missing image file Kapitel 30 missing image file

Die Uhr schlug Mitternacht.

Pippas Herz begann hart zu hämmern, in ihren Handflächen bildete sich Schweiß. Sie blieb stehen und starrte auf das Ziffernblatt der antiken Uhr auf dem Kaminsims. Sie schluckte und wünschte sich die Gelassenheit der goldenen Frauenfigur, die auf dem schwarzen Marmorgehäuse saß und las.

Unruhig nahm Pippa ihre Wanderung durch Dorabellas Wohnzimmer wieder auf, verweilte schließlich am Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Der Wind heulte um den Doppelbungalow und ließ die Fensterläden klappern.

Welcher Teufel hat mich geritten, mich wieder in Gefahr zu begeben, dachte sie nervös, das ist die gerechte Strafe für meine große Klappe.

Sie setzte sich an den Tisch und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Stück für Stück ging sie den Plan noch einmal durch. Hatte sie alles bedacht? Konnte wirklich nichts schiefgehen? Noch war es Zeit, die Aktion abzubr…

Sie fuhr zusammen, als es an der Eingangstür klopfte.

Showtime.

Pippa ging zur Tür und zögerte noch einmal kurz, um sich die Hände an der Jeans trockenzureiben. Sie zwang sich ein gelassenes Lächeln ins Gesicht und öffnete.

»Angelika. Schön, dass du meiner Einladung gefolgt bist.«

Angelika Christs Gesicht war ausdruckslos. Sie ging an Pippa vorbei ins Haus. Misstrauisch sah sie sich um.

»Wir sind allein?«

»Natürlich sind wir allein. Was wir zu besprechen haben, geht niemanden außer uns etwas an.« Pippa zeigte auf das Sofa. »Setzen wir uns doch.«

Angelika ignorierte die Aufforderung und inspizierte aufmerksam den Raum. Als sie an der Tür zum Bad vorbeikam, öffnete sie diese wie zufällig. Sie warf einen Blick hinein und ging dann langsam zum Esstisch. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer Strickjacke und sah Pippa an.

Setz dich endlich hin, dachte Pippa.

Als hätte Angelika ihre Gedanken gehört, setzte sie sich auf die äußerste Kante eines Stuhls. Ihr Körper wirkte gespannt wie eine Stahlfeder.

Pippa atmete auf. Angelika war neugierig, damit war die Voraussetzung für das Gelingen des Plans geschaffen.

Das Spiel konnte beginnen – und musste bis zum Ende gespielt werden.

Langsam und ruhig, bewusst jede hektische Bewegung vermeidend, ging Pippa zum Geschirrschrank und holte zwei Weingläser heraus. Ein Tablett mit einer geöffneten Flasche von Dorabellas Schlehenwein stand bereit. Pippa stellte die Gläser dazu und trug alles hinüber zum Tisch.

Angelika beobachtete sie scharf, als Pippa die Gläser füllte.

»Du bist nervös. Deine Hände zittern.«

Pippa entrang sich ein Lachen und setzte sich. »Natürlich bin ich nervös. Unser Gespräch kann mein Leben ändern. Unser beider Leben.«

Sie hob ihr Glas.

»Ich möchte einen Toast ausbringen. Auf uns! Frauen, die wissen, was sie wollen, und sich holen, was ihnen zusteht!«

Angelika Christ hob zögernd ihr Glas, nippte aber nur, ohne Pippa aus den Augen zu lassen. Ihre Stimme hatte einen aggressiven Unterton, als sie sagte: »Warum ich? Ich dachte, Karin wäre deine beste Freundin, warum hast du mich ausgesucht?«

Jetzt ist meine ganze Schauspielkunst gefragt, dachte Pippa und verzog verächtlich den Mund.

»Karin? Machst du Witze? Die hat sich in ihrer Bilderbuchwelt eingerichtet. Kein Ehrgeiz, keine Ambitionen. Die hat verlernt, über den Tellerrand hinauszusehen. Sie hat alles, was sie je wollte: einen Mann, zwei Kinder, eine schöne Wohnung.« Sie lehnte sich zurück und sah Angelika herausfordernd an. »Wer nicht mehr vom Leben erwartet, verdient auch nicht, mehr zu bekommen.«

»Du bist eifersüchtig auf sie«, sagte Angelika lauernd.

Pippa zuckte mit den Schultern. »Vielleicht. Wenn es Eifersucht ist, dass mich ihre selbstgefällige Gelassenheit rasend macht, dann bin ich wohl eifersüchtig.«

Angelika Christ nickte wissend. Ihre verkrampften Hände lockerten sich.

»Ich brauche eine Frau, die tickt wie ich«, fuhr Pippa fort. »Eine Frau, die über Leichen geht, um ihre Ziele zu erreichen.«

Angelikas Gesicht blieb ausdruckslos. »Ich war sehr erstaunt, als ich deine Einladung bekam.«

Sie zog einen Zettel aus der Jackentasche und las vor: »Du willst das Hanf-Hotel? Du willst Schreberwerder für Dich? Ich weiß einen Weg, wie Du alles bekommen kannst: mit meiner Hilfe – und Beteiligung. Näheres heute um Mitternacht in Dorabellas Haus. P. B.« Sie hob den Blick. »Ich muss schon sagen – recht theatralisch.«

Das aus dem Mund der Königin der theatralischen Auftritte, dachte Pippa. Laut sagte sie: »Ja, vielleicht habe ich ein wenig übertrieben, aber ich bin eine leidenschaftliche Frau. Genau wie du. Außerdem …« Pippa beugte sich vor und senkte die Stimme. »Wir haben keine Zeit zu vergeuden. Wir müssen sofort handeln. Wir haben nur eine Chance.«

»Chance, wofür?«, fragte Angelika mit hochgezogenen Augenbrauen.

Pippa ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor sie antwortete: »Die Chance, unsere Zukunft zu sichern. Die Chance auf ein Leben in Wohlstand, das wir uns verdammt noch mal verdient haben, nach allem, was wir durchgemacht haben. Du und ich, wir haben das gleiche Schicksal erlitten.«

»Ach, tatsächlich? Nicht, dass ich wüsste.«

»Wir haben beide geglaubt, eine glückliche Zukunft vor uns zu haben an der Seite des Mannes, den wir lieben. Und wurden wir nicht beide ausgenutzt, hintergangen und betrogen?«, sagte Pippa eindringlich. »Einen Unterschied gibt es allerdings: Du bist mutiger als ich. Mein Mann lebt noch.«

Angelikas Gesicht versteinerte, aber sie erwiderte nichts.

Verzeih mir, Leo, und du auch, Karin, dachte Pippa, das alles geschieht im Dienste der Wahrheit. Und wie es aussieht, muss ich sogar noch eins drauflegen, um Angelika zu knacken …

»Niemand gönnt uns unser Glück, Angelika. Andere Frauen nehmen uns unsere Männer weg. Es ist nicht fair, dass Frauen wie Karin, die haben, was wir uns wünschen, uns damit trösten, dass der Schmerz irgendwann vergehen wird!« Pippa schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Was wissen die schon von Verlust? Gar nichts wissen die! Und nichts von dem Hass, der uns auffrisst!«

Endlich blitzte in Angelikas Augen Interesse auf.

»Sprich weiter«, sagte sie langsam.

Na also, frohlockte Pippa innerlich, hab ich dich endlich so weit.

»Wir müssen zur Selbsthilfe greifen. Zusammen. Uns nehmen, was uns zusteht.«

»Und wie?«

Pippa lächelte. »Ganz einfach.«

Ihr Herz schlug bis zum Hals, als sie ein Papier aus der Schublade des Tisches zog und hochhielt.

»Dieses Papier, meine Liebe, ist ein Erbschein für die Parzellen 4 und 5. Und für eine gewisse, besonders große Parzelle.«

Angelika schluckte und leckte sich die trockenen Lippen. »Lutz’ Grundstücke«, flüsterte sie.

Pippa nickte selbstgefällig. »Ganz recht. Lutz’ Grundstücke. Wäre doch schade, wenn die Parzellen in die falschen Hände gerieten, findest du nicht auch?«

Angelika Christ musterte sie aus zusammengekniffenen Augen.

Du liebe Güte, dachte Pippa nervös, sie weiß doch nicht etwa, dass Ida bereits mit uns …

Weiter kam sie nicht, denn Angelika sprang auf, zeigte zitternd mit dem Finger auf sie und rief mit schriller Stimme: »Du hattest also doch etwas mit meinem Lutz, deshalb hast du den Erbschein! Ich wusste es! Wie du ihn immer angeglupscht hast mit deinen Kuhaugen! Als ich dich in jener Nacht von seiner Parzelle schleichen sah, dachte ich, du hättest endlich aufgegeben, deshalb …«

Sie stoppte sich selbst, als ihr bewusst wurde, wie viel sie in ihrem Zorn preiszugeben drohte. Langsam setzte sie sich wieder und atmete tief durch.

»Das ist eine Fälschung«, sagte sie schließlich.

Pippa nickte. »Selbstverständlich ist das eine Fälschung.« Sie nahm die Urkunde und betrachtete sie eingehend. »Eine sehr gute Fälschung, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf.« Sie legte das Blatt wieder auf den Tisch und sah es liebevoll an. »Meine beste Arbeit bisher.«

Angelika wirkte irritiert. »Damit kommst du nie im Leben durch, das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« Sie stand auf. »Wenn wir sonst nichts zu besprechen haben … Ich brauche meinen Schlaf, ich möchte morgen in aller Frühe meinen Vater besuchen.«

Danke für das Stichwort, dachte Pippa erleichtert, ich hatte schon befürchtet, ich hätte es verpatzt.

»Ah, dein lieber Vater. Er lebt in Heiligensee, nicht wahr?«

Angelika wähnte sich auf sicherem Terrain und entspannte sich wieder.

»In einem wunderschönen Seniorenheim. Ich werde dort am nächsten Ersten …«

»Wenn man nach Heiligensee will, geht man in Tegelort von Bord der Rieke«, unterbrach Pippa sie und fuhr beiläufig fort: »Wenn man in Wasserstadt aussteigt, hat man ein anderes Ziel.«

Angelika stand auf und lief unruhig auf und ab. »Ich wollte mir ein wenig die Beine vertreten. Es war ein sonniger Tag.«

Pippa hielt den Atem an. Angelika fragt nicht nach, welchen Tag ich meine, dachte sie entsetzt und triumphierend zugleich, ich hatte recht mit meinem Verdacht!

»Wasserstadt liegt auf der einen und Heiligensee auf der anderen Seite der Havel«, sagte sie ruhig.

Angelika blieb abrupt stehen. »Worauf willst du hinaus?«

Pippa gab sich ungerührt. »Ich will dich erpressen.«

»Mich?« Angelika lachte trocken. »Bei mir ist nichts zu holen.«

Wieder falsch reagiert, Angelika, dachte Pippa. Du hättest sagen müssen, dass es nichts gibt, womit ich dich erpressen kann. Ich wünschte, Kommissar Schmidt wäre jetzt bei mir. Er wüsste genau, was man an dieser Stelle sagen und fragen müsste, um an ein Geständnis zu kommen. So etwas lernen die doch auf der Polizeischule. Aber: Alle Mörder machen Fehler … darauf muss ich bauen.

»Du kannst mir die Hälfte deines Besitzes bieten, die Hälfte von all dem, was dieses Dokument dir sichert, wenn ich deinen Namen eintrage. Als Erbberechtigte. Du warst Lutz’ Verlobte. Niemand wird anzweifeln, dass er dir alles hinterlässt.«

Angelika kam an den Tisch und griff nach dem Erbschein. Sie studierte das Schriftstück ausgiebig und konstatierte: »Sieht echt aus.«

»Das wird dir jedes Gericht bestätigen. Der Unterschied ist selbst für Fachleute nicht zu erkennen«, sagte Pippa … was daran liegen könnte, dass es ein echter Erbschein ist, den Herr X meisterhaft manipuliert hat, dachte sie.

Angelika ging zum Fenster und sah hinaus, achtete aber sorgfältig darauf, hinter der Gardine verborgen zu bleiben.

Pippa erkannte, dass Angelikas Angst und Misstrauen noch immer starke Gegner waren und dass sie sich nicht den kleinsten Fehler erlauben durfte, wenn sie die Mörderin entlarven wollte.

Angelika drehte sich um und zeigte auf den Erbschein. »Du bist Übersetzerin. Wieso kannst du so gut fälschen?«

»Habe ich an meiner Hochschule gelernt«, sagte Pippa, »dort wurden auch Kalligraphie-Kurse angeboten, Plakatmalerei, Kunstschrift … das ganze Programm. Ich habe alle belegt und mein Können später ausgebaut und verfeinert.« Sie zuckte mit den Achseln. »Auftraggeber für Übersetzungen stehen nicht gerade Schlange vor meiner Tür. Da muss ich mir ab und an ein kleines Zubrot verdienen. Ich bin es einfach leid, keine Miete zahlen zu können und von der Barmherzigkeit anderer Leute abhängig zu sein.«

»Das kenne ich«, murmelte Angelika, und dann, lauter: »Und jetzt willst du deine Talente für Schreberwerder einsetzen. Und was willst du da genau von mir?«

Pippa fühlte sich unbehaglich, weil Angelika stand und sie selbst saß, versuchte aber, sich diese Unruhe nicht anmerken zu lassen.

»Du sollst mir zu einem Stück vom Kuchen verhelfen – aber bitte mit Sahne.«

Angelika sah lauernd auf Pippa hinab. »Genauer.«

»Ich erstelle den perfekten Erbschein. Du legst ihn dem Grundbuchamt vor.«

»Und das soll funktionieren?«

»Todsicher. Da kenne ich mich aus. Dank eines Übersetzungsauftrages über Erbrecht. Es ist ganz einfach: Ohne Erbschein kein Erbe. Der Erbschein dokumentiert dein Recht zu erben. Jeder, dem du den Erbschein vorlegst, kann sich auf seine Richtigkeit verlassen. Das nennt man Öffentlicher Glaube, nachzulesen in Paragraph 2366 des BGB

Angelika runzelte ungeduldig die Stirn. »Paragraphen interessieren mich nicht.«

»Befindet sich im Nachlass eine Immobilie, sagt Paragraph 35 Absatz 1 der Grundbuchordnung«, fuhr Pippa unbeirrt fort, »so ist der Nachweis der Erbfolge gegenüber dem Grundbuchamt anhand eines Erbscheins zu führen.«

Angelika starrte auf das Dokument. »Den ich dann ja habe.«

»Den du dann ja hast«, bestätigte Pippa. »Und schon gehört uns halb Schreberwerder.«

»Halb Schreberwerder ist nicht genug für das Hotel.«

Herrje, setz dich endlich wieder hin, dachte Pippa zunehmend nervös. Ihr Magen flatterte.

»Natürlich reicht die halbe Insel nicht«, sagte sie leichthin. Zuerst bringe ich Karin dazu, die Parzelle zu verkaufen. Sie wird mir meine Zukunft als leitende Kraft im Hanf-Hotel nicht verbauen wollen.«

»Darauf soll sie hereinfallen?«

»Ich weiß genau, welche Knöpfe ich bei ihr drücken muss. Sie fühlt sich hier ohnehin nicht mehr wohl, seit … seit die Polizei hier Dauergast ist. Und wenn Karin verkauft, wird Viktor nachziehen, garantiert.«

»Dann werden es die beiden Verrückten, der Irre Luis und dieser Pseudo-Künstler, auch nicht mehr lange hier aushalten …«, sagte Angelika nachdenklich. Ihr Gesicht hatte sich aufgehellt.

Pippa zog es vor zu schweigen. Sie nickte nur.

»Peschmanns sind so gut wie in Toulouse.« Angelika kam allmählich in Fahrt. »Diesen Kapitän werde ich einfach überbieten.«

»Bleiben noch die Kästners«, gab Pippa zu bedenken.

Angelika machte eine wegwerfende Handbewegung. »Leichtes Spiel. Bei denen müssen wir lediglich die gleichen Fäden ziehen wie Lutz. Kästner wird einknicken wie ein Strohhalm.«

Pippa atmete auf. Angelika hatte wir gesagt. Doch statt eines Triumphgefühls, Angelika so weit manipuliert zu haben, fühlte Pippa tiefen Ekel.

Angelika stolzierte hoch erhobenen Hauptes und mit verklärtem Blick durch Dorabellas Wohnzimmer, geistig völlig entrückt in die Phantasie einer glorreichen Zukunft, die nur durch Mord und Betrug zu erreichen war. Mit dem Rücken zu Pippa blieb sie stehen und sagte: »Selbstverständlich werde ich mir eine neue Architektin suchen, schließlich hat die Julius Lutz auf dem Gewissen. Hätte sie ihre Krallen von ihm gelassen, würde er heute noch leben.« Sie lachte hämisch. »Kein Stehvermögen, diese Frau. Findet Lutz und bricht zusammen. Vernehmungsunfähig – lächerlich. Mit so einem Zuckerpüppchen kann ich nicht arbeiten.«

Sie verstummte und dachte nach. Dann fuhr sie zu Pippa herum und fauchte: »So weit der schöne Plan. Aber warum sollte ich mit dir teilen wollen?«

Pippas Herz machte einen verängstigten Hüpfer. Sie riss sich zusammen und sagte: »Nun, wir kennen beide dein kleines Geheimnis. Deine beiden Geheimnisse.«

Angelika legte den Kopf schräg und musterte sie abschätzend. »Keine Ahnung, was du meinst, Pippa.«

Pippa rang sich ein souveränes Lachen ab. »O bitte, du beleidigst meine Intelligenz. Du hattest Zeit, Gelegenheit und vor allem …«, Pippa legte eine Kunstpause ein, um den Köder angemessen zu platzieren, »… vor allem hattest du den Mut, dir die beiden ungleichen Brüder vom Hals zu schaffen.«

Angelika kam drohend einen Schritt auf sie zu, aber Pippa hob die Hand.

»Versteh mich nicht falsch, ich habe nicht vor, mit meinem Wissen zur Polizei zu rennen. Absolut nicht. Schon gar nicht zu diesem arroganten, kleingeistigen Kommissar Schmidt.«

Angelika entspannte sich ein wenig, stand aber geduckt wie ein lauerndes Raubtier.

Kaltschnäuzigkeit siegt, dachte Pippa und fuhr fort: »Ich hatte gehofft, jemanden von deinem Kaliber zu finden. Allein könnte ich den Plan nicht durchziehen.«

Angelika lächelte geschmeichelt. »Ihr Leute aus dem Elfenbeinturm. Euch fehlt die richtige Energie. Immer nur Worte, Worte, Worte … Aber wenn es wirklich darauf ankommt, fehlt euch der Mumm.« Herrje, jetzt zitiert sie auch noch Hamlet, dachte Pippa schaudernd.

»Dann lass mich von dir lernen«, bat Pippa, innerlich zitternd vor dem, was jetzt noch kommen würde, »und erkläre mir, wie du die beiden …«

»Du willst wissen, wie ich Felix und Lutz umgebracht habe? Warum sollte ich dir das erzählen?«

Danke für das Geständnis und Fehler Nummer vier, liebe Angie, dachte Pippa.

»Ich stelle es mir so vor …« Pippa unterbrach sich schnell, als Angelika empört nach Luft schnappte.

»Ich erzähle, wie es gewesen ist«, fauchte Angelika.

Pippa nickte hastig. »Natürlich. Nur du hast das Recht dazu.«

»Allerdings.« Angelika lächelte versonnen bei der Erinnerung an die Morde. »Bei Felix habe ich im Wasser einen Wadenkrampf vorgetäuscht und um Hilfe gerufen. Leise, natürlich, damit nur er mich hören konnte. Dann habe ich ihn immer tiefer ins Wasser hineingelockt. Dieser Trottel, wie kann man nur so dämlich sein: Nichtschwimmer und helfen wollen.« Sie runzelte die Stirn. »Leider hat es nicht gereicht. Die Rieke kam, und Nante musste sich prompt als Held aufspielen.«

Pippa war eiskalt geworden, sie fühlte sich wie gelähmt. Also war es doch kein Badeunfall, dachte sie. Hoffentlich gehorcht mir meine Stimme jetzt noch.

»Und warum Felix?«

»Die gute Pippa ist also doch nicht so clever, wie sie denkt«, höhnte Angelika. »Er stand unseren Plänen im Weg, ist doch klar.«

»Und deshalb bist du ins Krankenhaus …«

»Sogar zwei Mal! Einmal, um mich zu orientieren, und dann ein zweites Mal, um die Sache zu erledigen. Schon seltsam, wenn man nur einmal irgendwo auftaucht, ist man verdächtig, aber je öfter man kommt, desto selbstverständlicher wird man akzeptiert.« Angelika kicherte irre. »Beim ersten Mal habe ich aus dem Schwesternzimmer eine Tracht mitgenommen. Niemand hat mich beachtet, als ich in sein Zimmer ging, um ihm das Kaliumchlorid zu verabreichen. Das ideale Mittel. Der perfekte Mord. Ich wusste, damit kann mir nichts nachgewiesen werden.«

Sie verstummte und kaute auf ihrer Unterlippe.

»Und Lutz?«

Angelikas Gesicht verdüsterte sich. »Mein Vater hatte recht: Lutz war meiner nicht würdig. Er wusste nicht zu schätzen, dass ich Felix nur für ihn getötet habe. Ich frage dich: Kann eine Frau einen größeren Liebesbeweis erbringen? Welche andere Frau hätte das für ihn getan?«

Pippa schüttelte den Kopf, aber sie hütete sich, Angelikas Redefluss zu unterbrechen.

»Annette Julius ganz bestimmt nicht!«, ereiferte diese sich weiter, »die hat Lutz nicht wirklich geliebt. Die hat nur die Beine breit gemacht, um an lukrative Aufträge zu kommen.« Angelika schnaubte verächtlich.

»Und deshalb hast du gewartet, bis sie wieder weg war?«

»Denkst du, ich war scharf auf Zuschauer? Oder hatte Lust, gestört zu werden? Von Luis vielleicht? Oder von der cleveren Frau Bolle?« Ihr Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. »Und dann bin ich ins Labyrinth und habe deine hübsche Hutnadel ausgebuddelt.«

»Verstehe, kleine Absicherung«, sagte Pippa heiser. »Damit war die Mordwaffe im Zweifel mir zuzuordnen.«

Angelika lachte, als wäre ihr ein besonders guter Streich gelungen. »Das habe ich mir gut ausgedacht, nicht wahr? Als ich zurückkam, war Lutz samt Gespielin weg. Ich war so wütend … Der sollte mich kennenlernen. Die Julius sollte gefälligst ihre Finger von meiner Parzelle lassen, und sie sollte ihn nicht bekommen. Lutz gehört mir ganz allein. Mir allein … sie kann von Glück sagen, dass sie nicht mehr auf der Insel war, als ich …«

Sie verstummte und starrte gedankenverloren vor sich hin.

»Was hast du dann getan?«, fragte Pippa schließlich.

»Ich habe in seinem Arbeitszimmer nach meinem Vertrag gesucht. Ich wollte ihn vernichten – dieser Fremdgeher hatte das Recht auf meine Parzelle für immer verwirkt. Aber der Vertrag war nicht im Ordner. Und plötzlich stand Lutz hinter mir.« Sie ballte die Fäuste, dass ihre Fingerknöchel schneeweiß wurden. »Als ich mich auf mein vierzehntägiges Rücktrittsrecht berief und meinen Vertrag zurückverlangte, lachte er mich aus. Er holte den Vertrag aus seiner Aktentasche und hielt ihn mir unter die Nase.«

Angelika presste die Lippen zusammen.

»Und weißt du, was er mir zeigte?«, rief sie wild.

Pippa schüttelte eingeschüchtert den Kopf.

Angelika fuhr sich hektisch mit der Hand über die Stirn. »Das Datum meiner Unterschrift. Er hatte den Vertrag um einen Monat vordatiert. Die Frist war abgelaufen. Und nicht nur das: Es stand ein Passus im Vertrag, dass ich ihm die Parzelle unentgeltlich abtrete, im Tausch für eine Anstellung im Hanf-Hotel, falls das Projekt jemals realisiert wird! Stell dir das vor! Falls!«

Pippa musste ihre Empörung über Lutz nicht spielen.

»Dieser Aasgeier! Ich wäre ausgeflippt! Ich hätte ihm irgendetwas über den Schädel gezogen, ganz sicher. Stiehlt dir alles, was du hast, nutzt deine Liebe aus …«

»… und denkt, er kommt damit durch!«, schrie Angelika völlig außer sich. »Er kriegt alles und ich kriege gar nichts? Nicht mit mir!«

»Das konntest du nicht zulassen.«

»Richtig! Er hat nur bekommen, was er verdient hat. Ich habe ihn bestraft.«

»Und wie?«

Angelika stutzte und wurde schlagartig ruhig. »Was soll die Frage? Du weißt doch genau, wie Lutz gestorben ist.« Sie musterte Pippa stirnrunzelnd und sagte langsam: »Dieser Schlaumeier von Kommissar, mit dem du ständig die Köpfe zusammengesteckt hast … und dein Bruder ist ein Bulle … Moment mal! Das hier ist eine Falle, richtig? Du bist nicht besser als Lutz! Du hast mich die ganze Zeit belogen!«

Ehe Pippa reagieren konnte, hatte Angelika die Hutnadel in der Hand. Wie eine Furie stürzte sie sich auf die sitzende Pippa und nahm sie in den Schwitzkasten.

Pippa keuchte, als sie die Spitze der Nadel an ihrem Hals spürte.

»Ich lasse mich nicht erpressen, hörst du?«, zischte Angelika direkt an Pippas Ohr. »Auch von dir nicht, du verdammte Lügnerin. Du wirst mein Leben nicht zerstören, du nicht, du miese, kleine …«

Sie verstärkte den Druck der Nadel auf Pippas Hals, und Pippa stöhnte gequält auf.

Angelika kicherte. »Du weißt alles, und es wird dir nichts mehr nützen …«

Mit einem Krachen flog die Schranktür zu Herrn X’ Bungalow auf, und Schmidt und Freddy stürzten ins Zimmer.

»Keine Bewegung! Polizei!«, rief Schmidt, die Pistole im Anschlag.

Freddy warf sich auf die überraschte Angelika Christ, die vor Wut und Enttäuschung wie eine Besessene kreischte und blind mit der langen Nadel nach ihm stach.

»Wenn du meinen Bruder verletzt, wirst du das bereuen«, brüllte Pippa, holte aus und versetzte Angelika Christ einen Kinnhaken, der diese zu Boden schickte. Sofort ließ Freddy die Handschellen um Angelikas Handgelenke klicken.

Pippa weinte vor Erschöpfung, als sie Freddy umarmte. Ihr Blick fiel auf Kommissar Schmidt, der seine Pistole sicherte und breit grinste.

»Ihr habt euch ganz schön Zeit gelassen«, schnauzte sie ihn an.

Sie ließ Freddy los und rieb sich den Hals.

»Was hat euch aufgehalten?«

»Wir greifen ein, wenn wir alle Informationen haben, die wir brauchen. Mit ein bisschen Kollateralschaden muss immer gerechnet werden«, sagte Freddy und wich erstaunlich flink aus, als Pippa nach ihm schlug. Er zwinkerte Schmidt zu. »Jahrelanges Training als kleiner Bruder.«

Er bückte sich und zog Angelika auf die Füße. Als er sie durch den Raum führte, drehte Angelika sich noch einmal zu Pippa um, spuckte nach ihr und fauchte: »Ich habe dich vom ersten Moment an gehasst.«

»Sieht so aus, als hätte ich eine Feindin fürs Leben gefunden«, sagte Pippa und seufzte.

Sie sahen Freddy und Angelika nach, wie sie durch die Haustür verschwanden.

Schmidt lächelte Pippa an. »Arroganter, kleingeistiger Kommissar, ja?«

»Haben Sie mich deshalb so lange zappeln lassen?«

Schmidt schüttelte lachend den Kopf.

»Danke für Ihre Hilfe, Pippa. Fühlt sich gut an, wenn ein Fall gelöst ist.«

Pippa lächelte zurück. »Fühlt sich gut an, wenn man dabei helfen konnte.«