warum bringst du ihn nicht von allen weg?« Auch
Lehrs ruhige Stimme machte es besser. »Du wirst keine vernünftige
Antwort von ihm erhalten, wenn so viele Leute in der Nähe
sind.«
Hennea war wohl der gleichen Ansicht, denn Jes
folgte ihr schon bald durch die Bäume. Sobald sie außer Sichtweite
der anderen waren, ebbten deren Gefühle zu einem Murmeln ab, aber
Hennea führte ihn noch weiter.
»Du musst mit uns kommen. Ich brauche dich«, sagte
er.
Sie tätschelte seinen Arm - eine mütterliche Geste
-, dann verschränkte sie ihre Arme und wandte sich ab. Sie fand
etwas scheinbar Interessantes an der Rinde eines Baums und
verfolgte die Muster der rauen Oberfläche mit einem Finger.
»Es wird dir gut gehen«, sagte sie dem Baum, obwohl
Jes annahm, dass sie eigentlich mit ihm sprach. »Es ist nicht
nötig, dass ich mit dir komme. Ich habe bezahlt, was ich deiner
Mutter schuldig war, weil ich sie dazu gebracht hatte, Volis den
Priester zu töten. Und wir haben dafür gesorgt, dass der Geheime
Pfad keine Reisenden mehr umbringen wird, um ihre Weisungen zu
stehlen.«
Jes starrte ihren Rücken an. Bedeutete er ihr denn
gar nichts? Wahrscheinlich. Sie war einfach nur freundlich zu ihm
gewesen, hatte ihn gerettet und dabei geküsst. Zweifellos war er
nicht der einzige Mann, den sie je geküsst hatte.
Und wie konnte sie denn auch etwas für ihn
übrighaben? Hatte er vergessen, was er war? Ein Wahnsinniger, der
zwischen einem Einfältigen und einem wütenden Ungeheuer hin und her
schwankte. Er sollte froh sein, dass sie nicht schreiend
davonlief.
»Lass mich mit ihr
reden.«
Um so etwas hatte der Hüter ihn noch nie gebeten;
bisher hatte er ihn immer einfach übernommen. Jes zögerte und
erinnerte sich an dieses erste besitzergreifende Aufbrüllen. Aber
der Hüter konnte sich bei den seltenen Gelegenheiten, wenn er ruhig
blieb, besser ausdrücken als Jes. Vielleicht würde er sie ja
überreden können.
»Wir können sie nicht zwingen«, sagte er.
Vielleicht hätte er es nicht laut aussprechen sollen, denn Hennea
schien nicht froh zu sein, als sie sich umdrehte und ihn anstarrte,
aber der Hüter hörte nicht so gut auf Jes, wie Jes auf den Hüter
hörte. Jes wollte nicht, dass der Hüter alles noch schlimmer
machte.
»Bitte. Sie muss mit uns
kommen.«
Mit einem Seufzen ließ Jes sich vom Hüter
überwältigen.
»Du kannst mich nicht zwingen«, sagte Hennea.
»Nein«, stimmte er zu und trat ein Stück zurück,
weil er befürchtete, ihr Furcht einzujagen - obwohl sie vollkommen
gelassen
wirkte. Er wollte ihr keine Angst machen. »Was hast du jetzt vor,
nachdem du deine Schuld an meine Mutter abbezahlt hast und der Pfad
zerstört wurde?«
»Ich werde den Schatten suchen«, sagte sie. »Es
könnte sein, dass der Mann, den du durch die Gänge des kaiserlichen
Palasts verfolgt hast, nur ein weiterer Solsenti-Zauberer ist. Aber wenn nicht, wäre es eine
Katastrophe, ihn frei herumlaufen zu lassen.«
Der Hüter senkte die Lider und versuchte, nicht
einschüchternd zu wirken. Er hatte nicht viel Übung in solchem
Verhalten.
»Mein Vater sagte zu Benroln, der Schatten werde
sich an uns für die Zerstörung des Geheimen Pfads rächen wollen«,
berichtete er. »Wenn du ihn finden willst, kannst du das
wahrscheinlich am besten in unserer Nähe tun.«
»Oder bei Benroln und seinen Leuten, wenn der
Clanführer seinem Ruf folgt«, sagte sie.
Aber sie klang nicht mehr so überzeugt wie
zuvor.
»In den Papieren, die der Pfad zurückließ, gab es
keinen Hinweis auf die Identität des Schattens«, sagte der Hüter.
»Kein Diener wusste etwas, und die Angehörigen des Pfades, die der
Kaiser verhören ließ, wussten ebenso wenig. Nur die Zauberer hätten
vielleicht sagen können, wer er ist, doch sie wurden alle getötet.
Es könnte noch Aufzeichnungen in den Tempeln geben, aber der Kaiser
vermochte gegen die Tempel der Fünf Götter in Taela nichts zu
unternehmen, denn er war nicht imstande, sie offiziell mit dem Pfad
in Verbindung zu bringen. In Redern jedoch gibt es einen Tempel,
den du durchsuchen könntest.«
»Das haben wir bereits getan«, erwiderte
Hennea.
»Ach ja? Ich dachte, zwei erschöpfte Raben seien
alles durchgegangen, vor allem, um die Edelsteine mit den Weisungen
zu finden und alles andere, was Dorfleuten schaden könnte, die
den Tempel auf eigene Faust erforschten. Hast du Volis’ gesamte
Korrespondenz gelesen? Seine Tagebücher? Hast du damals schon nach
einem neuen Schatten gesucht?« Er kannte die Antworten auf diese
Fragen - und Hennea ebenfalls, denn sie antwortete nicht.
»Und dann sind da die Edelsteine des Pfads«,
murmelte er und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie er
sich freute. Wie erleichtert er war. Er würde sie beschützen,
ebenso wie er seine Familie beschützte. Er hätte es nicht ertragen
können, wenn sie in Gefahr wären und er sie nicht alle beschützen
könnte. Sie mussten zusammen bleiben. »Seraph wird ihr Bestes tun,
um ihre Geheimnisse zu ergründen und die Weisungen zu befreien, die
an die Steine gebunden wurden. Sie wird sie dir nicht geben - ich
kenne sie gut genug, um zu verstehen, dass sie diese Aufgabe
niemals einer anderen überlassen würde, selbst wenn du das nicht
siehst. Es ist ihr zu wichtig.« Und dir
ebenfalls, dachte er.
Sie nickte knapp. »Du hast recht«, sagte sie ernst.
»Ich werde mitkommen. Aber ich werde nicht in Redern bleiben, Jes.« Sie rieb ihr Gesicht mit den Händen,
und es kam Jes so vor, als wische ihre Geste ein wenig von ihrer
Fassung weg. »Ich kann für dich nicht mehr sein, als ich bin. Du
bist so jung. Du wirst eine andere finden. Ich war …« Sie hielt
inne und holte tief Luft. »Ich war Volis’ Mätresse, Jes.« Ihre
Stimme zitterte, als sie den Namen des toten Priesters aussprach,
obwohl Jes sah, dass sie ihr Bestes tat, kühl zu bleiben. Der
Priester hatte Glück, schon tot zu sein.
Sie hatte seine Reaktion wohl gespürt, denn sie
fuhr schnell fort. »Ich habe mich dazu entschieden, weil ich es für
den besten Weg hielt herauszufinden, wie ich mein Volk retten
könnte. Ich würde es wieder tun. Ich bin nicht wie deine Mutter,
die die Familie über ihre Pflicht stellt. Ich bin in erster Linie Rabe - und Raben sind keine
guten Gefährten. Starke
Gefühle sind für uns beinahe ebenso gefährlich wie für Hüter. Ich
habe mich bewusst entschieden, nicht zu lieben, Jes. Niemals. Ich
kann es mir nicht leisten. Du hast jemanden verdient, der dich
liebt.«
Der Hüter kam näher, aber sie blieb stehen, selbst
als er eine Hand an ihren Hals legte und die andere an ihre
Schulter, um sie festzuhalten. Er senkte den Kopf und küsste sie -
zunächst sanft, obwohl das nicht in seinem Wesen lag. Dann ließ er
Jes zurückkehren und den Kuss beherrschen, bis ihre Schulter unter
seiner Hand nachgiebiger wurde und sie den Mund öffnete.
Jes genoss die Berührung, aber er zog sich zurück,
bevor Henneas wirre Gefühle den Bann des Kusses brachen und ihn
komplizierter machten.
Er schaute sie nicht an, wollte nicht versuchen,
ihre Miene zu deuten. Er wusste nicht, was sie in ihm sah, er
wusste selbst nicht, was er empfand.
Sein Vater würde sagen, ihr Gespräch habe in einem
Unentschieden geendet. Er meinte auch, dass so etwas manchmal das
beste Ergebnis war, auf das man hoffen konnte. Jes war ziemlich
sicher, dass es sich um eine dieser Gelegenheiten handelte.
Also schwieg er und machte ihr Platz, damit sie ihm
dorthin vorangehen konnte, wo der Clan wartete. Er folgte ihr und
sorgte dafür, dass ihr nichts zustieß.
Tier war unruhig, weil sie langsamer vorankamen,
nachdem sie Benroln und seine Leute verlassen hatten. Das hatte vor
allem damit zu tun, dass Seraph häufig auf einer Rast bestand, um
Tiers Knie zu schonen. Brewydd war nicht so streng gewesen. Am
Abend verbrachten Seraph und Hennea weiterhin Stunden in den
illusionären Überresten der Häuser der Zauberer von Colossae, wie
sie es schon zusammen mit Brewydd
getan hatten, seit sie Taela verlassen hatten. Sie benutzten
Seraphs Mermora, das Haus, das einmal
Isolda der Schweigsamen gehört hatte.
Tier hatte seit Jahren von den Mermori gewusst, aber Seraph hatte selten mehr
getan, als sich die anmutigen silbernen Gegenstände anzuschauen,
die für ihn wie kleine, filigrane Dolche aussahen. Sie hatte
Isoldas Haus in seiner Gegenwart ein- oder zweimal
heraufbeschworen, aber das ließ das plötzliche Auftauchen eines
Hauses mitten in der Wildnis nicht weniger fantastisch
wirken.
Sie suchten nach einer Möglichkeit, die Weisungen
zu befreien, die der Pfad an die Edelsteine gebunden hatte.
»Es wäre einfacher gewesen«, sagte Seraph ihm eines
Abends, »wenn der Pfad tatsächlich geschafft hätte, was er wollte.
Wäre es ihnen gelungen, die Weisungen vollkommen von den Reisenden
zu trennen, die sie getötet hatten, dann könnte man die Edelsteine
jetzt vielleicht einfach zerstören, um die Weisungen zu
befreien.«
»Aber das geht nicht mehr.«
Sie schmiegte sich an seine Seite, um es bequemer
zu haben. Er sagte ihr nicht, dass ihr Ellbogen sich in seine
Rippen bohrte, wo sie immer noch ein wenig empfindlich waren, denn
dann würde sie sich sofort wieder zurückziehen. Sie würde sich
schon noch ein wenig bewegen, bevor sie einschlief.
»Nein«, bestätigte sie gähnend. »Brewydd sagte, es
habe immer nur eine eingeschränkte Anzahl von Weisungen auf der
Welt gegeben. Wenn ein Mensch mit einer Weisung stirbt, wird diese
Weisung geläutert und geht an einen anderen über. Aber wegen der
Einmischung des Pfads sind diese Weisungen nicht geläutert
worden.«
»Wie meinst du das?«, fragte er. Diese
spätnächtlichen Gespräche hatten ihm gefehlt. Nach ihrem Aufbruch
aus Taela war er am Abend immer zu müde gewesen, um nicht sofort
einzuschlafen. Er war auch an diesem Abend müde, aber nicht so
erschöpft, dass er das Bewusstsein verlor, sobald er aufhörte, sich
zu bewegen.
»Die meisten Edelsteine funktionieren nicht
richtig«, sagte Seraph. »Es war vorgesehen, dass ein Zauberer, wenn
er den Edelstein an der Haut trug, die Kräfte der Weisung einsetzen
konnte, als wäre er derjenige, von dem sie diese gestohlen hatten.
Brewydd denkt, dass sie die Weisungen zu früh gestohlen haben,
bevor sie durch den Tod ihres vorherigen Trägers geläutert
wurden.«
»Also werden die Steine sozusagen von Gespenstern
heimgesucht?«, fragte Tier.
Seraph nickte. »Das nehmen wir jedenfalls an. Volis
sagte, dass keiner der Heilersteine richtig arbeite.«
»Würde es die Weisungen nicht befreien, wenn ihr
die Steine zerbrecht?«
Seraph zuckte die Achseln. »Das könnte passieren.
Aber die Weisungen verfügen immer noch über Einzelheiten der
Erfahrung des ehemaligen Besitzers - vielleicht sogar seiner
Persönlichkeit. Brewydd dachte, das könnte sie davon abhalten, sich
mit einer neuen Person zu verbinden, oder, was noch schlimmer wäre,
dazu führen, dass eine Weisung sich eher auswirkt wie die
Besudelung durch einen Schatten.« Sie holte tief Luft. »Und
vielleicht wie die Weisung des Hüters.«
»Dann ist klar, dass du sie nicht einfach zerstören
kannst.« Tier strich seiner Frau übers Haar.
»Es könnte am Ende doch noch dazu kommen«, sagte
Seraph. »Aber im Augenblick will ich ein solches Risiko einfach
noch nicht eingehen.«
Die Berge hatten Vor- und Nachteile, dachte Tier
ein paar Tage später. Sie bedeuteten, dass sie näher an ihrem
Zuhause waren, aber sie verlangsamten die kleine Gruppe auch.
Jes und Lehr hatten es übernommen, zusammen mit
Gura den Weg auszukundschaften und sich nach Wild und Banditen
umzusehen - was es den anderen überließ, ihnen zu folgen: zwei
Frauen und ein Krüppel mit seinem alten Schlachtross, dachte Tier
säuerlich. Auf der Reise mit Benrolns Clan hatte er sich daran
gewöhnt zu reiten, während die anderen zu Fuß gingen, aber jetzt,
wenn ihn nur zwei Frauen begleiteten, störte es ihn wieder
mehr.
Als sie zu einem relativ ebenen Teil des Weges
kamen, schwang er ein Bein über Schecks Rücken und ließ sich mit
einem Stöhnen auf den Boden fallen.
»Was machst du denn da?« Seraph stützte die Hände
auf die Hüften und sah ihn verärgert an.
»Ich werde ein bisschen laufen«, erwiderte er und
ließ seinen Worten Schritte folgen.
»Brewydd hat dir doch gesagt, du sollst deine Knie
schonen.« Seraph hakte sich bei ihm unter und ging neben ihm
her.
»Das ist eine Woche her«, sagte Tier. »Ich gehe
nur, wenn der Weg eben ist. Scheck braucht ein wenig Rast.«
»Nein«, erwiderte sie störrisch. »Tier …« Sie
unterbrach sich. Dann fuhr sie leiser fort: »Ich weiß, ich mache
mir zu viel Gedanken. Aber ich kann diese Situation einfach nicht
ausstehen! Ich hasse es, dass du verletzt wurdest. Und ich hasse es
noch mehr, dass ich die Männer, die dafür verantwortlich waren,
erst verbrennen durfte, nachdem sie schon tot waren.«
Er steckte die Finger der linken Hand in ihre Zöpfe
und beugte sich vor, um sie auf den Mund zu küssen. »Du bist nicht
für alles verantwortlich, was geschieht, mein Rabe. Du kannst nicht
verhindern, dass jemandem von uns etwas zustößt oder wir sterben.
Das steht dir nicht zu. Und das solltest du lieber akzeptieren,
Liebste.«
Sie erwiderte zunächst nichts mehr, sondern
schmiegte sich nur enger an ihn, während sie weitergingen.
Aber als sie das Ende der ebenen Stelle erreichten
und Tier stehen blieb, um wieder in den Sattel zu steigen, sagte
sie laut: »Doch.«
»Doch was?«, fragte er schmerzerfüllt. Es war nicht
so schlimm gewesen zu gehen, aber wieder aufs Pferd zu steigen, tat
schrecklich weh. Sein linkes Knie wollte sich nicht genug beugen,
damit er den Fuß in den Steigbügel bekam, und sein rechtes Knie war
alles andere als froh, sein ganzes Gewicht tragen zu müssen.
Schließlich schaffte er es und konnte sich in den Sattel ziehen,
aber es war schwer.
Seraph wartete, bis er saß, bevor sie seine Frage
beantwortete. »Doch, es steht mir zu, für die Sicherheit von
anderen zu sorgen. Es ist, wozu ich erzogen wurde, und gehört zum
Rabesein.«
Er ließ Scheck still stehen und schaute auf seine
Frau hinab. Sie war stark, und die Götter allein wussten, wie
mächtig sie war. Das wusste er ja auch alles, aber in seinem Herzen
sah er, wie leicht man ihr wehtun konnte und wie sterblich sie war.
Seine Augen sahen eine Frau, die gerade halb so viel wog wie er
selbst oder einer ihrer Söhne.
Er liebte alles an ihr. Wenn sie kein Rabe wäre, so
wäre sie nicht seine Seraph. Nein, er würde diesen Teil von ihr
nicht ändern wollen, selbst wenn das möglich wäre, mochte es auch
bedeuten, dass sie ihre Pflicht wieder aufnehmen und den Hof
verlassen - ihn verlassen - musste. Aber es musste ihm nicht auch
noch gefallen.
»Ja?«, fragte er leise. »Mag sein. Aber diese
Geschichten sind so alt, Seraph. Älter als das Kaiserreich. Älter
als der Sturz des namenlosen Königs. Bist du sicher, dass du recht
hast? Vielleicht hatten die Raben, die Eulen und alle anderen, die
eine Weisung haben, einmal eine andere Funktion. Vielleicht gibt es
einen besseren Grund, wieso Jes unter der Adlerklaue des Hüters
leidet. Ich hoffe das jedenfalls. Wenn der einzige
Grund darin bestand, dass ein paar dumme Zauberer zu dem Schluss
kamen, sie sollten ein Durcheinander anrichten, für das noch ihre
Kindeskinder und deren Kinder zahlen mussten, dann zahlt ihr alle
viel zu viel.«
Hennea blieb stehen, hob einen Stein auf, der ihr
gefiel, und steckte ihn in die Tasche. Schwere Wolken hingen am
Himmel, aber es regnete noch nicht. Vielleicht sollte sie zum Weg
und zu Tier und Seraph zurückkehren.
Wenn Jes und Lehr beide vorangingen, versuchte
Hennea Seraph und Tier so oft allein zu lassen, wie sie konnte.
Zwischen den beiden bestand eine Spannung, mit der sie selbst
zurechtkommen mussten - und allein unterwegs zu sein, störte Hennea
nicht. Sie war gern für sich, weil ihr das Zeit zum Nachdenken
ließ.
Sie hatte genug Zeit gehabt, um zu dem Schluss zu
kommen, dass es richtig gewesen war, bei Jes’ Familie zu bleiben.
Ein Mann, der seine Menschlichkeit im Austausch gegen Macht hingab,
würde den Schlag, den Tier seinen Plänen versetzt hatte, nicht
vergessen. Früher oder später würde der Schatten Tier und seine
Familie finden, und Hennea hatte vor, dann ebenfalls anwesend zu
sein. Immerhin bestand darin der Sinn ihres Lebens - die Schatten
fernzuhalten.
Ihre Entscheidung war richtig gewesen, aber nicht
für Jes. Nicht für Jes. Sie würde ihm am Ende wehtun.
Sie nahm den Stein aus der Tasche und warf ihn so
fest sie konnte. Er traf einen Baum, prallte von der Rinde ab und
flog in die Zweige, bis er schließlich mit einem dumpfen Geräusch
auf den Boden fiel.
»Was ist denn?«, fragte Jes, und sie zuckte
zusammen. Hüter waren manchmal so.
»Nichts«, sagte Hennea, ohne ihn anzusehen. »Ich
dachte
nur, es wäre vielleicht Zeit, zu deinen Eltern zurückzukehren. Sie
werden sich schon fragen, wo wir stecken.«
»Ich bin nicht mein Vater«, sagte Jes. Er war jetzt
nahe genug, dass sie seine Körperwärme an ihrer Haut spüren konnte.
»Ich weiß nicht, wann du lügst.«
»Immer«, erwiderte sie. Das war die Wahrheit, aber
sie achtete darauf, unbeschwert zu klingen.
Langsam, sodass sie viel Zeit hatte auszuweichen,
lehnte sich Jes an ihren Rücken, legte auf Schulterhöhe einen Arm
um sie und zog sie an sich. Sie konnte spüren, wie sein Atem ihr
Haar bewegte, und schloss die Augen, um es noch besser fühlen zu
können. Es war lange her, seit jemand sie so berührt hatte. Die
Umarmung hatte nichts Sexuelles - wenn das der Fall gewesen wäre,
hätte sie sich von ihm gelöst. Aber den Trost, den er ihr bot,
konnte sie einfach nicht zurückweisen.
Tränen brannten ihr in den Augen, und sie wusste
nicht einmal, warum.
»Du bist müde«, flüsterte Jes ihr ins Ohr und zog
sie fester an sich.
»Seraph und ich sind lange aufgeblieben«, sagte
sie.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht schläfrig.
Müde.«
Sie war es tatsächlich müde, in einem vergeblichen
Kampf zu stehen, der scheinbar nie ein Ende fand. Es war ihnen
gelungen, den Pfad zu besiegen - eine Aufgabe, die ihr unmöglich
vorgekommen war, als sie mit Seraph und ihren Söhnen nach Taela
aufgebrochen war. Sie hatten es irgendwie geschafft, aber es lag
kein Triumph in einem Sieg, nach dem der Schatten immer noch lebte.
Und selbst wenn es ihnen gelingen sollte, diesen Schatten zu
vernichten, würde sich ein anderer erheben. Nach zehn Jahren oder
ein paar Jahrhunderten würde es einen anderen machtgierigen
Zauberer geben, der ewig leben wollte. Was immer sie tat, es würde
nie genügen.
»Sehr müde«, stellte Jes fest und wiegte sie sanft.
»Still. Nicht weinen.«
Sie wollte sich umdrehen und sich in seinen Armen
verkriechen. Er hatte starke Arme, und sie fühlte sich bei ihm
sicherer als je zuvor. Nur bei Jes. Sie liebte seinen Geruch nach
Wald und Erde. Sie liebte …
Sie wollte Jes nicht wehtun.
Also löste sie sich von ihm und drehte sich zu ihm
um. »Ich weine nicht. Es hat angefangen zu regnen.«
Er legte den Kopf schief, dann streckte er die Hand
aus und ließ ein paar vereinzelte Tropfen in seine Handfläche
fallen. »Mein Vater würde wissen, ob du lügst.«
Hennea wischte sich ungeduldig das Gesicht ab.
»Dann ist es ja gut, dass du nicht dein Vater bist.«
Sein Lächeln wurde strahlender, als er nickte.
»Besonders, weil meine Mutter sich ziemlich aufregen würde, wenn du
für meinen Vater empfinden würdest, wie du für mich empfunden hast,
als ich dich im Arm hielt.«
Er war Empath. Wie hatte sie das vergessen
können?
Sie wusste nicht, was ihre Miene zeigte, aber was
immer Jes sah, brachte ihn zum Lachen. Selbst als ihre Wangen
brannten, bemerkte ein Teil von ihr, wie Jes’ Lachen ihre kalte
Mitte wärmte. Und es verstärkte ihr Bedürfnis, ihn zu
berühren.
»Schaut euch das an«, sagte Tier und zeigte auf
einen Berggipfel. »Seht ihr diesen Gipfel? Ich würde ihn überall
wiedererkennen. Wir sind näher an Redern, als ich dachte.«
»Scheck geht seit etwa einer Stunde schneller«,
stellte Seraph fest, als die ersten Regentropfen fielen. »Ich
denke, wir sind höchstens eine Stunde von zu Hause entfernt.
Vielleicht weniger. Ich bin zuvor nur ein einziges Mal auf dieser
Straße unterwegs gewesen.«
Sie blickte zu ihrem Mann auf und lächelte in sich
hinein,
als sie seinen konzentrierten Ausdruck bemerkte. Es war Herbst
gewesen, als er Rinnie zum letzten Mal gesehen hatte - es war
länger als ein halbes Jahr her.
Von irgendwo an der Seite des Weges hörten sie Jes’
zu lautes, fröhliches Lachen. Äste bewegten sich und raschelten,
und Hennea kam auf den Weg hinaus. Sie wirkte ungewöhnlich
verstört.
Sie ging auf Seraph zu und drohte ihr mit dem
Finger. »Sag deinem Sohn, dass er zu jung für mich ist. Ich will
keine Kleinkinder, die gerade erst abgestillt wurden.«
»Sie mag mich, Mutter«, erklärte Jes, der Hennea
breit grinsend folgte.
»Das kann ich sehen«, bemerkte Tier. »Aber lass
mich sagen, Sohn, sie braucht Zeit, um ihr Gefieder wieder zu
glätten.«
Hennea warf Tier einen wütenden Blick zu. »Gerade
du solltest ihn nicht auch noch ermutigen.«
Seraph hatte nie von einem Hüter gehört, der stabil
genug gewesen wäre, an eine Liebesbeziehung auch nur zu denken. Es
gab so viele Probleme. Selbst andere zu berühren war schwierig -
wenn der Hüter schlief, war der Weisungsträger, der immer auch
Empath war, zu verwundbar, um anderen eine Berührung zu gestatten.
Wenn der Hüter ihn beherrschte, genügte die Aura der Gefahr, die
ihn umgab, um selbst die leidenschaftlichsten Geliebten
abzukühlen.
Aber Henneas Ausbildung als Rabe hatte ihr
gewaltige Selbstbeherrschung verliehen, die Jes vor ihren Gefühlen
zu schützen schien, sodass er ihre Berührung genießen konnte. Und
was den Hüter anging, so ließ Hennea sich offensichtlich nicht von
ihm einschüchtern.
Das machte Seraph Hoffnung
Während Tier und Hennea ein paar Worte wechselten,
beißend auf ihrer Seite und neckend auf seiner, beobachtete
Seraph Jes und freute sich an seinem Lachen, bis es ein
plötzliches Ende fand. Die Heiterkeit starb zuerst in seinen Augen,
aber dann verschwand sie vollkommen, und es blieb ein Gesicht
zurück, das aussah, als hätte es nie gelacht.
Bevor sie noch fragen konnte, was los war, kam Lehr
mit Gura aus dem Wald. »Papa, Mutter, etwas …«
Er wurde vom schrillen Wiehern eines Hengstes
unterbrochen. Scheck antwortete und bäumte sich dabei halb
auf.
»Immer mit der Ruhe«, sagte Tier, und da Scheck
seine Warnung losgeworden war, erlaubte der Wallach ihm, ihn wieder
zu beruhigen. »Was ist denn?«
In diesem Augenblick wurde der bisher sanfte Regen
zu einem heftigen Guss; Seraph zog unwillkürlich den Kopf ein. Als
sie aufblickte, stand mitten auf dem Weg ein Pferd vor ihnen.
Es war bleich wie der Tod - ein schmuddeliges
Rohweiß, das am Ende seines zerzausten Schweifs in Gelb überging.
Es sah vollkommen abgemagert aus, mit Raum für einen Finger
zwischen den Rippen und großen Höhlungen unter den eingesunkenen
Augen.
»Was ist los?«, fragte Jes. Seraph dachte zunächst,
dass er nur Tiers Worte wiederholte.
Aber dann antwortete das Pferd und sprach mit einer
Stimme, die so wild und schrecklich war wie das Unwetter.
»Kommt«, sagte es und lief dann zwischen die
Bäume.
Beide Jungen und der Hund verschwanden hinter ihm.
Scheck machte einen Schritt vorwärts, bevor Tier ihn aufhielt und
Seraph und Hennea ansah.
»Es ist der Waldkönig«, sagte Seraph, sobald sie es
selbst erkannt hatte. »Geh schon. Hennea und ich kommen so schnell
wir können.«
Er wartete nicht darauf, dass sie es zweimal
sagte.
»Das ist Jes’ Waldkönig?«, fragte Hennea, als sie
neben Seraph hinter Tier hereilte. »Nicht genau, was ich erwartet
hätte.«
»Das ist er selten«, stimmte Seraph zerstreut zu,
als sie versuchte, so schnell wie möglich durch das Unterholz nahe
dem Weg zu brechen.
»Werden wir ihnen folgen, oder weißt du, wohin sie
gehen?«
»Kannst du es nicht spüren?«, fragte Seraph. »Ich
habe nicht darauf geachtet, bevor es schlimmer wurde - aber dieses
Unwetter wurde heraufbeschworen.«
»Rinnie?«
»Es sei denn, es gibt noch einen anderen Kormoran
in der Nähe. Etwas stimmt hier nicht.«
Dann schwiegen sie. Seraph wandte all ihre
Aufmerksamkeit dem Klettern zu. Der kürzeste Weg nach Hause war
steil und zwang sie, langsamer zu werden, bevor sie auch nur die
Hälfte zurückgelegt hatten.
»Ich gehe zum Hof«, sagte sie atemlos zu Hennea.
»Es fühlt sich an, als wäre sie dort. Ich werde es sicherer sagen
können, wenn wir auf der Hügelkuppe sind.«
Hennea machte sich nicht einmal die Mühe zu
antworten.
Seraph blieb auf der Hügelkuppe stehen. Drunten lag
der Bauernhof, aber sie konnte ihn wegen der Bäume und dem dunkler
werdenden Himmel nicht erkennen. Sie hatte allerdings mehr als nur
die übliche Möglichkeit, sich umzuschauen.
Als Seraph und Tier auf den Bauernhof gezogen
waren, hatte Seraph als Erstes ringsumher einen Schutzzauber
ausgelegt. Der Hof lag so dicht an dem alten Schlachtfeld von
Schattenfall, dass es einfach gefährlich war, sich nicht vor den
Geschöpfen zu schützen, die der Schatten anzog. Im Lauf der
vergangenen zwanzig Jahre hatte Seraph die Kraft dieses
Schutzzaubers häufig erneuert.
Und hier auf der Hügelkuppe zog sich der
Schutzzauber entlang.
Seraph kniete auf den Kiefernnadeln nieder und
berührte die Fäden ihres Banns. Macht erfüllte und berauschte sie -
etwas Umschattetes versuchte, die Grenze genau in diesem Augenblick
zu überschreiten. Wie eine Spinne in ihrem Netz wartete Seraph,
verlangsamte ihren Atem und ließ sich von dem Schutzzauber mehr
verraten.
Er beruhigte sich einen Moment später wieder,
obwohl Seraph spürte, dass sich das Umschattete, das ihn berührt
hatte, immer noch in der Nähe aufhielt. Es gab im Schutzzauber
einige schwächere Bereiche, als hätte sie ihn nicht erst vor sechs
Monaten verstärkt: Ein oder mehrere Wesen hatten in ihrer
Abwesenheit versucht, den Bann zu durchbrechen.
Es donnerte, und beinahe sofort folgte ein Blitz,
dann kamen ein zweiter und dritter Blitz, bevor der Wind stärker
wurde, bis er schließlich heulte.
Seraph wusste, dass Rinnie in Gefahr sein musste,
und sie wollte nicht auf weitere Informationen warten, sondern
entsandte Macht entlang ihres Schutzzaubers, zog ihn fester, wie
ein Fischer es mit seinem Netz tun würde. Das genügte nicht, um die
beschädigten Bereiche vollkommen zu reparieren, aber es würde
halten, bis sie Zeit hatte, es besser zu machen.
Sie stand wieder auf und eilte den Hang hinunter
auf ihr Heim zu.
»Was hast du erfahren?«, fragte Hennea.
»Nicht viel, nur, dass etwas Um…« Seraphs Stimme
wurde von einem gequälten Heulen unterbrochen, das sich laut über
den Wind erhob.
»Ein Troll«, stellte Hennea fest.
Als Seraph wieder losrannte, schlug ihr das Herz
bis zum Hals.
Sie kamen ein Stück oberhalb des Bauernhauses aus
dem Wald, aber es sah auf dem Hof nicht so aus, wie Seraph ihn
verlassen hatte. Statt eines halb gepflügten Felds und eines leeren
Hauses gab es eine ganze Reihe von Zelten, und ihr Haus wurde von
Dutzenden von Laternen von innen und außen beleuchtet. Sie wollen
sich Mut machen, dachte sie, denn es war noch nicht dunkel genug,
als dass man wirklich eine Laterne gebraucht hätte, um etwas zu
sehen, obwohl es bei diesem Regen nicht lange dauern würde, bis die
Dunkelheit hier Fuß fasste.
Zu den Veränderungen, seit sie zum letzten Mal zu
Hause gewesen war, gehörte auch eine Menschenmenge, die offenbar
aus den Einwohnern des gesamten Dorfes bestand, und alle hatten
sich einem Troll zugewandt, der sich über dem Weg nach Redern
aufgebaut hatte.
Seraph schob sich an den ersten Rederni vorbei,
überwiegend Frauen und Kindern, und in den leeren Bereich vor
ihnen, wo sie innehielt, um zu ermessen, wie gewaltig die Aufgabe
war, die vor ihr lag.
Es war ein Waldtroll, moosig-grün und größer als
seine zahlreicheren Vettern, die Bergtrolle. Wenn man von den
Ohrläppchen ausging, die so lang waren, dass sie die verkrümmten
Schultern berührten, musste er älter sein als jeder andere, den
Seraph zuvor gesehen hatte.
Dass Trolle zwei Arme und zwei Beine hatten, hatte
dem Gerücht Raum gegeben, diese Geschöpfe seien mit Menschen
verwandt. Aber Seraph war sich gewiss, dass jeder, der so etwas
behauptete, noch nie einem Troll gegenübergestanden hatte. Kleine
rote Augen lagen tief und dicht beieinander in einem Kopf, der so
breit war, wie Scheck lang war; die Nase bestand lediglich aus zwei
Schlitzen in der knotigen Haut. Stoßzähne bogen sich aus seinem
Maul und drückten die Unterlippe herunter, um faustgroße, gezackte
Schneidezähne
zu entblößen, die den Schädel einer Kuh mit einem Biss zerbrechen
konnten.
Einer von Seraphs alten Lehrern hatte spekuliert,
Trolle seien womöglich Kobolde oder andere kleinere Geschöpfe, die
vom Schattenkönig verändert worden waren. Er hatte erzählt, Trolle
seien zum ersten Mal nach der Niederlage des Schattens in Büchern
und Geschichten erwähnt worden.
Aber wie immer sie entstanden sein mochten, Seraph
wünschte sich, dass dieser hier weit entfernt wäre, statt auf dem
Weg nach Redern auf und ab zu stapfen, wo sein Kopf über die Bäume
hinausragte.
Soweit sie sehen konnte, hatten sich fast alle
gesunden jüngeren Männer aus Redern an den Schutzzauber gestellt,
der den Troll bisher aufgehalten hatte, beinahe als könnten sie
sehen, wo der Bann sich befand. Was Seraph bei Leuten, die hier im
Felsengebirge geboren und aufgewachsen waren, nicht gewundert hätte
- aber vielleicht sagte die Erfahrung ihnen auch nur, wie weit der
Troll gehen konnte. Einige hatten Bogen und Schwerter, aber die
meisten waren mit allem bewaffnet, was ihnen zur Verfügung stand.
Seraph sah Bandor, den Mann von Tiers Schwester, mit einem der
großen Messer, die er zum Brotschneiden hernahm.
Den Waldkönig konnte sie nicht sehen - und auch
nicht Jes, aber das überraschte sie nicht. Wenn einer von beiden
hier war, würde er im Wald bleiben und nicht inmitten einer
Menschenmenge stehen.
Tier befand sich ganz vorn bei den Verteidigern.
Sie erkannte ihn mühelos über die anderen hinweg, denn er war der
einzige Berittene. Nicht viele Pferde konnten so dicht an einen
Troll geritten werden, aber Scheck war ein ausgebildetes
Schlachtross.
Der Wallach stieß ein schrilles Wiehern aus, wie es
kämpfende Hengste taten - und Wallache offenbar ebenfalls. Seine
Brust und sein Hals waren nass von Schweiß und Regen. Er legte die
Ohren zurück und erhob sich in einer langsamen, beherrschten
Bewegung auf die Hinterbeine. Schlachtrosse, hatte Tier ihr einmal
erzählt, waren dazu ausgebildet, ihre Angst in Zorn zu verwandeln -
genau, wie es Seraph selbst für gewöhnlich tat.
Tier hatte sein Schwert gezückt; noch hatte er es
nicht gehoben, aber er hielt es bereit.
Eine zufällige Bewegung der Menge ermöglichte
Seraph einen raschen Blick auf Rinnie, die direkt hinter Scheck
stand. Sie war immer noch ein Kind, mit nur den ersten winzigen
Anzeichen jener Frau, die sie einmal sein würde. Sie hätte neben
dem Krieger und dem Troll jämmerlich aussehen sollen, aber ihr
gesamter Körper leuchtete heller als die Laternen, an denen Seraph
gerade vorbeigekommen war.
Im ersten Augenblick reagierte Seraph mit der
Bewunderung für die Macht eines Kormorans.
Aber das Gefühl hielt nicht lange an, denn sie
wusste, dass Rinnie sich noch nicht gut genug beherrschen konnte,
um solche Macht im Zaum zu halten - und sie würde auch gegen einen
Troll nichts ausrichten können. Seraph drängte sich zwischen den
Männern hindurch, die rasch zurücktraten, als sie sie
erkannten.
Blitze zuckten auf und trafen den Troll. Er
verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf, aber ansonsten schien
es ihn nicht zu stören. Während er abgelenkt war, traf ihn ein
Pfeil, und nun wich der Troll mehrere Schritte zurück und stieß
einen gequälten Schrei aus. Er hob einen Arm, um nach seinem
Gesicht zu schlagen, und riss den Pfeil aus dem Nasenschlitz. Er
hob den Pfeil hoch und schüttelte ihn, bevor er ihn wegwarf und mit
einem Schritt wieder nach vorn ging, der beinahe so laut dröhnte
wie sein Schrei und die Erde beben ließ.
Lehr, der links von Rinnie stand, legte einen
weiteren Pfeil auf die Sehne und wartete.
Der Troll traf auf Seraphs Schutzzauber, und Magie
erhob sich in Licht und Farben und hielt ihn auf. Das Geschöpf
blieb stehen, dann fiel es zurück und hielt sich die Augen zu, aber
Seraph erkannte - vielleicht als Einzige -, dass der Schutzzauber
nicht mehr lange halten würde.
»Rinnie!«, rief sie, sobald sie nahe genug war, um
über das Unwetter hinweg verständlich zu sein. Sie näherte sich
ihrer Tochter so weit, wie sie es wagte. »Rinnie, lass das Unwetter
gehen. Deine Blitze werden den Troll nicht verletzen, und er zieht
die Dunkelheit dem Licht vor. Lehr, in die Ohren, die Augen, die
Nüstern und den Bauchschlitz - wenn du kannst, lass dir von
jemandem Brandpfeile machen. Ein Troll ist zum Teil immun gegen
Magie, also kann ich ihn nicht in Flammen
aufgehen lassen, aber echtes Feuer funktioniert manchmal.«
Manchmal.
Obwohl ihr Leuchten nicht nachgelassen hatte,
musste Rinnie gehört haben, was Seraph sagte: Der Regen und der
Wind hörten auf, und es folgte eine unheimliche Stille, aber das
Unwetter in all seiner ihm innewohnenden Heftigkeit dräute immer
noch über ihnen.
»Es gibt ein paar Zauber, die ihm wehtun können«,
sagte Hennea.
In ihrer Sorge um ihre Familie hatte Seraph den
anderen Raben beinahe vergessen.
Sie drehte sich um und sah, wie Hennea die Hände
bewegte, als hielte sie eine große Kugel, und dann eine
Wurfbewegung ausführte. Sobald ihr Werk den Schutzzauber
überquerte, verwandelte es sich in einen Feuerball, der vor Hitze
blau glühte. Er traf den Troll an der Stirn; Seraph konnte das
Aufklatschen sogar dort hören, wo sie stand.
Der Troll war sofort vom Licht geblendet und riss
sich die glühend heiße Kugel von der Stirn. Auf seine Berührung hin
zerfiel die Magie, doch auf seinem Gesicht blieb ein großer
geschwärzter Fleck zurück. Das Ungeheuer heulte vor Wut.
»Das musst du mir beibringen«, sagte Seraph. »Aber
im Augenblick wird es uns nicht viel helfen. Sie jagen vor allem
mithilfe ihres Riech- und Hörvermögens. Wenn du ihn blendest,
machst du ihn nur wütend.«
Jemand hatte gehört, wie sie Lehr riet, Feuer
einzusetzen; sie hörte einen Ruf: »Wir brauchen Brandpfeile!«
Jemand anderes schrie: »Augen, Maul und zwischen die Beine,
Jungs.«
Der Troll griff den Schutzzauber erneut an. Seraph
duckte sich an Scheck vorbei, um ihrem Bann mehr Macht zu
verleihen, und ignorierte Tiers erschrockenen Aufschrei. Der Troll
sah sie ebenfalls und versuchte, durch die magische Barriere zu
waten, um zu ihr zu gelangen.
Trolle waren schlauer, als sie aussahen.
Eine große Bergkatze sprang den Troll von einem
Baum aus an und landete oben auf seinem Kopf. Der Troll fiel nach
hinten, weg von Seraph und dem Schutzzauber.
Jes, dachte Seraph. Eine
schwarze Bergkatze gehörte zu den von Jes bevorzugten Gestalten -
und eine gewöhnliche Bergkatze hätte niemals einen Troll
angegriffen.
Der wütende Schrei der Katze verband sich mit dem
Heulen des Trolls. Bevor das Ungeheuer das Gleichgewicht
wiedergewinnen konnte, griff Gura ebenfalls an und verbiss sich in
die Sehne hinten an seinem Fußgelenk.
Der Troll trat wild um sich und erwischte Gura
seitlich mit dem Fuß. Der Hund kläffte einmal und rollte ein
Dutzend Fuß weit, bis er an einem Baum liegen blieb. Er rührte sich
nicht mehr.
Jes, der im Nacken des Trolls hing, spannte die
Hinterbeine an und schlug die Krallen der Vorderpfoten tief in die
Stirn des Ungeheuers, dann riss er sich zurück - was das Maul des
Trolls aufzwang.
Die Gelenke eines Trolls funktionierten anders als
die der meisten Tiere. Er hatte keinen Hals, und der Unterkiefer
saß starr direkt am Oberkörper - er kaute zum Beispiel, indem er
den oberen Teil seines Kopfes bewegte und nicht den unteren. Indem
Jes den oberen Teil des Kopfes beherrschte, kontrollierte er nun
den gesamten Troll.
Seraph musste zugeben, dass dies ein schlauer Zug
war. Aber woher wusste Jes so viel über diese Ungeheuer, um eine
solche Schwäche auszunutzen?
Jemand hatte auf sie gehört, denn ein Brandpfeil
flog in das Maul des Trolls. Sobald sie ihre Aufmerksamkeit darauf
richtete, wurde ihr bewusst, dass sie schon seit einigen Minuten
Feuer gerochen hatte. Sie drehte sich um und sah zehn
Bogenschützen, Lehr eingeschlossen. Sie schossen allesamt
Brandpfeile ab, die jedoch schwer zu zielen waren, denn sie waren
von unerfahrenen Leuten in ölgetränkte Lumpen gewickelt
worden.
Mehrere Pfeile endeten schwelend auf dem feuchten
Boden vor dem Troll, aber der, den Lehr abschoss, landete zwischen
den klaffenden Kiefern des Ungeheuers, direkt neben dem ersten
Treffer. Seraphs Sohn schoss in rascher Folge noch zwei weitere
Pfeile ab. Auf jeden Treffer folgte lauter Jubel von den anderen
Dorfbewohnern, von denen einige das Ziel nun ebenfalls
trafen.
Wütend kämpfte der Troll darum, das Maul schließen
zu können. Jes’ Krallen bohrten sich in feste Haut und rissen
riesige Wunden, aber das gestattete dem Troll dennoch, das Maul
wieder zu schließen. Er fiel zu Boden und rollte sich herum, sodass
Jes wegspringen musste. Gestank nach verbranntem Fleisch stieg auf,
als der Troll sich weiterwälzte und versuchte, das Feuer von einem
Dutzend Pfeilen zu löschen.
Der Panther knurrte und wich zurück, bis er neben
Gura stand, der unsicher wieder auf die Beine kam. Sobald
offensichtlich
wurde, dass das Feuer den Troll genügend ablenkte, verschwand die
große Katze im Wald und trieb den Hund dabei vor sich her.
Seraph hörte Hennea murmeln: »Gut so, Jes.
Verschwinde einen Augenblick. Wir können wirklich nicht brauchen,
dass die Leute hier noch mehr Angst bekommen, als sie schon
haben.«
Der Wind wurde langsam stärker, dann kam eine Bö
auf und fachte die Flammen an, die die Fehlschüsse im sturmfeuchten
Gras verursacht hatten. Gleich darauf setzte jemand - es musste
Hennea sein - Magie ein, um das Feuer wieder zu ersticken.
»Rinnie«, sagte Seraph mit beißender Stimme. »Das
reicht jetzt.«
Aber selbst ihr scharfer Ton, der im Alltag
meistens funktionierte, erreichte nichts. Rinnies Körper wurde
weiterhin von Macht geschüttelt.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Tier.
»Ruf sie, Tier«, sagte Seraph. »Schnell.«
»Rinnie?«, fragte er.
»Nicht so«, entgegnete Seraph. »Wie du Scheck in
der Nacht gerufen hast, als der Bär in die Scheune einbrach. Sie
reitet das Unwetter, und es wird sie umbringen, wenn du sie nicht
zurückholen kannst.«
Er brauchte keine weiteren Erklärungen.
»Rinnie«, sagte er, und
seine Stimme hatte die durchdringende Kraft des Donners.
Die Kinder waren nicht die Einzigen, die in diesem
vergangenen Frühjahr etwas über ihre Weisungen gelernt hatten.
Tiers Stimme klang lauter, als sie tatsächlich war - Seraph konnte
spüren, dass sie tief in ihre Knochen drang, obwohl er sie nicht
einmal gerufen hatte. Selbst der Troll hörte einen Augenblick auf,
um sich zu schlagen.
Seraph konnte die Veränderung des Wetters spüren,
schon bevor es wieder zu regnen begann - diesmal ein sanftes
Nieseln, das dem Unwetter schließlich die Kraft nehmen würde. Sie
seufzte erleichtert. »Hennea, sorge dafür, dass der Troll trocken
bleibt, damit er zu Asche verbrennt.«
»In Ordnung.«
»Papa«, sagte Rinnie, die Tier wie betäubt
anstarrte. »Ist er tot?«
Tier steckte sein Schwert ein, schwang sich von
Schecks Rücken und stieß ein Grunzen aus, als er den Boden
erreichte. Aber seine Knie hielten ihn nicht davon ab, Rinnie
hochzuheben und fest an sich zu ziehen.
»Still«, sagte er. »Du bist jetzt in
Sicherheit.«
Aber er hatte sich zu früh gefreut.
Der Troll rollte über den Schutzzauber und damit
auf sie zu.
Tier, der mit dem Rücken zu dem brennenden
Ungeheuer stand und Rinnie ansah, wurde vollkommen überrascht. Der
sterbende Troll versetzte ihm einen Schlag, der ihn umriss. Tier
rollte sich herum, bis Rinnie unter ihm lag, und schützte sie mit
seinem Körper.
Aber der Troll wusste nun, wo sie waren, hob eine
dreifingrige Hand und umklammerte Tiers Beine.
Das Ungeheuer lag immer noch quer auf Seraphs
Schutzzauber, und sie gebrauchte nun zum ersten Mal in ihrem Leben
Worte, die von den Zauberern von Colossae an ihre Reisendenkinder
weitergegeben worden waren.
»Sila-evra-kilin-faurath!«
Die Schutzzauber veränderten sich und wurden zu
etwas anderem, heraufbeschworen von ihrem Willen und den alten
Silben.
Zwei Jahrzehnte lang war Seraph zu Beginn jeder
Jahreszeit nach draußen gegangen, während ihre Familie schlief, und
hatte den Bauernhof umkreist. Sie hatte ihr Blut und ihr Haar in
die Erde eingearbeitet und zu einem Bann verarbeitet, der ihre
Familie vor Schaden schützen sollte. Mit ihren Worten beschwor sie
nun diese Macht zu einer einzigen Tat herauf, die der Höhepunkt all
dieser Nächte und all dieser Magie sein würde.
Lehrs Feuer verging vollkommen, und der Troll war
verbrannt und geschwärzt, aber noch am Leben. Er brüllte
triumphierend und packte Tier fester.
Jemand stieß einen erschrockenen Schrei aus.
»Stirb«, sagte Seraph mit
einer so heiseren, tiefen Stimme, dass sie sogar ihr fremd vorkam,
so als formte etwas anderes als ihre Kehle das Wort. Es gab in ihr
keinen Platz mehr für Zorn oder Angst, keinen Platz für etwas
anderes als Macht, während sie den Troll berührte.
Geschwärztes Fleisch verfärbte sich grau und
zerriss rings um grasgrüne Knochen. Das Grau wurde zu weißer Asche,
die unter der sanften Berührung des Regens zu Boden rieselte und
erheblich unsanfter auch von den eisenbeschlagenen Hufen von Scheck
getroffen wurde, als das für die Schlacht ausgebildete Pferd seinen
Reiter beschützte, wie man es ihm beigebracht hatte.
Seraph holte tief Luft und versuchte, sich wieder
zu beherrschen, aber die Macht war zu groß.
»Fass sie nicht an, Lehr«, sagte Hennea. »Kümmere
dich um Tier und das Kind. Seraph. Seraph!«
Langsam drehte Seraph den Kopf, um den anderen
Raben anzusehen. Hennea musste sich angesichts dieser glühenden
Aufmerksamkeit abwenden.
»Was wirst du mit der Magie anfangen, Seraph?«
Hennea mochte den Blick gesenkt haben, aber sie klang ruhig und
gelassen.
Seraph klammerte sich an diese Gelassenheit. »Es
ist zu
viel«, sagte sie. »Es war nicht klug, etwas so Altes mit Worten zu
töten.«
»Was wirst du damit anfangen?«
Die Macht, mit der die Worte sie versehen hatten,
brannte und fühlte sich gleichzeitig sehr erstaunlich an. Der Troll
war alt gewesen, zu alt. Die Macht seines Todes erfüllte sie,
zusammen mit der Magie, die sie aus ihren Schutzzaubern gezogen
hatte. Zu viel Macht, um sie einfach loszulassen.
»Der Schutzzauber«, sagte sie mit belegter und
seltsam tiefer Stimme. »Ich musste sie schützen …«
»Papa?«
Lehrs Stimme brach Henneas Zugriff auf Seraph und
erinnerte sie daran, wieso sie den Troll getötet hatte. Vielleicht
hatte sie zu spät gehandelt. »Tier? Rinnie?«
Sie drehte sich um und sah Tier an, während Lehr
und ein paar mutigere Dorfbewohner die Überreste - die Knochen -
des Trolls von ihnen wegräumten.
»Sie sind am Leben.« Hennea klang immer noch
ungerührt. »Und das werden sie auch bleiben, wenn du die Magie
beherrschen kannst, die sich in dir befindet. Beherrsche dich,
Rabe.«
»Pass auf sie auf«, sagte Seraph heiser. Sie konnte
den Teil ihrer selbst, der verstand, dass Hennea recht hatte,
überhaupt nicht leiden. Sie musste unbedingt diese Magie loswerden.
»Ich folge dem Schutzzauber.«