missing image file Kapitel 20 missing image file

Ist das immer noch der Pfingstmontag, der heute Morgen mit einem friedlichen Bad in der Havel begann?, dachte Pippa.

Sie sah auf ihre Uhr.

Seit ihrem erfrischenden Sprung in die Fluten waren keine vier Stunden vergangen, und die Lawine aus schockierenden Enthüllungen, platzenden Bomben und unerwarteten Entwicklungen war noch immer nicht zum Stillstand gekommen. Jetzt sollten auch noch sämtliche Häuser durchsucht werden.

Hielt Schmidt etwa alle Insulaner für verdächtig?

Zugegeben, wenn Lutz ins Gras gebissen hätte, dann wäre Schmidt von potentiellen Mördern geradezu umringt gewesen – aber im Falle Felix Maier? In den Gesichtern ihrer Nachbarn – Exnachbarn, korrigierte sie sich enttäuscht – sah sie ähnliche Ungläubigkeit.

»Was denn noch alles?«, murmelte Karin neben ihr und sprach aus, was alle dachten.

»Von mir aus können sie alles durchsuchen«, sagte Herr X und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust, »aus getrocknetem Bohnenkraut und Kerbel kann mir nicht einmal Kommissar Schmidt einen Strick drehen.«

»Un selbst wenn die Polente in et Jewächshaus wat findet«, fügte Luis hinzu, »is ooch ejal. Steht auf Dorabellas Jrundstück. Is Lutz’ Problem.«

Pippa bemerkte, dass Ida Marthaler unruhig geworden war.

Die Lehrerin sprang auf und eilte aus Viktors Garten, bog nach links ab und hastete in Richtung ihrer Parzelle.

Sie hat bestimmt noch potente Hanfsamen für ihre Experimente in ihrem kleinen Versuchslabor, dachte Pippa, und die werden jetzt alle in die Havel fliegen. Schade eigentlich.

Laut sagte sie: »Ich gehe dann mal packen.«

Aus den Augenwinkeln fing sie einen triumphierenden Blick von Angelika auf, der sie verwirrte.

Was bedeutete es Angelika, ob sie, Pippa, auf der Insel war oder nicht? Nicht zum ersten Mal hatte sie das Gefühl, dass sie Angelika ein Dorn im Auge war, sie kam aber nicht darauf, was der Grund dafür sein konnte.

»Hast du eine Ahnung, was Angelika gegen mich hat?«, flüsterte sie Karin zu.

»Du bist solo hier«, gab diese zurück.

»Die denkt doch wohl nicht, dass ich an ihrem Lackaffen interessiert bin? Oder er an mir?«

»Das ist nicht der Punkt«, wisperte Karin, »zumal sich Lutz noch nie dafür interessiert hat, ob eine Frau verheiratet ist oder nicht, wenn er scharf auf sie ist.« Sie seufzte. »Meine Parzelle liegt seiner gegenüber – was denkst du, wer da schon alles ein und aus gegangen ist? Da habe ich so manchen Ehering in der Sonne blitzen sehen.«

»Ist ja jetzt auch wurscht«, sagte Pippa, »ich reise ab und bin damit keine Konkurrenz mehr. Egal, ob echt oder eingebildet. Ich hoffe nur, ich kann dich weiter gefahrlos besuchen kommen.«

Sie stand auf und wollte sich auf den Weg zu Dorabellas Parzelle machen.

»Pippa«, sagte Viktor, »es tut mir leid, dass dein Aufenthalt hier so abrupt endet. Du warst ja gerade mal zwei Wochen auf Schreberwerder.«

»Zwei überaus ereignisreiche Wochen«, erwiderte Pippa betont munter, »und mit meinen Haubentauchern bin ich auch fertig. Die Vögelchen sind flügge und verlassen ihr Nest – und ich mit ihnen. Trotzdem schade.«

»Alles Schöne hat einmal ein Ende«, zwitscherte Angelika und schenkte Pippa ein falsches Lächeln mit viel zu vielen Zähnen.

»Ja, davor hätte ich an deiner Stelle auch Angst«, stänkerte Karin treffsicher, was allerdings an Angelika abperlte wie Wasser von einem Lotosblatt.

»Wir sind dir auch gern behilflich, Pippa. Besonders deine …«, Angelikas Lippen kräuselten sich hämisch, »… außergewöhnliche Garderobe soll doch sicher und heil wieder an Land kommen. Du musst nicht auf die Rieke warten, Lutz bringt dich gern mit seinem Privatboot zur Greenwich Promenade nach Tegel – oder wohin du willst. Das macht er gern. Er ist ja immer für alle da.«

Täuschte sich Pippa, oder bekam Lutz gerade einen ungeduldigen Zug um den Mund?

Dieser Vorschlag war also eindeutig auf Angelikas Mist gewachsen, aber Lutz hatte sich rasch wieder unter Kontrolle und sagte: »Meine kleine Angelina … kennt mich eben besser als ich mich selbst.«

Angelika, der Lutz’ gepresster Tonfall und die kleine Spitze entgangen war, schmiegte sich eng an ihren Verlobten.

»Komm, Schatz, lass uns gehen.«

Sie nahm seine Hand und zog ihn mit sich. Auf der Dorfstraße blieben sie stehen und küssten sich innig.

»Würg!«, rief Karin empört. »Können die sich nicht irgendwohin zurückziehen, wo niemand dieses Elend sehen muss? Matthias, war Angelika immer schon so, und ich habe das vorher nie gemerkt?«

»Wir haben sie doch kaum gesehen, als sie noch im Ruhrgebiet gearbeitet hat«, sagte Viktor.

»Nee, dit is dieser feine Pinkel, der hat det Mädchen verdorben. Is ’ne verdammte Schande«, grummelte Luis, »jeder, der mit Schmutz-Lutz seine Zeit verbringt, hat hinterher Dreckflecken im Hirn – und det behindert det Denkvermöjen.«

»Mich interessiert brennend«, warf Pia Peschmann ein, »was die beiden der Polizei über uns erzählt haben. Warum wollen die alle Häuser filzen? Wonach suchen die? Ich fühle mich wie auf einem Schachbrett, aber ich weiß nicht, welche Figur ich bin!«

Gerdi Kästner seufzte. »Es ist kein Spiel mehr, Pia. Es ist Mord.«

Die Insulaner wechselten stumme Blicke, als hätte Gerdis letzter Satz die Realität und ihre Bedeutung erst manifestiert.

Lisa sprang auf und lief zu ihrer Mutter, Daniel sah ihr hilflos nach. Weinend verbarg Lisa ihr Gesicht an Karins Schulter und schluchzte: »Ich will hier weg, Mutti! Ich will nach Hause, in die Transvaalstraße. Ich will weg von Schreberwerder. Hier ist es unheimlich.«

»Ich würde auch lieber heute als morgen …«, murmelte Pia Peschmann, und ihr Gatte fuhr hoch.

»Dann hat Lutz sein Ziel erreicht, seht ihr das denn nicht?«, rief Jochen. »Wenn die Ratten das sinkende Schiff verlassen, ist der Weg zur Schatzkiste frei!«

»Jenau! Und ick trau dem zu, dass der wen killt, damit wir alle Schiss kriejen und ihm unsere Parzellen für ’ne Käseschrippe vakoofen.«

Luis sprang auf und reckte die Faust.

»Aba nich mit unsereens, Freunde! Wir halten zusammen gegen so ’ne Kanallje wie Lutz!«

Ehe Luis mit seinen Nachbarn eine revolutionäre Zelle gründen konnte, kamen Schmidt und Freddy in den Garten, wieder mit Lutz und Angelika im Schlepptau.

Auf dem Dorfplatz warteten die vier Kollegen, die zur Verstärkung auf die Insel gekommen waren.

»Alle herhören«, sagte Schmidt, »meine Kollegen werden sich jetzt gegen den Uhrzeigersinn um die Insel bewegen und Ihre Häuser durchsuchen. Also zuerst Erdmann, dann Peschmann, dann Kästner, und so weiter. Sie wissen am besten, in welcher Reihenfolge Sie dran sind. Die jeweiligen Besitzer der Parzellen dürfen bei der Durchsuchung selbstverständlich anwesend sein.«

»Darf man fragen, was Sie zu finden hoffen?«, stellte Matthias die zentrale Frage, die alle beschäftigte.

Schmidt lächelte fein. »Selbstredend. Fragen darf man mich alles. Ich würde es mal so formulieren: Wir suchen, was wir finden, und wir nehmen mit, was wir gebrauchen können.«

Gut gebrüllt, Löwe, dachte Pippa mit ehrlicher Hochachtung, du magst zwar einen Allerweltsnamen haben, aber ganz gewiss kein Allerweltsgehirn. Du bist verdammt clever, Kommissar Schmidt.

»Du darfst übrigens erst packen, wenn wir dabei sind, Pippa«, sagte Freddy. »Frau von Schlittwitz’ Haus ist das sechste auf der Liste. Du musst also noch etwas warten. Und so leid es mir tut, du darfst vorerst die Insel nicht verlassen.«

Pippa sank zurück in ihren Korbstuhl.

»Das ist nicht euer Ernst. Und wo soll ich bitte schön hin? Alle Häuser sind voll bis unters Dach, und bei Peschmanns ist schon alles abgedreht, da funktionieren weder Klo noch Licht. Ihr macht mir Spaß!«

»Ick hätt da ’ne erstklassje Idee«, ätzte Luis, »du schläfst bei Angelika! Die is doch sowieso ständig bei ihr’n schnieken Galan – un’ die beiden helfen doch so jerne …«

»Wirklich?«, sagte Freddy in seliger Unkenntnis der Sachlage, »ginge das, Frau Christ? Das wäre überaus freundlich von Ihnen. Es ist auch nur für kurze Zeit.«

Angelika wirkte geradezu panisch, aber Lutz ließ sich nichts anmerken, sondern gab sich kooperativ, als ginge es um sein Haus. »Selbstverständlich, es wäre uns ein großes Vergnügen«, sagte er. »Herr Kommissar, Sie haben für diesen Fall doch sicher Formulare, mit denen wir bei Ihrer Behörde die dadurch entstandenen Kosten geltend machen können?«

»Vielleicht fragt mich auch mal jemand?« Pippa sah ärgerlich von Freddy zu Schmidt. »Ihr könnt mich doch nicht herumschieben und abstellen wie ein Gepäckstück! Ich entscheide, wo ich schlafe, und ich werde ganz bestimmt nicht Frau Christ aus ihrem Haus vertreiben.«

Pippa warf einen abschätzigen Blick auf Lutz.

»Könnte sein, dass sie es plötzlich dringend selber braucht. Das Wetter ist gut, die Nächte sind warm. Ich nehme Doras bequeme Gartenliege und schlafe draußen. Basta.«

»Superidee, wir campen«, rief Sven, »da mache ich mit. Wo übernachten wir?«

»Bei uns im Garten, ja?« Bonnie war begeistert aufgesprungen. »Und wenn es doch regnet, gehen wir einfach rein!«

Sven verzog den Mund und sah Daniel bittend an, aber der zuckte mit den Schultern.

»Unsinn«, sagte Viktor, »niemand schläft im Garten. Luis und ich haben viel zu besprechen, ich werde bei ihm übernachten. Die Jugendlichen können mein Haus haben …«, er wandte sich den Teenagern zu, »… ich kann mich sicher darauf verlassen, dass ihr keinen Quatsch anstellt. Und Pippa schläft bei Karin. Da ist dann ja wieder jede Menge Platz.«

Pippa nickte erleichtert und warf Viktor einen dankbaren Blick zu.

Der Frieden währte jedoch nur kurz, denn Lutz meldete sich noch einmal zu Wort.

»Das ist eine hervorragende Gelegenheit für Sie, hochverehrte Nachbarn, sich an ungemütlichere Verhältnisse zu gewöhnen. Ich habe nicht vor, mich durch die aktuellen Ereignisse von meinen Plänen abbringen zu lassen. Morgen kommt Annette Julius, meine Architektin, um sich das Terrain noch einmal genau anzusehen. Ganz gleich, wie viele Parzellen ich bis dahin erworben habe – ab morgen bin ich nicht mehr zu stoppen. Da schaffe ich meine Wirklichkeit. Und die wird dann auch die Ihre, ob Sie wollen oder nicht. Gewöhnen Sie sich schon mal daran.«

Er wandte sich zu Schmidt um, der Lutz’ Monolog sichtlich verblüfft zugehört hatte.

»Herr Kommissar, von mir aus können wir auf mein Anwesen hinübergehen. Meine Türen stehen Ihnen weit offen, ich habe nichts zu verbergen.«

Er drehte sich um und stolzierte mit Angelika an der Hand aus dem Garten.

Nach und nach leerte sich Viktors Grundstück, als die Besitzer der Parzellen einer nach dem anderen zur Durchsuchung gerufen wurden. Die Beamten gingen in die Häuser, ließen sich aber immer auch die Gartengeräte und Schuppen zeigen.

Weder die Peschmanns noch die Marthalers oder die Kästners ließen sich nach der Durchsuchung wieder blicken. Zuletzt waren nur noch Viktor, Luis und die Wittigs übrig, und als Parzelle 2 an der Reihe war, ging Matthias mit.

Gleichzeitig kamen zwei Beamte, um Viktors Haus unter die Lupe zu nehmen.

Pippa und Karin zogen sich aus dem Garten zurück und setzten sich auf die Bank auf dem Dorfplatz, um ungestört zu sein. Der Beamte, der am Steg Posten bezogen hatte, damit sich niemand heimlich von der Insel schleichen konnte, warf ihnen von Zeit zu Zeit einen argwöhnischen Blick zu.

Karin stöhnte. »Ich blicke immer weniger durch. Was geht hier eigentlich vor? Du kennst dich doch ein bisschen aus: Die Polizei durchsucht doch nicht einfach alle Häuser. Die wollen doch irgendwas Bestimmtes finden! Aber was? Die Mordwaffe? Aber welche? Wie ist Felix … gestorben?«

Zögernd sagte Pippa: »Natürlich verraten die uns nicht, woran er gestorben ist.«

»Aber das ist doch totaler Quatsch! Wenn das verhindern soll, dass wir Beweise vernichten, verstehe ich die Taktik nicht, denn der Mörder weiß ja, womit er Felix umgebracht hat.« Karin brütete einen Moment vor sich hin und fuhr dann fort: »Die suchen etwas ganz Bestimmtes und sie wissen ganz genau, wo sie suchen müssen. Sonst würde es nicht so schnell gehen.«

Sie schwiegen und beobachteten den Polizisten, der sich jetzt in Bewegung setzte, denn die Rieke näherte sich und machte Anstalten, anzulegen.

Der Polizist lief winkend den Steg entlang und rief: »Bitte fahren Sie weiter! Im Moment darf niemand die Insel betreten oder sie verlassen!«

Pippa und Karin sahen deutlich Nantes bestürztes Gesicht, als er beidrehte und wieder Fahrt aufnahm.

»Na, der wird sich jetzt wundern«, sagte Karin.

»Er sieht das Polizeiboot. Er wird sich denken können, dass die Polizei hier ist, um Felix’ Tod zu untersuchen.«

»Woher sollte er von dem Tod wissen?«, gab Karin zu bedenken. »Wir haben es doch auch gerade erst erfahren, und seitdem war keiner von uns auf der Rieke

Sie stand auf. »Ich gehe mal zu Matthias, vielleicht schnappe ich dort etwas auf.«

Pippa blieb nicht lange allein.

Schmidt und die drei Beamten, die bei den Durchsuchungen geholfen hatten und sich jetzt mit Kartons abschleppten, kamen die Dorfstraße herunter. Schmidt ließ sich müde neben Pippa auf die Bank fallen, während seine Mitarbeiter an ihnen vorbei zum Polizeiboot gingen. Freddy kam aus Luis’ Parzelle und setzte sich auf Pippas andere Seite.

»Ist die Untersuchung erledigt, Chef?«

Schmidt nickte erschöpft. »Nicht nur die. Ich auch.«

»Haben wir wenigstens etwas gefunden?«

Der Kommissar lachte freundlos. »Etwas? Zu viel!« Er zeigte auf zwei Polizisten, die zwei weitere Kisten vorbeitrugen. »Siehst du das, Freddy? Kistenweise Kaliumchlorid. In jedem verdammten Schuppen haben wir Kaliumchlorid gefunden, auf jeder verdammten Parzelle. Nur nicht bei Erdmann – die Riesenparzelle war sauber.«

Freddy riss die Augen auf. »Eine Verschwörung? Denkst du, die stecken alle unter einer Decke?«

Pippa wurde wütend. »Was für ein Blödsinn, Freddy! Natürlich haben alle das Zeug im Schuppen. Es eignet sich besonders gut für diesen Boden. Als Dünger!«

Schmidt stöhnte auf. »Dünger? Ich werd’ nicht mehr.«

Viktor und Luis kamen gerade dazu und hatten die letzten Sätze aufgeschnappt.

Luis sagte: »Klar nehm’ wa Kaliumchlorid. Und Schwefel und Stickstoff und Mergel nehm’ wa ooch. Ick pasönlich bevorzuge allerdings Guano.«

Er zwinkerte Pippa zu und grinste. »Vogelkacke, wenn’ Se so wolln, Herr Kommissar.«

Schmidt sah Pippa beschwörend an.

»Bitte, stellen Sie den ab.«

Er zeigte kraftlos auf den feixenden Luis.

»Meine Frustrationstoleranz tendiert langsam gegen null. Er hat mir bei der Befragung schon den letzten Nerv geraubt. Ich beginne zu begreifen, wie Burn-out-Syndrom entsteht.«

»Da wüsst ick wat«, plapperte Luis strahlend weiter, »’ne kleene Aufmunterung für den Herrn Kommissär. Ick mix Ihnen Planter’s Punch, jeht janz schnell. Janz frische Früchte aus’m Jarten, 2 cl Grenadine und ’ne jehörje Portion …«

Er brach ab, als ihn Schmidts frostklirrender Blick traf.

Pippa wurde heiß, als sie langsam begriff, was die Durchsuchung der Häuser nach Kaliumchlorid bedeutete.

»Wollt ihr etwa sagen, dass Felix mit dem Zeug umgebracht wurde?«

Mitten hinein in die darauffolgende Stille sagte Viktor entsetzt: »Verstehe ich das richtig, Herr Kommissar? Dünger? Felix wurde mit Dünger umgebracht? Mitten im Krankenhaus?«