Am nächsten Tag traf Viktor Hauser wieder auf Schreberwerder ein. Er war blass, aber beherrscht und redete nur das Nötigste. Luis, Herr X und er setzten sich sofort zusammen, um die Trauerfeier zu planen und die letzten Wünsche ihrer Freundin zu erfüllen.
Bereits vor Jahren hatte Dorabella mit einem Bestatter eine Vereinbarung geschlossen und alles vom Grabplatz bis zur späteren Grabpflege bezahlt und organisiert. Die Trauerfeier sollte auf Schreberwerder stattfinden, danach würde die Rieke den Sarg und die Trauergemeinde die Havel hinauf zum Friedhof Heiligensee zur Beisetzung bringen.
Obwohl Viktor Hauser ihr angeboten hatte, dass er bei Luis oder Herrn X übernachten könne, entschied sich Pippa für Doras Häuschen, um den Trauernden Zeit für sich selbst zu geben. Dennoch brachte sie es nicht fertig, dort zu schlafen. Sie beschloss, die Nacht im Freien zu verbringen und schleppte eine Gartenliege hinter Doras Haus. Ihre Melancholie würde sie mit einer Flasche von Dorabellas Schlehenwein vertreiben.
Zum Abendessen ging Pippa zu Karin, die einen Topf Spaghetti mit Tomatensauce gekocht hatte.
»Kommen die anderen auch?«, fragte Pippa und umarmte die Freundin. »Kann ich dir noch helfen?«
»Nein, wir zwei sind ganz unter uns. Matthias und Lisa sind kurz in die Transvaal zurück, und sowohl mein Vater als auch Luis und Herr X nehmen zurzeit ausschließlich flüssige Nahrung zu sich. Sven schläft. Und ja, du darfst Parmesan reiben.«
»Sven schläft? Immer noch oder schon wieder?«
»Zwischendurch war er wach, aber er spricht kein Wort. Ich hatte ihm vorgeschlagen, Ida zu holen, doch darauf hat er so entsetzt reagiert, dass ich davon abgesehen habe.«
Pippa ließ das Stück Parmesan sinken. »Ida Marthaler? Wieso denn ausgerechnet sie?«
»Sie versteht etwas von Homöopathie und anderen Heilmitteln. Du weißt schon, Schüssler-Salze und so. Dora hat sie auch zur Seite gestanden, soweit ich weiß.« Karin lachte leise. »Leider ist Ida aber nicht nur irgendeine Biochemikerin und Nachbarin auf Schreberwerder, sondern gleichzeitig auch Svens Schuldirektorin.«
»Du meine Güte! Kein Wunder, dass Sven sie nicht an seinem Bett sitzen haben will.«
Nach dem Essen bat Karin Pippa, bei Sven zu bleiben, während sie sicherstellte, dass es Viktor an nichts fehlte.
Sven lag im Nebenzimmer auf dem Bett seiner Eltern. Er schlief, warf sich aber unruhig hin und her. Pippa setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und beobachtete ihren Patensohn besorgt, als Sven im Schlaf unzusammenhängende Wörter zu murmeln begann. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen.
»Haben Sie …«, stammelte er, »… Ich bin nicht schuld … Warum … Nein! … Tante Dora! Nein, bitte …!«
Mit einem lauten Schrei fuhr er hoch, starrte blicklos und verwirrt um sich und keuchte: »Ich habe nichts gesehen, ehrlich!«
Seine Augen wurden klar, und er fuhr wie ertappt zusammen, als er Pippa erkannte. »Tante Pippa! Wo ist Mama?«
Pippa sah ihn forschend an. »Hattest du einen schlechten Traum?«
Er wandte den Blick ab und flüsterte: »Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern.«
»Soll ich dir das glauben? … Erzähl schon. Das erleichtert. Es bleibt unser Geheimnis, wenn du möchtest.«
Svens Augen taxierten Pippa genau. »Versprochen?«
»Du kannst dich auf mich verlassen.«
Sven nickte langsam. »Ich war da in der Nacht.«
»Welche Nacht? Wo?«, fragte Pippa erstaunt.
»Bei Tante Dora. In ihrem Gewächshaus.«
»Was hast du denn mitten in der Nacht im Gewächshaus gemacht? Ich dachte, du passt mit Lisa auf die Kästner-Kinder auf.«
Sven wurde knallrot. »Hab ich ja auch. Aber Lisa wollte sich von Daniel allein verabschieden, und da haben die beiden Bonnie zu mir geschickt.« Sven sah Pippa verlegen an. »Die ist nun wirklich nicht meine Kragenweite. Viel zu jung. Die ist genauso schnell eingeschlafen wie die Kästner-Kinder. Und da bin ich nur kurz mal weg, um was zu holen.«
»Aus Dorabellas Gewächshaus?« Pippa schüttelte den Kopf. »Was gibt es denn da zu holen?«
Sven biss sich schuldbewusst auf die Lippen. Er winkte sie nahe zu sich und flüsterte ihr ins Ohr: »Gras.«
Pippa war sofort klar, dass er damit nicht etwa Zierrasen meinte, und lachte laut auf. »Aus Dorabellas Gewächshaus. Sicher.«
»Doch, ehrlich! Die haben da Cannabis gezüchtet.« Plötzlich grinste er breit. »Gutes Cannabis. Und ich weiß, wo der Schlüssel zum Vorhängeschloss ist.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Pippa. »Du nimmst mich doch auf den Arm.«
»Kannst du aber glauben«, feixte Sven. »Ich habe die beiden kiffen sehen. Tante Dora und Herrn X. Ganz bestimmt.« Langsam wurde Sven munterer. »Ich habe das zufällig entdeckt. Wir brauchten mal so eine Schere, um Rosen abzuknipsen, und Mama hat gesagt, ich soll Tante Dora fragen. Aber die war nicht da, und ich dachte, sie hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich in ihrem Gewächshaus nachsehe und mir die Schere ausborge. Und da habe ich es gesehen: ungefähr zwanzig Cannabispflanzen mit riesigen Blüten. Echt, Wahnsinn.«
»Das war bestimmt diese andere Cannabispflanze, die Lutz Erdmann anbauen will. Und die beiden haben schon mal …«
Sven schüttelte bestimmt den Kopf. »Die hätten doch überhaupt keine Wirkung, wenn man die raucht. Und die von Tante Dora … oh, Mann. Die haben gewirkt.«
»Also gut. Dora hat Cannabis angebaut, und in der Nacht, als sie starb, wolltest du dir etwas holen.« Pippa holte tief Luft. Svens Schockzustand ließ sich nicht damit erklären, dass er sich vielleicht zufällig in Dorabellas Nähe aufgehalten hatte, als sie starb.
Vorsichtig fragte sie: »Und weiter?«
»Ich … ich habe sie gesehen. Sie kam aus dem Haus von Tante Dora. Und … und dann war Tante Dora tot!« Sven ließ sich erschöpft zurück in die Kissen fallen. »Tot!«, flüsterte er.
Pippa wartete, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Und du hast jemanden gesehen.«
Sven nickte zögernd.
»Sven, wen hast du gesehen?«
Er sank in sich zusammen und schwieg.
»Sven, es ist sicher ganz harmlos, aber es ist nicht gut, wenn du es mit dir herumschleppst und vielleicht irgendjemanden grundlos verdächtigst.«
Er wand sich in offensichtlicher Pein. Schließlich flüsterte er kaum hörbar: »Frau Marthaler. Sie ist aus Tante Doras Haus gekommen. Genau um Mitternacht. Und jetzt ist Tante Dora tot.«
Pippas Gedanken überschlugen sich. Ida Marthaler war vielleicht die Letzte, die Dora lebend gesehen hatte – und sie hatte Freddy nichts davon erzählt!
»Sven, war Tante Dora auch da, als Frau Marthaler im Haus war? Hast du sie gesehen?«
Sven schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gesehen, ich habe aber auch nicht nachgeschaut. Ich wollte doch nicht, dass mich jemand sieht … Ich war so erschrocken, als die Marth… äh, Frau Marthaler plötzlich aus der Tür kam, ich konnte mich gerade noch verstecken. Und als sie weg war, bin ich ganz schnell zurück zu den Kästners. Ich hatte ja keine Ahnung.«
Er sah sie ängstlich an.
»Meinst du, ich hätte Tante Dora noch retten können?« Seine Stimme klang vor Angst kindlich und dünn.
»Nein, sicher nicht. Als deine Lehrerin gegangen ist, war bestimmt noch alles in Ordnung.«
Pippa spürte selbst, dass ihre Antwort nicht ganz glaubhaft klang, aber Sven schien zufrieden zu sein.
»Weißt du«, sagte er, »ich habe einen Moment lang gedacht, dass vielleicht die Marthaler Tante Dora umge… Aber wenn ich mich vertan hätte und hätte sie beschuldigt … das Abi hätte ich mir abschminken können.«
»Ich verstehe – böse Zwickmühle. Aber für einen Mord braucht man ein Motiv. Und Frau Marthaler hatte gar keinen Grund, Dorabella etwas zu tun. Sie waren einfach nur langjährige Nachbarn.« Pippa versuchte, so zuversichtlich wie möglich zu klingen. Sie hätte nicht sagen können, ob sie mit diesen Worten eher sich selbst oder ihren Patensohn zu beruhigen versuchte.
»Wenn du willst, kann ich ja mal mit Frau Marthaler reden«, sagte sie. Als sie Svens alarmiertes Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Ich werde natürlich sagen, dass ich sie gesehen habe, als sie aus dem Gartentor kam. Was meinst du?«
Sven nickte. »Gute Idee.« Er sah erleichtert aus.
»Du wirst sehen, es gibt immer eine Erklärung. Für alles.«
Was sie nicht laut aussprach, war, dass eine Erklärung nicht immer harmlos sein musste.
Das Gespräch mit Sven ging Pippa noch immer durch den Kopf, als sie schon längst in ihren Schlafsack gekuschelt die Sterne über sich betrachtete. Ida Marthaler, die nachts aus Dorabellas Haus kam und der Polizei diesen wichtigen Umstand verschwieg … und ein Gewächshaus voller Marihuana.
Pippa überlegte, mit wem sie darüber sprechen sollte. Mit Herrn X, der offenbar Doras heimliche Leidenschaft geteilt hatte? Oder mit Viktor, der Dora mehr als nur freundschaftlich verbunden gewesen war? Ob es ein Testament gab, das die beiden bedachte? Oder sollte sie mit Nante reden, für den Dorabella sogar ihre Ersparnisse opfern wollte und der nun den Schrebergarten der Peschmanns nicht würde kaufen können?
Langsam driftete Pippa in den Schlaf, mitten hinein in einen wilden Traum, in dem sämtliche erwachsenen Bewohner Schreberwerders in bunter Hippiekleidung in Dorabellas Garten auf dem Rasen saßen, riesige Joints kreisen ließen und selbstgebrannten Schlehenschnaps tranken.
Die Klinke knarrte leise, als die schwarz gekleidete Gestalt sie vorsichtig hinunterdrückte. Die Person hielt einen Moment inne, um zu lauschen. Dann huschte sie auf Zehenspitzen hinein und zog die Tür hinter sich zu, gab sich aber keine besondere Mühe, leise zu sein.
Der dünne Lichtstrahl einer Taschenlampe tanzte zitternd durch den Raum und verharrte auf Dorabellas zierlichem Kirschholz-Sekretär. Eine Schublade nach der anderen wurde quietschend aufgezogen und wieder geschlossen, alles wurde langsam und vorsichtig nach einem Mechanismus für ein eventuelles Geheimfach abgetastet.
Schließlich zog die Gestalt scharf die Luft ein und drückte auf einen verborgenen Knopf. Mit leisem Klicken öffnete sich ein verstecktes Fach, und der Eindringling zog einen Briefumschlag hervor, der mit den Worten Mein letzter Wille beschriftet war. Er faltete ihn nachlässig zusammen und stopfte ihn sich hinten in die Hosentasche.
Wie ein Schatten huschte die Gestalt wieder zur Tür hinaus, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass auf Schreberwerder alles ruhig war. Leise Schritte knirschten auf dem feinen Sand der Dorfstraße.
Pippa lag mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem auf der Gartenliege. Ein Geräusch hatte sie aus tiefstem Schlaf hochfahren lassen. Sie versuchte sich zu orientieren. Auf einmal war sie sich völlig sicher, dass da noch jemand war.
Sie aktivierte durch einen Knopfdruck die Beleuchtung ihrer Armbanduhr. Die Ziffern schimmerten rot in der Dunkelheit und zeigten die Uhrzeit: 3.28 Uhr. Selbst Herr X würde um diese Zeit nicht einfach Dorabellas Haus betreten, geheime Schranktür hin oder her. Oder konnte Viktor nicht schlafen und war noch einmal in Doras Haus gegangen, um Abschied zu nehmen?
Krampfhaft versuchte Pippa, sich zu beruhigen. Gerade als sich ihr Herzschlag wieder normalisierte, klappte leise die Haustür zu und versetzte ihr einen erneuten Schreck. Kaum hörbare Schritte entfernten sich Richtung Steg.
Pippa befreite sich aus dem warmen Schlafsack und schlich auf Zehenspitzen zur Vordertür. Die Insel lag völlig ruhig da, nur die Wellen klatschten leise an das nahe Ufer. Pippa konnte plötzlich nicht mehr sagen, ob sie die Geräusche nicht doch geträumt hatte. Sie beschloss, sich im Haus umzusehen.
Im Wohnzimmer schaltete sie das Deckenlicht an. Der hell erleuchtete Raum sah aus wie gewohnt. Wer immer der Eindringling gewesen war – er hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen.