missing image file Kapitel 17 missing image file

Nie wieder Alkohol, dachte Pippa, als sie am nächsten Morgen erwachte.

Der kapitale Kater, der sie in seinen Krallen hielt, schnurrte boshaft. Sie bewegte vorsichtig den Kopf. Der bis dahin gerade noch erträgliche Kopfschmerz steigerte sich prompt zu einem infernalischen Hämmern.

Pippa stöhnte auf. Die Party am Abend zuvor war irgendwann in ein fröhliches Trinkgelage ausgeartet. Natürlich war die Polizei nicht aufgetaucht, dennoch hatte Jochen jedes Mal besorgt aufgesehen, wenn sich die Tür öffnete, und tief durchgeatmet, wenn er ein bekanntes Gesicht sah.

Karin hatte CDs und ein Abspielgerät geholt. Sie hatten zu italienischen Schlagern aus den Sechzigern geschwoft und lauthals mitgesungen, wobei ausgerechnet Pia besonders ausgelassen agiert hatte. Pippa hatte mit ihrer Parodie auf Adriano Celentano geglänzt und ihre ganz eigene Version von »Azzurro« zum Besten gegeben. Auch die zahlreichen Bitten nach einer Zugabe erfüllte sie gern, und als Resultat gesellte sich zu ihren brüllenden Kopfschmerzen nun ein rauer Hals.

Um Mitternacht waren die Jugendlichen in ihre Betten geschickt worden, und Herr X hatte sofort ein kleines Plastiktütchen hervorgezaubert, dessen Inhalt den nachmittäglichen Scheiterhaufen im Labyrinth überlebt hatte. Zu Pippas Überraschung erregte die Tatsache, dass Herr X einen langen Joint rollte, weder Aufsehen noch eine erkennbare Reaktion.

Alle hatten ein- oder zweimal daran gezogen, auch sie selbst. Für einen verrückten Moment fühlte sie sich in den Traum versetzt, den sie in der Nacht des Einbruchs in Doras Haus geträumt hatte – in dem alle Bewohner Schreberwerders in Dorabellas Garten riesige Joints hatten kreisen lassen.

Nach dem Genuss des Kicherkrauts erreichte die allgemeine Ausgelassenheit ungeahnte Höhen. Matthias, sonst immer korrekt, behauptete, dass jeder Zug Herrn X half, Beweise zu vernichten, und Jochen schwadronierte verklärten Blickes von wilden Berliner Hausbesetzerzeiten, als er und Pia sich kennengelernt hatten. Karin hatte nach dunklen Punkten in der Vergangenheit eines jeden geforscht und enttäuscht festgestellt, dass es in ihrer zu wenige gab, was folgerichtig zu einer neuen Runde Mojitos mit Cannabisblättern statt Minze führte, einer äußerst schmackhaften Erfindung Dorabellas, die ein letztes Mal zu Ehren kam.

Jetzt zahlte Pippas Kopf die Zeche für diesen einmaligen Abend, und die Ruhe, die an diesem Pfingstmontag über der Insel lag, bestätigte ihr, dass sie nicht die Einzige war, die dringenden Erholungsbedarf verspürte.

Sie forschte in Dorabellas Medizinschrank nach Alka Seltzer. Als sie nicht fündig wurde, beschloss sie dem Ratschlag ihrer Großmutter aus England zu folgen und Ölsardinen und einen halben Löffel Maggi-Brühe zu sich zu nehmen, um die Salz- und Elektrolytreserven des Körpers wieder aufzufüllen. Leider hatte Oma Wilcox immer darauf bestanden, dass eine kalte Dusche die Reinigungsprozedur vervollständigen müsse.

Pippa schlüpfte in ihren Badeanzug und lief hinunter zum Wasser. Als sie zögernd am Ufer stand, hörte sie deutlich Oma Wills strenge Stimme: »Entweder das oder brüllender Kopfschmerz!«

Zehn Sekunden später tauchte sie prustend aus den kalten Fluten der Havel auf und schüttelte sich. Sie hätte am liebsten laut gekreischt, so groß war der Schock des eisigen Wassers, aber sie keuchte nur und schnappte nach Luft.

Immerhin war sie jetzt wach, daran konnte es keinen Zweifel geben. Sie schwamm ein paar Züge und fühlte, wie sich ihr Körper langsam an das kalte Wasser gewöhnte. Pippa begann das Morgenbad zu genießen und kraulte Richtung Tegelort, dann legte sie sich auf den Rücken und ließ sich langsam wieder an Land treiben.

Erschöpft, aber stolz, sich zu dieser Heldentat überwunden zu haben, stieg sie wieder ans Ufer. Nass ließ sie sich auf das große Handtuch fallen, das sie vorher auf dem Rasen ausgebreitet hatte, und vertraute darauf, dass die warmen Strahlen der Sonne sie trockneten.

Während sie langsam wieder einschlummerte, dachte sie noch einmal an Jochen und seinen Mut, sich seiner Verantwortung zu stellen. Wie schön wäre es doch, wenn derjenige, der Dora an ihrem letzten Abend geholfen hatte, ebenso handeln würde …

Sie schrak hoch, als ein Schatten auf sie fiel. Zwei Gestalten standen zwischen ihr und der Sonne. Ihre Laune verschlechterte sich schlagartig, als sie Freddy erkannte. Er war in Begleitung eines großen blonden Unbekannten in Zivilkleidung, von dem sie sofort vermutete, dass es ein Kripo-Kollege ihres Bruders war.

Sie setzte sich auf und sagte missmutig: »Da seid ihr also doch noch. Immerhin habt ihr Jochen eine letzte Nacht zu Hause gegönnt. Schade, Freddy, dass du auch dabei sein musst. Schäm dich.«

Sie stand widerwillig auf und wickelte das Handtuch eng um sich.

»Kommt mit ins Haus, ich erzähle euch erst einmal meine Sicht der Dinge. Ihr könnt ihn euch auch später noch holen.«

Ohne eine Antwort abzuwarten oder die Männer eines weiteren Blickes zu würdigen, ging sie vor ihren ungebetenen Besuchern über den Rasen ins Haus.

»Setzt euch«, sagte sie schroff, als die beiden das Haus betraten, und zeigte mit einer wenig einladenden Handbewegung auf zwei Stühle. Sie hatte sich einen Bademantel übergeworfen und saß am Esstisch. »Lasst die anderen wenigstens ausschlafen. Es ist spät geworden gestern. Wir müssen uns wohl auch noch bedanken, dass ihr unsere kleine Feier nicht gesprengt habt.«

Freddy und sein Begleiter nahmen Platz, und Freddy sagte: »Wenn ich vorstellen darf: Pippa Bolle, meine Schwester. Kommissar Schmidt.«

»Wolfgang Schmidt«, fügte der Mann hinzu und lächelte.

»Schmidt? Sollte man als Kommissar nicht anders heißen? Etwas, das die Leute sich merken können?«, stänkerte Pippa. »So wie Columbo oder Barnaby. Oder Wallander. Der arme Jochen hat es wirklich nicht verdient, dass er von einem Kommissar Schmidt …«

»Könntest du mal Pause einlegen?« Freddy sah sie entgeistert an. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du redest. Wenn das komisch sein soll, kann ich nicht mitlachen. Verdacht auf Mord ist eine ernste Sache.«

Pippa schluckte. »Mord? Welcher Mord? Habt ihr Hinweise gefunden, dass Dorabella …?«

Kommissar Schmidt schüttelte den Kopf. »Nicht Frau von Schlittwitz. Felix Maier.«

Pippa wurde eiskalt. Sie sah entsetzt von Schmidt zu Freddy, der zu ihrer Bestürzung bestätigend nickte und sagte: »Er ist in den frühen Morgenstunden … gestorben.«

»Aber ihr habt doch gesagt, dass er überleben wird! Waren seine Verletzungen doch zu schwer? War der Atemstillstand zu lang?«

Freddy und Schmidt wechselten einen Blick. Dann sagte Freddy: »Das dürfen wir dir leider nicht sagen.«

»Außerdem warten wir noch auf das endgültige Ergebnis der Obduktion«, ergänzte Kommissar Schmidt.

»Aber Mord! Wer soll das denn getan haben? Wie? Und warum?«, rief Pippa verzweifelt.

»Das ist es, was wir herauszufinden versuchen«, erklärte Schmidt.

»Und dazu brauchen wir deine Hilfe, Pippa.« Freddy sah sie bittend an. »Wolfgang will sich hier ein bisschen umsehen, undercover, sozusagen. Wir möchten dich bitten, ihn als Freund auszugeben, der dich zu Pfingsten besucht. Damit er unauffällig herausfinden kann, wo sich jeder Einzelne zur Zeit von Felix Maiers Tod aufgehalten hat. Am besten wäre es, du würdest mit ihm eine kleine Tour um die Insel machen und mit allen ins Gespräch kommen. Möglichst harmlos: über Blumen, Ernteergebnisse und Saatzeiten. Über alles – nur nicht über Felix Maier.«

»Wir hoffen, dass wir von allen erfahren, wo sie gestern waren, ohne dass sie Verdacht schöpfen«, ergänzte der Kommissar.

»Ich verstehe: Wer ohne Not lügt, hat etwas zu verbergen«, murmelte Pippa, noch immer völlig betäubt von der Nachricht.

»Und genau das werden wir dann überprüfen.« Kommissar Schmidt nickte.

Pippa war empört. »Wozu alle Insulaner bemühen? Keiner hier hatte ein Interesse an Felix’ Tod – außer Lutz.«

In diesem Moment hörte sie ein Geräusch aus dem geheimen Durchgang zwischen Doras und X’ Bungalow. Freddy und Wolfgang Schmidt wechselten einen verblüfften Blick, während Pippa einen Hustenanfall vortäuschte, um die beiden abzulenken.

Ihre Mühe war vergeblich, denn Schmidt stand leise auf, schlich auf Zehenspitzen zum vermeintlichen Schrank und riss die Tür mit Schwung auf. Seiner Stütze beim Lauschen beraubt, purzelte Herr X polternd aus der Tür ins Zimmer und fiel Schmidt direkt vor die Füße.

Die Augen des Kommissars weiteten sich vor Überraschung. Er ging in die Knie und sah dem vor Schreck völlig paralysierten Herrn X direkt in die Augen.

Dann sagte er: »Guten Tag, Herr Krause.«

Herr X seufzte ergeben. »Tag, Herr Kommissar.«

Schmidt grinste breit. »Hier haben Sie sich also verkrochen!«

Herr X rappelte sich mühsam auf. »Ich habe damit nicht gegen Bewährungsauflagen verstoßen.«

Schmidt zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? Auf den ersten Blick nicht, aber vielleicht findet sich ja noch was. Ich kenne meine Pappenheimer.«

X wurde bleich. »Ich kann nicht wieder in den Knast gehen. Ich habe seit meiner Entlassung ein sauberes, gesetzestreues Leben geführt – ich will da nicht wieder rein. Sie wissen, dass ich keine Luft kriege in abgeschlossenen Räumen. Ich kann da nicht atmen … und mein Asthma …«

Er rang krampfhaft nach Luft und zog die Schublade des Esstisches auf. Mit zitternden Händen ertastete er den darin herumkollernden Inhalator und sprühte sich eine Ladung in den Hals.

Pippa verfolgte den Dialog der beiden Männer mit offenem Mund. Krause? Knast? Bewährungsauflagen? Sie sah Freddy hilfesuchend an, aber sein Gesicht sprach Bände: Auch er war ratlos.

Herr X atmete wieder normal und setzte sich auf das Samtsofa. Er holte tief Luft, als wolle er sich Mut machen, und blickte Schmidt fest an. »Hat Erdmann … Lügen über mich erzählt? Es war doch Erdmann, oder? Der wird keine Ruhe geben, bis er allen Menschen hier das Leben ruiniert hat, und dann schnappt er sich die Insel.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Krause. Du etwa, Freddy?«

Dieser schüttelte den Kopf.

Schmidt wandte sich wieder Herrn X zu. »Ich will Sie ja nicht enttäuschen, Herr Krause, aber ich bin nicht Ihretwegen hier. Trotzdem kann ich Sie momentan leider nicht ohne Aufsicht lassen, sonst machen Sie unseren schönen Plan kaputt.«

»Plan?«, fragte Herr X, dem die Erleichterung deutlich ins Gesicht geschrieben war. »Welcher Plan?«

Wolfgang Schmidt grinste. »Krause, Sie müssen jetzt nicht so tun, als hätten Sie vorhin nichts von dem gehört, was wir beredet haben, als Ihr Ohr an der Schranktür klebte. Geschickt gemacht übrigens, dieser kleine Geheimgang. Sie wohnen nebenan?«

Herr X nickte zögernd.

»Und Sie wissen, worum wir Frau Bolle gebeten haben?«

Wieder nickte Herr X. »Aber was habe ich damit zu tun?«

»Ganz einfach«, erklärte Freddy, »nachdem Sie meinen Kollegen erkannt haben, müssen wir verhindern, dass Sie Ihren Nachbarn davon erzählen. Wir möchten Sie also bitten, meine Schwester und den Kollegen auf ihrem Rundgang über die Insel zu begleiten oder den Vormittag hier im Haus zu verbringen – mit mir als Gesellschaft.«

»Habe ich die Möglichkeit, nein zu sagen?«, fragte X.

»Ich fürchte, nicht«, gab Schmidt zurück.

»Dann ist es auch keine Bitte«, murrte Herr X.

Seine Stimme klang so aufmüpfig, dass Pippa die Hand hob.

»Felix Maier wurde vermutlich umgebracht«, sagte sie leise zu ihm, »und wir wollen herausfinden, ob sein Mörder einer von unseren Nachbarn ist. Da solltest du mithelfen.«

»Mir fällt nur einer ein, der von seinem Tod profitiert.«

»Genau. Wenn er es wirklich war, müssen wir alles tun, um ihn zu entlarven, denkst du nicht auch?«

Herr X zögerte noch immer. Es war ihm anzusehen, dass es ihm zutiefst widerstrebte, mit der Polizei gemeinsame Sache zu machen. »Aus mir kriegt ihr nichts heraus. Ich sage ab jetzt nichts mehr.«

»Dann ist ja alles klar«, sagte Schmidt zufrieden und stand auf. »Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Wenn es hier eine Fährte geben sollte, wird sie mit jeder Stunde, die wir ungenutzt verstreichen lassen, immer kälter.«

»Ich verschwinde dann mal wieder von der Insel, mich kennen hier schon zu viele Leute.« Freddy erhob sich ebenfalls und sah auf seine Armbanduhr. »Die Rieke kommt in fünf Minuten.«

Gemeinsam verließen sie das Haus und blieben wie angewurzelt stehen. An Dorabellas Zaun standen wie Gartenzwerge aufgereiht sämtliche Insulaner und sahen sie schweigend an. Nur das junge Glück und die Kinder fehlten.

»Na bestens«, murmelte Kommissar Schmidt, »gerade löst sich unser schöner Plan in Luft auf. Dann eben die gute alte Methode.«

Pippa sah zu Herrn X, der ein triumphierendes Funkeln in den Augen hatte, und dann zu den beiden Fahnen, die lustig an seinem Fahnenmast flatterten. Er hatte nicht nur die Totenkopfflagge gehisst, sondern zusätzlich einen grünen Wimpel.

Grün für die Polizei, dachte Pippa amüsiert, er hat die anderen gewarnt, dass Polizei auf der Insel ist! Er hat Schmidt also schon erkannt, als der die Rieke verließ. Da hätten die beiden gleich mit dem Polizeiboot und heulender Sirene kommen können, denn Kommissar Zufall war längst hier.

»Das ist ja wie in der Transvaal«, sagte Freddy, »einer für alle und alle für einen, oder wie darf ich das verstehen?«

Pippa legte den Arm um Freddys Taille.

»Das verstehst du genau richtig, lieber Bruder. Nur organisieren wir heute kein Picknick, und es geht nicht um dein Essen.«