missing image file Kapitel 5 missing image file

Die nächsten zwei Tage waren nichts als Regen und Ruhe. Nichts tropfte mehr, und im Ofen knisterte und knackte das Holz. Pippa arbeitete beharrlich und mit Hilfe vieler Liter Tee. Sie hatte gerade ein besonders kniffliges Kapitel über Witterungseinflüsse auf das Paarungsverhalten der Haubentaucher abgeschlossen, als es an der Tür klopfte.

Sie stand auf, streckte ihre steifen Glieder und öffnete. Herr X lächelte sie schüchtern an und trat von einem Bein auf das andere. Er hielt einen schäbigen Karton an die Brust gedrückt.

»Komm doch rein«, sagte Pippa und öffnete einladend die Tür.

»Nur, wenn ich nicht störe.«

Sie schüttelte vehement den Kopf. »Ich habe für heute wirklich genug gearbeitet.«

Herr X errötete leicht und trat ins Haus. Er stand verlegen mitten im Raum und schien nicht weiterzuwissen.

»Setz dich doch. Tee?«

Herr X schüttelte den Kopf. Er stellte den Karton mitten auf den Tisch. »Für dich. Als Willkommensgeschenk.«

»Ach, das ist aber nett. Danke schön.«

Sie öffnete das Geschenk und tastete sich durch Holzwolle, bis ihre Finger auf etwas Glattes stießen.

»Vorsicht, zerbrechlich«, murmelte Herr X. »Darf ich?«

Als Pippa nickte, griff er in den Karton und zog ein gläsernes X heraus, das er vorsichtig auf den Tisch stellte. Er wühlte noch einmal durch die raschelnde Holzwolle und förderte zwei gläserne Stopfen zutage, wie man sie für angebrochene Weinflaschen verwendet.

»Für dich«, wiederholte Herr X und sah sie erwartungsvoll an.

Pippa sah ratlos auf das Geschenk.

»Gefällt es dir nicht?« Er sah enttäuscht aus.

»Doch, ich finde alles aus Glas sehr … elegant.«

Herr X strahlte. »Du kannst es als Vase benutzen«, erklärte er, »oder als Likörkaraffe. Ganz wie du willst.«

»Ich könnte farbiges Wasser hineinfüllen und es auf die Fensterbank stellen«, schlug Pippa vor, »es sieht bestimmt schön aus, wenn die Sonne hindurchscheint.«

Wieder errötete Herr X.

Bevor das Schweigen unbehaglich werden konnte, deutete Pippa auf das gläserne X. »Kannst du von deiner Kunst leben?«

Er zuckte mit den Schultern. »Geht mal besser, mal schlechter. Ich brauche nicht viel. Ich baue im Garten viel Obst und Gemüse an. Parzelle und Haus gehören mir. Von Zeit zu Zeit verkaufe ich eine Skulptur. Das reicht. Und wenn es nicht reicht, biete ich einem neureichen Heini übriggebliebene Xe als moderne Gartenzaunskulptur an. Das funktioniert immer. Genau so, als ob Hundertwasser ein Haus anmalt.«

Aus diplomatischen Gründen verzichtete Pippa auf einen Kommentar dazu, dass Herr X sich mit Friedensreich Hundertwasser auf eine Stufe stellte. Stattdessen wechselte sie das Thema.

»Hat Lutz dir auch Geld für deine Parzelle geboten?«

Herr X schnaubte verächtlich durch die Nase. »Zwanzigtausend. Dieser Idiot kann einfach nicht begreifen, dass mir das Geld völlig gleichgültig ist. Aber du lebst doch von der Hand in den Mund, hat er gesagt, für dich müssen zwanzigtausend doch ein Vermögen sein! Dieser Kleingeist. Versteht rein gar nichts von den wahren Dingen des Lebens.«

»Immerhin hat er schon eine ganze Menge Unfrieden gestiftet zwischen den Insulanern«, sagte Pippa und dachte an Luis’ Bemerkungen.

»Das kannst du laut sagen. Der gibt nicht so schnell auf. Morgen schmeißt er eine Riesenparty für uns Insulaner, um uns rumzukriegen.«

Pippa sah Herrn X erstaunt an. »Und da geht ihr hin?«

»Alle gehen hin. Um sein pompöses Buffet zu plündern und seinen Rasen zu zertrampeln. Dafür hören wir auch seinen Vorträgen zu und freuen uns bei einem gepflegten Glas Champagner, dass nichts draus werden wird. Hanf-Hotel! Braucht doch kein Mensch.«

Pippa wurde einer Antwort enthoben, weil die Glocke am Gartentor bimmelte. Ein etwa siebenjähriger Junge mit weizenblondem, zerzaustem Haarschopf kam zur Haustür gehüpft.

»Du bist Pippa Bolle«, verkündete der Knirps, »und du sollst nachher zum Essen kommen. Bei uns.«

Pippa sah lächelnd auf den Kleinen hinunter. »Und wo ist das?«

»Bei Mama und Papa. Du bist neu auf der Insel, und du sollst zum Grillen kommen. Wo ist denn Opa Viktor?«

»Der ist im Urlaub. Ich wohne solange in seinem Haus und passe ein bisschen auf.«

»Hm.« Der Junge spähte um Pippa herum ins Innere der Hütte. »Tag, Onkel X.«

»Tag, Emil«, erwiderte Herr X.

»Ich gehe dann mal wieder«, sagte Emil. Er sah Pippa forschend an und fragte dann vorsichtig: »Wenn du in Opa Viktors Haus wohnst, machst du dann alles genauso wie Opa Viktor?«

»Ich denke schon. Wie wäre es, wenn du mir später genau erklärst, was ›alles‹ ist, damit ich nichts falsch mache?«

Der Junge nickte eifrig. »Mach ich. Bis nachher dann.« Er drehte sich um und schickte sich an, zu gehen.

»Und wann ist nachher?«, fragte Pippa.

Emil hüpfte bereits in Richtung Gartentor. »Jetzt!«, rief er über die Schulter zurück und winkte dann jemandem außerhalb Pippas Blickfeld enthusiastisch zu.

Sekunden später kam Dorabella von Schlittwitz in Sicht. Sie stützte sich auf ihren Gehstock und ging langsam den Weg entlang auf Pippa zu. Sie zog einen kleinen Bollerwagen hinter sich her.

»Guten Tag, meine Liebe«, sagte Dorabella, »wie ich sehe, geben sich die Nachbarn hier die Klinke in die Hand. Hat Emil seine Neugier nicht mehr ausgehalten? Zauberhafter kleiner Junge.«

»Ich habe gerade erfahren, dass bei den Kästners Würstchen für mich auf dem Grill liegen.«

Dorabella lächelte und zeigte auf den Korb in ihrem Bollerwagen. »Ich bringe den Aperitif, meinen selbstgebrannten Himbeergeist.«

»Immer herein. Herr X ist auch gerade da.«

Pippa nahm den Korb und half Dorabella die zwei Stufen zum Haus hinauf.

Herr X und Dorabella begrüßten sich, und Pippa holte Schnapsgläser aus dem Küchenschrank.

»Möchte jemand Kaffee dazu?«, fragte Pippa.

»Mir genügt Alkohol«, sagte Herr X grinsend, der sich in Dorabellas Gegenwart sichtbar entspannte.

»Bloß keinen Kaffee, sonst bekomme ich heute Nacht kein Auge zu«, erklärte Dorabella, »und wenn ich etwas brauche, dann ist es mein Schönheitsschlaf.«

Herr X lachte. »Als ob du mit dem Einschlafen Probleme hättest, Dora. Und wenn, dann komme ich rüber und lese dir eine Gutenachtgeschichte vor.«

Zu Pippas Verwunderung stießen die beiden sich an und kicherten wie Verschwörer. »Versprochen?«, fragte Dorabella. »Dann bring mich mal zurück, damit Pippa zu den Kästners kann. Ich rieche Stephans Käsewürstchen bis hierher.«

Herr X reichte Dorabella galant den Arm, und die beiden verschwanden in der anbrechenden Dämmerung.

Fünf Minuten später schlenderte Pippa selbst die Dorfstraße entlang. Gleich neben Erdmanns Prunksitz stand »Die Peschmanns« auf einem Keramikschild am Gartentor. Die Besitzer waren damit beschäftigt, ihre Sachen zu packen. Vor der Hütte standen gefüllte Taschen und Kartons, durch das geöffnete Fenster dröhnte ein Staubsauger. Die Parzelle grenzte direkt an Erdmanns Grundstück, so dass er sich wie ein Ausschlag immer weiter ausbreiten konnte, wenn die Peschmanns an ihn verkauften.

»Hier sind wir!«, rief eine Kinderstimme von der Seite.

Emil Kästner stand im offenen Tor der nächsten Parzelle und grinste sie zahnlückig an.

»Oh, da wäre ich ja beinahe vorbeigelaufen. Wie gut, dass du aufgepasst hast«, sagte Pippa, und der kleine Junge strahlte stolz.

Pippa folgte ihm einen gepflasterten Weg entlang. Die Hütte der Kästners stand auf dem hinteren Teil der Parzelle, die wie mit einem Lineal in zwei Hälften geteilt war. Links lag der Nutzgarten mit Gemüse- und Kräuterbeeten, verschiedenen Beerensträuchern und Obstbäumen. Rechts war das Reich der Kinder, mit Rutsche und Sandkasten.

In einem aufblasbaren Planschbecken schwammen Plastikboote und eine Armada gelber Gummienten. Drei kleine blonde Kinder stritten um die einzige Schaukel, die am Ast eines großen Laubbaumes befestigt war. Auf einem gepflasterten Platz stand ein ebenfalls blonder, hochgewachsener Mann an einem Grill und wendete mit einer Grillzange die Fleischstücke und Würstchen auf dem Rost.

»Das sind meine Geschwister«, erklärte Emil, »Anton, Lotte und Luise.«

Pippa stutzte einen Moment, sah von einem Kind zum anderen und grinste dann. »Freut mich, endlich die echten Kästner-Kinder kennenzulernen.«

Emil hüpfte aufgeregt auf und ab. »Papi! Papi! Die Pippa Bolle ist da!« Der Mann am Grill sah hoch. Er kam lächelnd auf Pippa zu und streckte ihr die Rechte hin. »Willkommen bei den Kästners. Ich bin Stephan.«

Sie schüttelte die angebotene Hand. »Danke für die Einladung.«

Stephan Kästner nickte. »Viktor hat mächtig Werbung für dich gemacht. Wir sollen gefälligst nett zu dir sein.«

»Klingt wie eine Drohung«, scherzte Pippa.

Kästner lachte herzlich. »Ist es auch. Vor Viktor und Dorabella haben hier alle Respekt. Alle. Ohne Ausnahme. Sogar meine Holde.« Er wandte sich zum Haus und rief: »Gerdi! Unser Gast ist da!«

Eine sportlich wirkende junge Frau trat aus der Tür. Sie hatte schwarze, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare, trug ein einfaches Shirt und über dem Knie abgeschnittene Jeans. Ihre ganze Erscheinung erinnerte Pippa an jemanden, aber ihr wollte nicht einfallen, an wen.

Gerdi begrüßte sie ebenso herzlich wie Stephan und bat Pippa an einen gedeckten Tisch. »Setz dich doch. Waldmeisterbowle?«

Pippa nickte und stellte zufrieden fest, dass hier allein Viktors Wort gereicht hatte, sie nahtlos in die Gruppe der erwünschten Personen einzureihen.

Dorabella und Herr X saßen bei Kerzenschein auf einem Samtsofa in Doras Häuschen. Vor ihnen standen zwei gefüllte Weingläser und eine zierliche Porzellan-Etagere mit Pralinen. Herr X holte aus einer Keramikdose ein paar getrocknete Blüten, zerrieb sie zu kleinen Krümeln und stopfte diese in eine langstielige Tabakspfeife, die er Dorabella reichte.

»Meine Liebe, dir gehört der erste Zug.«

»Nach dir«, sagte Dorabella.

Herr X knipste ein Feuerzeug an, hielt die Flamme an den gefüllten Pfeifenkopf und zog. Es knisterte leise, und Herr X inhalierte tief. Als er den Rauch ausblies, verbreitete sich süßlich-würziger Duft im Raum. Er reichte die Pfeife an Dorabella weiter und hielt die Flamme an den Kopf, während die alte Dame rauchte. Ihr Blick wurde verschwommen, und sie lehnte sich entspannt zurück.

Herr X kicherte. »Also wirklich! Kein Auge zubekommen! Schauspielerin!«

Die Pfeife wanderte noch einmal zwischen ihnen hin und her, dann legte Herr X sie im Aschenbecher ab. Er warf Dorabella, die mit geschlossenen Augen im Sofa lehnte, einen besorgten Blick zu. Als hätte sie es gespürt, öffnete sie die Augen.

»Geht es dir gut, Dora?«

Sie nickte. »Sieht man das nicht?«

Herr X lächelte. »Du hast mit Appetit Erbsensuppe gegessen, habe ich gehört. Das hat mich gefreut.«

Sie deutete auf die erloschene Pfeife. »Dank Mother Hemp. Was würde ich in meiner Lage nur ohne meine beste Freundin tun? Ich bin so froh, dass ihr mich mit ihr bekannt gemacht habt.«

»Ich möchte nicht wissen, was du gedacht hast, als wir dir davon erzählt haben«, sagte er.

Dorabella forderte ihn mit einer Geste auf, die Pfeife noch einmal zu stopfen. »Das kann ich dir sagen, mein Freund. Ich war entsetzt. Ich sollte Drogen konsumieren? Hasch rauchen?«

»Gras«, korrigierte er liebevoll.

Sie winkte ab. »Was auch immer. Drogen jedenfalls. Verbotene Drogen. Damals wusste ich ja nicht, dass es mir wirklich hilft, meine Krankheit auszuhalten.«

»Das konnten wir nicht mehr mit ansehen. Du bist immer dünner und schwächer geworden, weil du keinen Appetit mehr hattest«, erinnerte er sich.

Dorabella wurde ernst. »Ich kann verstehen, warum die jungen Leute gerne Gras rauchen. Es entspannt und macht friedlich.«

Herr X runzelte die Stirn. »Alles zur richtigen Zeit und am richtigen Ort. Ich möchte nicht von einem bekifften Autofahrer über den Haufen gefahren werden. Und viele Jugendliche fangen einfach zu früh damit an. Die werfen dann die Schule hin, weil sie morgens schon bedröhnt sind.«

»Aber für mich ist es ein Segen. Es hilft mir wie kein anderes Medikament. Ist es nicht widersinnig, dass ich ohne Probleme Morphium bekomme, von dem ich todsicher süchtig werde, mich mit diesem kleinen Pfeifchen aber strafbar mache?«

»Na, in deinem Alter würden sie dich bestimmt nicht in den Knast stecken.«

Er reichte ihr die Pfeife. Ihre Hände zitterten leicht, die blauen Adern standen stark hervor.

»Aber sie würden mir meine Pflanzen wegnehmen. Und dann …«

»Die sind in deinem Gewächshaus gut versteckt. Einseitig durchsichtiges Glas. Tolle Erfindung. Es kann nichts passieren.«

»Dein Wort in Gottes Ohr«, sagte Dorabella und ließ sich von ihm Feuer geben.

»Kann ich dir helfen?«, fragte Pippa.

Gerdi Kästner schüttelte den Kopf. »Ist alles fertig. Wir warten nur noch auf meinen Bruder – ah, da ist er ja. Dann können wir anfangen. Kinder! Hände waschen! Nante, hilfst du Stephan mit dem Fleisch?«

Pippa drehte sich verblüfft um. »Nante! Sie sind Gerdis Bruder? Deshalb kam sie mir so bekannt vor.«

Nante verbeugte sich vergnügt. »Sie ist die Ältere und Weisere. Und ich kann besser dichten.«

»Ihr siezt euch?« Stephan warf einen amüsierten Blick auf Nante und Pippa. »Aber nicht in Parzelle 7.«

Ein paar Minuten später saßen alle an der Tafel. Schüsseln mit Kartoffel- und Tomatensalat wurden herumgereicht, jeder nahm sich Fleisch und Bratwürstchen von der großen Platte in der Mitte des Tisches.

»Wohnst du bei Opa Viktor?«, fragte Anton, der trotz seiner knapp fünf Jahre Würstchen am laufenden Meter vertilgte.

»Nur, solange Opa Viktor im Urlaub ist », sagte Pippa.

»Machst du auch alles so wie Opa Viktor?«, piepste Luise, das lebhaftere der Zwillingsmädchen.

»Das hat Emil mich auch schon gefragt. Ich hoffe, ihr helft mir alle, damit ich nichts falsch mache.« Pippa sah Emil an.

Der Junge schielte zu seiner Mutter hinüber. »Wir helfen Opa Viktor im Garten. Unkraut zupfen und Hühner füttern, Gras zusammenrechen, wenn er gemäht hat. Oder wir pflücken die Erdbeeren und Johannisbeeren.«

»Klingt ganz so, als wäre ich da ebenfalls auf eure Hilfe angewiesen.«

Die Kinder warfen sich besorgte Blicke zu. Pippa ahnte, dass ihr eine wesentliche Information fehlte. Sie wollte gerade nachfragen, als Nante sie vielsagend ansah. Pippa kombinierte: Viktor hatte den Kindern offenbar ein paar Cent für ihren Einsatz gegeben. Die Kästners machten nicht den Eindruck, als könnten sie es sich leisten, vier Kindern Taschengeld zu zahlen.

»Ich werde alles genau so machen wie Opa Viktor, das verspreche ich euch.«

Die Geschwister strahlten erleichtert. Das schon fest verschlossen geglaubte Tor zu Brausebonbons, Schaumwaffeln und Lakritz war wieder geöffnet.

Jetzt hielt es die Kinder nicht mehr auf den Stühlen. Auf ein Nicken ihres Vaters liefen alle vier zurück zum Sandkasten.

»Nur noch fünf Minuten«, rief Gerdi den Kindern hinterher. »Dann ab ins Bett.«

»Hoffentlich weißt du, was da alles auf dich zukommt, Pippa. Die vier können sehr anhänglich sein.« Nante lächelte. »Und sie suchen immer jemanden, der ihnen vorliest. Eine echte Tortur, von der man nur wieder loskommt, wenn Herr X oder Dorabella ablösen.«

Stephan Kästner zwinkerte in die Runde. »Apropos Herr X. Heute Nacht war wieder Vollmond, habe ich gehört.«

Er und Nante prusteten los.

»Vollmond?«, fragte Pippa erstaunt. »Gestern war Neumond.«

Gerdi rollte mit den Augen. »Ihr Kindsköpfe. Findet ihr es lustig, unseren Gast zu veräppeln? Du musst wissen, Pippa: Vollmond hat hier eine … andere Bedeutung.«

Stephan kicherte, und Nante erklärte: »Herr X badet heimlich in Erdmanns Pool, wenn der nicht da ist. Nackt.« Er machte eine Kunstpause und forschte in Pippas Miene nach einer Reaktion. Dann fuhr er fort: »Und wenn sein Allerwertester in der Nacht leuchtet …«

»… dann ist auf Schreberwerder Vollmond!«, vervollständigte Gerdi den Satz ihres Bruders und grinste.

Pippa ließ sich von der allgemeinen Heiterkeit anstecken und lachte mit. Die Vorstellung, wie der schüchterne Herr X splitterfasernackt durch die Nacht schlich, um in Lutz Erdmanns Luxuspool seine Bahnen zu ziehen, hatte ihren Reiz.

»Hallo, Nachbarn!«

Pippa reckte den Hals, um zu sehen, wer gerufen hatte. Am Zaun, der die Kästnersche Parzelle vom Grundstück der Peschmanns trennte, stand die Frau, die Pippa tags zuvor mit ihrer Familie beim Verlassen der Rieke gesehen hatte.

Nante und Stephan reagierten nicht, aber Gerdi Kästner sagte knapp: »Tag, Pia. Was gibt’s?«

»Wir räumen unsere Hütte aus, aber wir können nicht alles mitnehmen. Wollt ihr mal gucken, ob ihr irgendetwas gebrauchen könnt?«

»Die feinen Herrschaften«, grollte Nante leise, »wollen den alten Krempel wohl nicht mehr, wo sie jetzt Aussicht auf Erdmanns Geld haben.«

»Nante!«, mahnte Gerdi. Dann rief sie laut: »Für uns nicht, Pia, die Hütte platzt schon aus allen Nähten. Aber danke, dass du an uns gedacht hast.«

Pia Peschmann wollte sich schon umdrehen, als Pippa spontan aufstand und sagte: »Ich würde das Angebot sehr gern annehmen, wenn ich darf. Ich bin Pippa Bolle. Ich hüte Viktor Hausers Parzelle, solange er unterwegs ist.«

Sie war neugierig, die Verräter näher kennenzulernen.

»Gern«, erwiderte Pia Peschmann, »komm rüber.« Sie winkte den Kästners noch einmal freundlich zu und ging dann wieder in ihr Häuschen.

»Ihr nehmt es mir doch nicht übel, wenn ich mir die Sachen mal ansehe?«, fragte Pippa ihre Gastgeber.

»Natürlich nicht. Schön, dass du bei uns warst.« Gerdi lächelte.

»Du willst doch nicht wirklich zu denen da drüben …«, fuhr Nante auf, wurde aber von seiner Schwester mit einem erneuten scharfen »Nante!« gebremst. Stephan sagte nichts.

»Danke, dass ich euer Gast sein durfte«, verabschiedete sich Pippa, »ich revanchiere mich, versprochen.«

Alle persönlichen Gegenstände hatte die Familie bereits eingepackt, und ihr Häuschen sah nackt und unbewohnt aus.

Pia Peschmann schüttelte Pippa die Hand. »Ich heiße Pia.«

»Ich bin Pippa.«

»Ein schöner Name – Pippa. Ungewöhnlich. Englisch?«

Pippa nickte. »Meine Mum ist Britin mit einer ausgeprägten Vorliebe für Namen, die es nicht nur in Deutsch und Englisch gibt, sondern die auch Doppelkonsonanten enthalten. Mein Vater zieht meine Mutter regelmäßig damit auf, dass er bei ihr nur eine Chance hatte, weil er Bolle heißt.«

Pippa blickte sich neugierig um. »Und das wollt ihr alles zurücklassen? Die Möbel sind doch in Ordnung.«

»Wir ziehen nach Toulouse«, erklärte Pia, »mein Göttergatte arbeitet bei Airbus. Bisher ist er wochenweise gependelt, aber wir haben uns entschieden, endlich mitzugehen. Und jetzt fangen wir langsam an, unsere Zelte in Berlin abzubrechen.« Sie seufzte. »Ich werde Schreberwerder furchtbar vermissen. Aber je konsequenter ich mich trenne, desto besser.«

Ein verschwitzter Mann kam zur Tür herein. Er stutzte bei Pippas Anblick.

»Darf ich vorstellen? Jochen, mein Mann. Jochen, das ist Pippa. Sie hütet Viktors Parzelle, solange er in …?« Sie sah Pippa hilfesuchend an.

»Italien«, soufflierte Pippa.

»In Italien ist«, beendete Pia Peschmann ihren Satz.

»Freut mich«, sagte Jochen Peschmann. »Deine Bekanntschaft zu machen, meine ich. Nicht, dass Viktor in Italien ist.« Er lachte. »Ich rede wirres Zeug. Einfach nicht auf mich hören. Dieser Umzug macht mich konfus.«

»Bist du draußen fertig?«, fragte Pia, und ihr Mann nickte.

»Dann ab unter die Dusche, und ich mache uns einen Tee. Du auch eine Tasse, Pippa?«

Pippa nickte. Ihre Neugier wuchs mit jeder Minute, die sie in der Gesellschaft der beiden verbrachte. Durch die offene Aversion der übrigen Inselbewohner den »Verrätern« gegenüber hatte sie sich das Ehepaar anders vorgestellt: kleingeistig, geldgierig, ohne Moral.

Pia stellte eine Dose mit Keksen und drei angeschlagene Porzellanbecher auf den einfachen Esstisch. »Du musst entschuldigen, die Tassen sind etwas rustikal, aber das meiste ist schon in Kartons.«

»Auf den Inhalt kommt es an, nicht auf die Verpackung«, sagte Pippa und setzte sich.

Jochen tauchte in frischer Kleidung und mit feuchten Haaren wieder auf.

»Du arbeitest in Toulouse? Die Gegend soll ja sehr schön sein.«

»Ich zeige dir Fotos!« Pia sprang auf und verschwand im Nebenraum.

»Ich liebe die Stadt«, sagte Jochen, »sie ist jedem gegenüber tolerant. Ein bisschen wie Berlin.«

Pippa zuckte innerlich zusammen.

Sie konnte nur hoffen, dass niemand je herausfand, wie weit sie sich von dieser Toleranz entfernt hatte, als sie bereit gewesen war, die Meinung der anderen über die Peschmanns völlig kritiklos zu übernehmen. Sie blätterte durch das Fotoalbum, das Pia ihr gebracht hatte, und betrachtete interessiert die wunderschönen Landschaftsaufnahmen des Canal du Midi, der Garonne und der Montagne Noir.

Jochen strahlte Pippa an. »Wir suchen bereits nach einem passenden Haus in der Umgebung von Toulouse. Mit den fünfundzwanzigtausend, die uns Erdmann für unsere Parzelle versprochen hat, kommen wir unserem Traum ein ganzes Stück näher. Damit könnten wir eine ordentliche Anzahlung leisten.«

Unter den Dingen, die den Umzug nach Frankreich nicht mitmachen würden, entdeckte Pippa nicht nur einige Kerzenständer, die ihr gefielen, sondern auch einen breitkrempigen Sonnenhut mit roter Schleife samt riesiger Hutnadel. Voll bepackt machte sie sich in der Dunkelheit auf den Heimweg.

Es war der erste wirklich warme Juniabend, und der feine Sand knirschte unter ihren Schritten, als sie auf Viktors Haus zuging. Sie dachte daran, wie sehr sie sich auf Karin freute, als eine Männerstimme sie unvermutet ansprach.

»Pippa Bolle, nicht wahr?«

Sie fuhr erschrocken herum, und zwei der Kerzenständer landeten im Sand.

Ein Mann, etwas jünger als sie selbst, war auf den Weg getreten. Er lächelte und deutete eine Verbeugung an. »Wenn ich mich vorstellen darf: Lutz Erdmann. Und Sie sind die junge Dame, die Viktors Platz eingenommen hat, möchte ich meinen.«

»Stimmt«, sagte Pippa, während sie darauf wartete, dass ihr Gegenüber sich als Kavalier erwies und die Kerzenständer aufhob, damit sie den Rest ihrer Ladung nicht auch noch verlor.

Erdmann trug einen Anzug und feine Lederschuhe. Er hatte viel Gel gebraucht, um seine Naturkrause zu bändigen, was ihn etwas unseriös wirken ließ. Aber da Pippa heute schon einmal auf ihre Vorurteile hereingefallen war, ermahnte sie sich, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen.

»Machen Sie mir bitte die Freude, zu meiner Party morgen Abend zu kommen. Gern in Begleitung.« Er machte eine Pause und schmalzte: »Eine so attraktive Frau wie Sie ist doch bestimmt nicht allein auf der Welt …«

»Ich komme gern, Herr Erdmann«, sagte Pippa und ließ ihren Blick demonstrativ zu den Kerzenständern hinunterwandern.

Hastig bückte er sich, hob mit spitzen Fingern die staubigen Gegenstände auf und legte sie Pippa in den Arm.

Pippa nickt ihm zu und ging weiter.

Lutz Erdmann starrte Pippa Bolle aus zusammengekniffenen Augen hinterher. Er rang um Fassung.

Gerade noch hatte er geglaubt, alle Komponenten der komplizierten Schreberwerder-Gleichung zu kennen, da tauchte im wahrsten Sinne des Wortes eine Unbekannte auf.

Eine Unbekannte, die sich erdreistete, ihn aufzufordern, altes Gelumpe aus dem Dreck zu klauben. Sie sollte mal ein paar Kilo abnehmen, dann müssten sich nicht andere für sie bücken. Etliche Kilo, für seinen Geschmack. Seinem Beuteschema entsprach diese Frau definitiv nicht, aber wenn er seinen speziellen Charme bei ihr einsetzen musste, um an Viktors Parzelle zu kommen, würde er das tun. Er sollte sich an sie heranmachen, bevor sie unter den Einfluss der Schlittwitz-Hexe geriet. Aber auch für die Alte hatte er noch eine kleine Überraschung in petto, die ihr die Entscheidung, doch noch an ihn zu verkaufen, deutlich erleichtern würde.

Lutz lachte leise. Vielleicht dauerte es so etwas länger, aber er würde jede einzelne Parzelle kriegen, eine nach der anderen. Und wenn er die Dicke mit dem albernen Sonnenhut dafür flachlegen musste, würde er auch das tun.