Das ist die Julius«, rief Pippa und sprintete los, Karin direkt hinter sich.
Weit kamen sie nicht, denn Annette Julius taumelte, ununterbrochen schreiend, durch Erdmanns Gartentor und brach in Karins Armen schluchzend zusammen.
»Rot … tot …«, stammelte sie, »rot … Lutz … alles … alles rot …« Sie konnte nicht mehr sprechen, sondern wimmerte nur noch wie ein kleines Kind.
Freddy und Kommissar Schmidt stürmten, dicht gefolgt von den Insulanern, aus Luis’ Inselkantine und bildeten einen Kreis um Karin, Pippa und die schluchzende Architektin. Am Steg sprangen zwei weitere Polizisten aus dem Polizeiboot und waren Sekunden später bei ihnen.
»Was ist hier los?«, fragte Schmidt streng.
»Das ist Frau Julius«, erklärte Pippa, »sie hatte einen geschäftlichen Termin mit Lutz Erdmann. Sie war gerade hinten auf seinem Grundstück, um ihn zu suchen, und …«
Annette Julius hob den Kopf, sah mit leerem Blick um sich und wisperte: »Tot … alles rot … tot …«
Schmidt handelte sofort und befahl knapp: »Sichern. Niemand geht auf das Grundstück. Bolle – mitkommen.«
Freddy und er liefen auf die Parzelle und verschwanden hinter dem Haus.
Die beiden uniformierten Beamten postierten sich rechts und links vom Gartentor. Ihre erste Amtshandlung war, Angelika Christ aufzuhalten, die ebenfalls durch die Schreie alarmiert worden war.
»Lasst mich durch«, schrie sie erbost, »ich will zu meinem Mann! Was ist hier los? Wo ist Lutz? Sie haben kein Recht, mich festzuhalten! Ich will zu Lutz!«
Sie versuchte, sich dem Griff der Polizisten zu entwinden und rief über deren Schultern hinweg immer wieder Lutz’ Namen. Schließlich gab sie auf und drehte sich mit hängenden Schultern um. Ihr Blick fiel auf Annette Julius, die schluchzend in Karins Armen auf dem Boden hockte.
Angelika deutete mit zitterndem Finger auf die Architektin und zischte: »Was wollen Sie denn schon hier? Lutz hat doch gesagt, er holt Sie später …« Sie verstummte, und ihr Körper wurde ganz starr. »Was haben Sie mit ihm gemacht? Warum darf ich nicht zu meinem Lutz?« Sie sah sich um und rief: »Warum stehen hier alle herum wie die Ölgötzen? Warum sagt denn keiner was?«
Matthias nickte Viktor zu. Die beiden griffen Angelika von rechts und links sanft, aber bestimmt unter die Arme. Sie wehrte sich kurz, ließ sich dann aber in Richtung von Wittigs Parzelle wegführen. Immer wieder drehte sie sich um und warf sehnsüchtige Blicke auf Erdmanns Haus.
Im Vorbeigehen raunte Matthias Karin zu: »Was immer hier passiert ist – Angelika sollte es nicht ungefiltert erfahren.«
Luis schüttelte den Kopf. »Wat is denn dit wieder für’n Zirkus? Zickenkriech? Kloppen die sich etwa um Erdmann? Det kapier ich nich’, der jehört jeteert, jefedert und uffjehängt – aber janz bestimmt nich’ jeliebt, dat hat der nich’ vadient. Wat is bloß los mit de Weiber, dat ihr euch immer in so ’ne Kerle vakuckt?«
Weiß ich auch nicht, wüsste ich aber auch gerne, dachte Pippa und reckte den Hals, als Kommissar Schmidt wieder am Gartentor erschien und leise mit den Beamten sprach. Dann zückte er sein Mobiltelefon. Alle konnten hören, dass er Verstärkung rief.
Pippa und Karin halfen der willenlosen Annette Julius auf und führten sie zur Dorfbank. Luis folgte ihnen.
»Weeßte wat?«, flüsterte Luis Pippa zu. »Ick wer’ da mal nach’m Rechten un’ Linken gucken – so viel Zeit muss sein. Bin jespannt, womit sich die Kanallje jetzt wieda wichtich macht. Vonne Polente wer’n wa nischt erfahr’n, und die da …«, er zeigte auf die weinende Annette Julius, »die hat et ja woll die Sprache vaschlaren …«
Er zwinkerte Pippa zu und lief zurück zu seiner Parzelle. Für einen Moment verschwand er aus ihrem Blickfeld, dann beobachtete sie, wie er durch ein Loch in seiner Einfriedung wie selbstverständlich auf Lutz’ Anwesen wechselte und hinter dessen Haus in Richtung Pool verschwand.
Sekunden später sah sie ihn rückwärts taumeln. Er klammerte sich am Zaun fest, den Blick starr geradeaus gerichtet.
Wie in Zeitlupe drehte er den Kopf in ihre Richtung. Sein Gesicht war aschfahl. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten und lehnte sich schwer atmend an einen Pfosten. Dann ließ er los, torkelte auf Erdmanns Gartenpforte zu und drängte sich zwischen den erstaunten Polizisten und Kommissar Schmidt hindurch.
»He, Moment mal!«, sagte einer der Polizisten, aber Luis reagierte nicht.
»Det hat der Mann nich vadient. Det hat keener verdient. Nich’ ma Lutz«, keuchte Luis erschüttert. Er schlurfte langsam zu seinem Haus, an der Bank vorbei, auf der Pippa und Karin noch immer mit der weinenden Annette Julius saßen. Er schaute nicht zu ihnen hinüber.
Die beiden Freundinnen sahen sich alarmiert an, aber bevor sie irgendetwas tun konnten, stellte sich Schmidt vor die schweigend wartenden Insulaner.
Der Kommissar räusperte sich. »Bitte alle herhören! Die Situation hat sich … geändert – niemand darf die Insel verlassen und niemand betritt die Parzelle von Herrn Erdmann.« Der Kommissar machte eine Pause, als suche er nach den richtigen Worten. Dann sagte er:
»Bitte bleiben Sie alle ruhig. So ruhig, wie das unter diesen Umständen geht: Herr Erdmann ist tot. Ich möchte, dass sich alle wieder bei Herrn Krawuttke versammeln, und wenn auch nur einer fehlt, werde ich ungemütlich. Freddy – du holst Frau Christ und die beiden Herren, die sie begleitet haben.«
Freddy nickte und ging zu den Wittigs. Die geschockten Insulaner setzten sich stumm in Bewegung, nur Gerdi und Stephan blieben stehen. Sie hielten ihren Nachwuchs im Arm, der sich schutzsuchend und eingeschüchtert an sie klammerte. Selbst der sonst so forsche Emil war verstummt.
»Sie wollen doch nicht etwa unsere Kinder verhören?«, fragte Gerdi hilflos.
Schmidt schüttelte den Kopf, winkte einen der Beamten heran und sprach leise mit ihm. Der Polizist nickte und rief: »Wer will sich mal ein echtes Polizeiboot angucken?«
Sofort kam Leben in die Kästner-Zwerge. Sie entwanden sich dem Griff der Eltern und stürmten jubelnd zu dem Beamten, der Luise und Lotte an die Hand nahm, »Im Gleichschritt Marsch!« befahl und mit den Kindern zum Steg ging.
Schmidt bemerkte den besorgten Blick der Eltern und sagte: »Sie sind in guten Händen. Der Kollege macht Verkehrserziehung in Kindergärten und Grundschulen, die Kleinen werden Spaß mit ihm haben. Darf ich Sie jetzt bitten …?«
Gerdi und Stephan gingen eng umschlungen zur Inselkantine, während sich in schneller Fahrt mehrere Polizeiboote mit heulenden Sirenen näherten und am Steg anlegten.
Als Angelika von Matthias in Luis’ Haus geführt wurde, goss Luis ihr sofort eine Handbreit Whisky ein und ging damit zu ihr. Sie starrte ihn wütend an und schlug ihm dann mit einer überraschend schnellen Bewegung das Glas aus der Hand.
»Du warst das. Du hast ihn gehasst«, fauchte sie, »du wolltest ihn tot sehen. Du mit deinem ewigen Gerede über den Tod seines Vaters, du hast ihm das Leben zur Hölle gemacht.«
Luis ging ruhig hinter seine Bar, füllte ein weiteres Glas Whisky bis zum Rand und trank es in einem Zug aus. Dann sagte er: »Du hast recht, Angelika, det hab’ ick jesacht. Aba irjendwie hab’ ick dabei nich wirklich jewusst, wat ick sare. Un so wat hab ick schon jarnich jemeent. Du musst ma glooben, dat ick seinen Tod nich wollte. Janz bestimmt nich. So wat hat niemand verdient.«
»Ach, wo kommt denn plötzlich dein schlechtes Gewissen her? Tut dir deine Tat schon leid, ja?«, keifte Angelika. »Kann schon sein, dass du ihn nicht selbst getötet hast, aber deine Redereien haben jemand anderen angestiftet. Du bist ein Mörder oder ein Handlanger – das kommt aufs Gleiche heraus, Luis, hörst du? Du bist ein Mörder, hörst du? Mörder! Mörder! Mör…«
Klatsch!
Ida Marthaler war mit schnellen Schritten herangekommen und hatte Angelika eine Ohrfeige verpasst. Diese stieß einen quiekenden Laut aus und verstummte.
Luis hatte Tränen in den Augen, als er sagte: »Allet nur wejen die vermaledeite Insel. Wat passiert denn hier nur mit uns? Ick vasteh’ det allet nich’ mehr. Un wenn Angelika recht hätte …« Er schüttelte den Kopf. »… denn könnt’ ick keene Nacht mehr schlafen.«
»Das würde dir recht geschehen, alter Mann«, erwiderte Angelika mit harter, überraschend fester Stimme. »Ich werde jede einzelne deiner Drohungen an die Polizei weitergeben, und dann gnade dir Gott. Du sollst büßen. Du hast mein Lebensglück zerstört.«
Alle blickten zur Tür, als Kommissar Schmidt in Begleitung einer jungen Frau eintrat und damit die Auseinandersetzung zwischen Angelika und Luis beendete.
»Das ist meine Kollegin, Frau Kallwey«, sagte Schmidt. »Sie wird vorerst bei Ihnen bleiben. Ich werde Sie nacheinander einzeln zum Verhör holen lassen. Ich warne Sie: keine Tricks. Der Spaß ist vorbei. Endgültig. Solange Sie mich nicht vom Gegenteil überzeugen, sind Sie alle verdächtig.«
Er drehte sich auf dem Absatz um und knallte die Tür hinter sich zu. Die Insulaner sahen sich betroffen an. Nur Angelika Christ lächelte.
Freddy stand auf dem Dorfplatz und verteilte die eintreffenden Kollegen an ihre Einsatzorte. Den Erkennungsdienst und den Notarzt samt Team schickte er zu Erdmanns Parzelle. Einen Sanitäter hielt er zurück und bat ihn, sich um die unter Schock stehende Annette Julius zu kümmern.
Als Freddy die Inselkantine betrat, ging Pippa sofort auf ihn zu, aber ihr Bruder schüttelte den Kopf. »Ich löse nur Frau Kallwey ab. Ich bin im Dienst. Versuch gar nicht erst, mich auszuquetschen. Ihr seid es, die hier die Fragen beantworten.«
Pippa hockte in der Kajüte eines der Polizeiboote und wartete auf ihr Verhör. Ein Beamter hatte sie begleitet und sich dann auf dem Steg postiert. Durch das Fenster sah sie, dass die Rieke anlegte und ein Polizist mit Nante sprach, der bestürzt auf die Insel sah und sofort wieder losfuhr.
Dann beobachtete Pippa entsetzt, wie Luis in Handschellen auf ein Polizeiboot gebracht wurde, das sofort ablegte und beschleunigte. Pippa ging nervös auf und ab. Sie konnte sich keinen Reim auf die Vorkommnisse machen – und sich vor allem nicht vorstellen, wie Angelika die Polizei dazu gebracht hatte, Luis mitzunehmen.
Erleichtert sprang sie auf, als Schmidt und seine Kollegin eintraten.
»Mussten Sie Luis unbedingt verhaften? Er ist ein alter Mann, und nur weil Angelika …«
Schmidt musterte Pippa von oben bis unten. »Auch Ihnen einen guten Tag, Frau Bolle. Das ist meine Kollegin, Kommissarin Kallwey«, sagte er.
»Ja, ja, natürlich.« Pippa wollte sich nicht geschlagen geben. »Aber wenn Sie Ihre Arbeit gut machen, wird Ihnen auffallen, dass Luis es nicht gewesen sein kann. Sehen Sie ihn doch an. Er ist ein alter Mann. Sie können nicht ernsthaft glauben, dass er sich irgendetwas hat zuschulden kommen lassen. Das ist völlig absurd. Luis ist ein unbescholtener Bürger, der von einer verwirrten Frau beschul…«
»Stopp!«, unterbrach Schmidt sie brüsk. »Es reicht. Ich habe genug von dieser Insel, auf der jeder Dreck am Stecken hat und sich trotzdem immer ein Engelschor findet, der sein Loblied singt. Unbescholtene Bürger? Dass ich nicht lache. Die hier versammelte kriminelle Energie reicht aus, um … um …«, er suchte nach Worten, »um Jesse James wie einen verdammten Heiligen aussehen zu lassen! Glauben Sie wirklich, wir nehmen jemanden fest, nur weil eine trauernde Frau nach Rache schreit und ihn beschuldigt? Da kann ich Sie beruhigen. Wir haben triftige Gründe.«
Pippa zeigte auf Frau Kallwey und wollte etwas sagen, aber Schmidt ließ sie nicht zu Wort kommen. »Und bevor Sie fragen: Nein, Sie dürfen niemanden von diesen Übergeschnappten dabeihaben und Sie dürfen Frau Kallwey auch nicht gegen Ihren Bruder austauschen. Der hat genug damit zu tun, Schreberwerders letzte Überlebende in Schach zu halten. Jedenfalls die, die meine Kollegen nicht gerade in Zwangsjacken aufs Kommissariat verfrachten oder denen der Doktor Beruhigungsspritzen verabreicht. Ende der Durchsage.«
Pippa musste zugeben, dass der Kommissar sie eingeschüchtert hatte. Seine Kollegin verzog keine Miene und sah sie unverwandt an.
»Ich … ich bin doch auch entsetzt darüber, dass hier einer nach dem anderen stirbt. Das können Sie mir glauben.« Pippa seufzte traurig. »Ich wohne ja eigentlich gar nicht hier. Ich bin nur auf Schreberwerder, weil ich einmal meine Ruhe wollte. Ich wohne eigentlich in der Transv…«
»Stopp!«, unterbrach Schmidt sie wieder. »Ich will gar nicht wissen, dass es in Berlin noch so eine Keimzelle des Wahnsinns gibt. Erzählen Sie mir einfach, was Sie wissen. Alles. Und schön der Reihe nach.«
»Aber das ist es ja«, sagte Pippa hilflos, »ich weiß rein gar nichts, außer, dass Lutz Erdmann ermordet wurde. Weder weiß ich, wie, noch von wem. Ich bin doch nur zufällig hier auf Schreberwerder! Ich komme mir vor wie in einem Alptraum und hoffe immer noch darauf, dass ich aufwache und alles vorbei ist.« Pippa machte eine Pause und sah ihn bittend an. »Und wenn noch eine Beruhigungsspritze übrig ist, hätte ich auch gerne eine.«
Schmidt verdrehte die Augen. »Wieder mal jemand, der von nichts weiß. Unschuldslämmer, alle miteinander. Wieso habe ich nur das Gefühl, dass ich hier von Lügnern umzingelt bin?« Er beugte sich über den Tisch zu Pippa. »Sie wollen wissen, was passiert ist, Frau Bolle? Das kann ich Ihnen sagen: Passiert ist, dass heute Mittag mein Urlaub beginnen sollte. Nach unserem Gespräch wollte ich mein Angelzeug schnappen und mit meinem Verein zum alljährlichen Ausflug nach Frankreich aufbrechen. In die himmlische Ruhe der Montagne Noir. Da gibt es viele nette Menschen und eine Verbrechensrate, die so niedrig ist wie meine derzeitige Toleranzschwelle. Es gibt glasklare Seen, viele Bäche und jede Menge Fische: Forellen und Karpfen so groß, wie kein Anglerlatein sie erfinden kann. Genau das, was ich mir als Ausgleich zu meiner Arbeit wünsche. Und was tue ich stattdessen? Ich fische im Trüben und ziehe einen toten Geschäftsmann aus einem Pool, der aussieht, als hätte man Blutwurst darin gekocht.« Er schnaubte wütend und zog ein Stofftaschentuch aus der Jackentasche, mit dem er sich den Schweiß von der Stirn wischte. Dann atmete er tief durch und fügte hinzu: »Erdmann wurde erstochen. Wollen Sie mir jetzt erzählen, was Sie wissen?«
Pippa würgte krampfhaft. »Bitte … bitte keine weiteren Details, Kommissar Schmidt. Ich hatte schon immer zu viel Phantasie. Ich kann mir das viel zu gut vorstellen … Lutz wurde erstochen? Im Pool? Das ist furchtbar …«
Schmidt nickte. Für einen Moment wirkte er, als hätte er Mitleid mit ihr. »Ja. Kein schöner Anblick. Ich wollte nicht so heftig werden, Frau Bolle, aber diese Insel zerrt an meinen Nerven. Drei Todesfälle in zwei Wochen, bei gerade mal zwanzig Bewohnern, das sprengt jede Statistik. Ganz zu schweigen von ungezählten Morddrohungen und diversen zweitrangigen Delikten – und das alles sozusagen unter Aufsicht der Kriminalpolizei. Und was noch schlimmer ist: unter meiner Aufsicht.«
»Achtzehn Bewohner«, verbesserte Pippa Schmidt vorsichtig, »ich wohne nicht hier und Nante auch nicht.«
Schmidt schleuderte ihr einen eiskalten Blick zu, und Pippa ahnte, dass die Schonzeit vorbei war und er sein Mitleid ihr gegenüber bereits bereute.
»Okay, Frau Ich-bin-nur-ganz-zufällig-hier. Kurios, wie viele Leute in unmittelbarer Nähe eines Mordes diesen Namen tragen.« Er lächelte kurz, aber es sah nicht freundlich aus. »Egal, ob als unbeteiligte Beobachterin oder als Hauptverdächtige – Sie erzählen mir jetzt ganz genau, was Sie während der letzten Tage gesehen, gehört und gerochen … und bisher vergessen hatten. Meine Kollegin hier passt ein bisschen auf, dass ich nicht meine Beherrschung verliere und sich die Anzahl der Toten noch weiter erhöht. Haben wir uns verstanden?«
Augen zu und durch, dachte Pippa ergeben. »Dann fange ich am besten mit meiner Ankunft hier auf Schreberwerder an …«, begann sie ihre Aussage. Sie gab ihnen einen groben Abriss der letzten zwei Wochen, ließ aber ihr Wissen um Doras Tod und Viktors Verbindung dazu unerwähnt.
Schmidt unterbrach sie nicht, sondern machte sich ebenso wie seine Kollegin viele Notizen.
»… und dann habe ich gestern Abend gehört, dass Lutz Angelika versprach, ihr heute die Architektin, Frau Julius, vorzustellen und mit ihr die geplanten baulichen Veränderungen ihrer Parzelle zu besprechen«, beendete Pippa ihren Monolog und legte eine Verlegenheitspause ein, »… allerdings hat er die erwähnte Dame dann bereits spät in der Nacht für … andere Zwecke auf die Insel geholt.«
»Kann ich das genauer haben?«, fragte Schmidt.
»Sie haben sich geküsst und wirkten sehr vertraut. Für mich sah es so aus, als ob Herr Erdmann und Frau Julius ein heimliches Verhältnis haben. Immerhin ist er mit Frau Christ verlobt.«
Schmidt sah sie aufmerksam an. »Wann genau war das?«
»Ungefähr halb drei heute Morgen.«
Der Kommissar runzelte die Stirn. »Was haben Sie so spät da draußen gemacht?«
Pippa bemühte sich, ein unschuldiges Gesicht zu machen. »Wenn ich nicht schlafen kann, zähle ich weder Schafe, noch greife ich zu einem Buch. Ich gehe spazieren.«
Pippa hatte sowohl Frau Kallwey als auch Kommissar Schmidt während ihrer Aussage genau im Auge behalten. Ihr war nicht entgangen, dass Schmidt und seine Kollegin sich unterschiedliche Notizen machten. Ihn interessieren an meiner Aussage andere Details als sie, dachte Pippa, ich muss unbedingt herausfinden, worin der Unterschied besteht, dann weiß ich, was für diesen Fall wirklich relevant ist … Erst jetzt bemerkte sie, dass Schmidt sie durchdringend ansah, und zuckte zusammen.
»Jemand zu Hause?«, fragte Schmidt ironisch. »Ich habe gerade zweimal gefragt, was Sie über Herrn Erdmanns geplantes Hanf-Resort wissen.«
Pippa zuckte mit den Achseln. »Das war schon längst Thema, als ich hier angekommen bin. Das Projekt scheint mir die Wurzel allen Übels, der Auslöser für die fürchterlichen Dinge, die passiert sind. Herr Erdmann ist bei der Durchsetzung seiner Interessen recht rabiat vorgegangen. Er hat überall Unfrieden gesät und auch nicht davor zurückgeschreckt, massiv Druck auszuüben. Mit seinen Methoden, die Insulaner zum Verkauf ihrer Parzellen zu drängen, hat Lutz alle gegen sich aufgebracht. Die meisten hätten es mit Sicherheit begrüßt, wenn er … äh … einfach verschwunden und nicht mehr aufgetaucht wäre.« Sie atmete tief durch. »Entweder man wollte ihn tot sehen … oder heiraten.«
Schmidt nickte nachdenklich. »Das deckt sich mit dem, was ich bis jetzt von den Insulanern gehört habe. Frau Christ war mit ihm verlobt, und alle anderen fanden ihn widerlich. Denken Sie, dass er einen der Insulaner mit seinen Überredungskünsten zu einer Kurzschlusshandlung getrieben hat? Gibt es jemanden auf Schreberwerder, dem Sie einen Mord zutrauen?«
Pippa schnappte unwillkürlich nach Luft.
»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, ereiferte sie sich empört, »ich soll meine Nachbarn anschwärzen? Die Menschen, die mich wie ein Familienmitglied in ihrer Mitte aufgenommen haben? Jemanden als möglichen Mörder denunzieren? Ich mag die Leute hier, Kommissar Schmidt, einige davon sind sehr gute Freunde. Sie können doch nicht erwarten, dass ich …«
Kommissar Schmidt unterbrach Pippa mit eiskalter Stimme. »Doch, genau das erwarte ich, Frau Bolle – denn ich bin sicher: Einer Ihrer Nachbarn ist der Mörder.«