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Spät am Abend untersuchte Doktor Seppo Sorjonen Ragnars linkes Bein. Es steckte in neuem Gips, der diesmal eine wirkliche Fraktur fixierte. Sorjonen stellte fest, dass die Lissabonner Klinik gute Arbeit geleistet hatte. Die Bruchstelle war richtig zusammengefügt.
»Welch Glück, dass du schon Krücken hast«, sagte der Doktor erfreut.
Hermanni Heiskari wiederum litt an einem schlimmen Durchfall. Ursache war der Hummer, den sie im Pavillon neben dem Zirkus gegessen hatten, jedenfalls vermuteten sie das, da auch Ragnar Bauchgrimmen hatte. Hermanni hatte zwei Mal so viel gegessen, sodass er Fieber bekam und sich immer wieder übergeben musste. Doktor Sorjonen meinte, dass es sich um eine besonders schwere Lebensmittelvergiftung handelte, die aber mit der Zeit vorbeigehen würde. Er stellte zufrieden fest, dass nun beide Vagabunden an den passenden Krankheiten litten und für Frau Lundmarks Gesundheitsinspektion, die sich bedrohlich näherte, gewappnet waren.
»Im Allgemeinen heißt es, dass das Schicksal unberechenbar ist, aber jetzt scheint alles haargenau nach Plan zu laufen«, philosophierte er.
Zwei Tage später begaben sie sich frühmorgens zum Lissabonner Flughafen, um Lena abzuholen. Sorjonen hatte einen Geländewagen gemietet. Er chauffierte, denn Hermanni besaß keinen Führerschein, und Ragnar konnte wegen seines gebrochenen Beins nicht ans Steuer. Lena Lundmark kam in die Ankunftshalle geschwebt, ausgeruht und gut geschminkt. Es blieb noch ein bisschen Zeit zum Plaudern, ehe Sorjonens Maschine startete. Der Doktor gab Lena Anweisungen zur Betreuung der Patienten. Ragnars Bein, das er sich auf Tahiti gebrochen hatte, heilte gut, aber es sollte trotzdem nicht zu sehr belastet werden. Ruhe und Schmerzmittel. Hermannis »Malaria« wäre bald ausgestanden, wenn er drei Mal täglich Tabletten zur Beruhigung des Magens einnähme.
Ragnar hatte eine zweiwöchige Rundtour durch die portugiesische Provinz geplant. Es war ein weiter Kreis, der sich von der spanischen Grenze bis in den Westen und zu den mittelalterlichen Festungshügeln nahe des Atlantik erstreckte. Unterwegs würden sie in sechs herrlichen Pousadas logieren. In der Mitte des Kreises lag die Hauptstadt Lissabon. Insgesamt würden sie auf der Reise tausend Kilometer zurücklegen.
Ragnar erzählte seiner Nichte, dass die Pousadas ähnliche Staatshotels waren wie die Paradors in Spanien oder die alten staatlichen Touristenhotels in Finnland, mit dem Unterschied, dass hier auch der gewöhnliche Tourist in Königsschlössern oder historischen Klostern wohnen durfte, vorausgesetzt, er besaß das nötige Geld. Zum Beispiel vom Schloss Obidos im Nordosten Lissabons hieß es in den Reiseführern, dass es das Beste war, was Portugal auf dem Gebiet der Übernachtungen zu bieten hatte.
Doktor Sorjonen wurde verabschiedet, und dann setzte sich Lena Lundmark ans Steuer. Hermanni saß daneben, um die Landkarte zu lesen, und Ragnar ruhte mit seinem Gipsbein quer auf der Rückbank. Er war mürrisch und klagte ab und zu über Schmerzen im Knochen. Das erste Etappenziel war die zweihundert Kilometer entfernte historische Stadt Evora. Die Fahrt durch weite landwirtschaftliche Anbaugebiete dauerte drei Stunden. Die Landschaft war großartig und die Straßen waren gut, mit Ausnahme der letzten Strecke. In diesen Ebenen des Alentejo wurden Weizen und Oliven angebaut, aber je weiter es nach Norden ging, desto größer wurden die Korkeichenwälder. Von Zeit zu Zeit schwankten den Reisenden schwindelerregend hohe Korkfuhren entgegen, die Fahrer der Lkws fuhren langsam und mitten auf der Straße, damit die wankenden Lasten nicht umkippten. Es war Schälsaison, das Pfropfenmaterial für Millionen von Weinflaschen ging in die Welt hinaus. Hermanni Heiskari wünschte sich, dass er seinen Anteil davon bekäme. Sein Magen hatte sich anscheinend schon beruhigt, vielleicht könnte er auf dieser Tour sogar wieder zum Vinho Verde greifen.
Unterwegs erzählte Lena von ihren Geschäften. Sie war eigentlich erleichtert, dass sie sich entschlossen hatte, ihre Reederei zu verkaufen. Erst jetzt merkte sie, wie todmüde sie war. Die jahrelangen Anstrengungen für die Vermehrung des Vermögens und in letzter Zeit der Kampf um den Erhalt des Besitzes hatten an den Kräften gezehrt. Alles war ihr nur noch gleichgültig gewesen. Wie sie sagte, hatte sie Verständnis dafür, dass manche Unternehmer sich nach einem Konkurs das Leben nahmen, da sie den Schmerz, ihr Vermögen zu verlieren, nicht ertrugen.
Lena bekannte Hermanni gegenüber, dass sie nicht mehr reich war. War der fliegende Holzfäller immer noch an der Ehe mit der Frau, die er gerettet hatte, interessiert? Eine direkte Frage. Hermanni erklärte, dass ihm Geld nicht allzu viel bedeutete, da ihm nie viel von diesem Gut der Welt zuteilgeworden war, obwohl er stets an der Beschaffung gearbeitet hatte.
Ragnar schlief auf der Rückbank, das Gipsbein gegen die Rückenlehne des Vordersitzes gestützt. Zur Unterhaltung trug er nicht gerade bei. Lena fragte verwundert, wie schwer sich ihr Onkel das Bein auf Tahiti eigentlich verletzt hatte, da es ihm immer noch so große Schmerzen zu bereiten schien. Darauf sagte Hermanni, dass Ragnar ein sensibler Mensch sei, der an den Widrigkeiten des Lebens schwer trage.
Lena erklärte ihm, dass sie beide sich nach ihrer Hochzeit einschränken müssten. Sie müssten das Herrenhaus in Maarianhamina aufgeben und sich ein kleineres suchen. Schlimm erschien ihr der Gedanke, dass für Ragnars Butlergehalt keine jährlichen Aufstockungen möglich wären, sie wäre schon zufrieden, wenn sie ihm den Inflationsausgleich zahlen könnte. Ihren Worten zufolge war sie inzwischen so bettelarm, dass sie außer dem Butler nur noch ein einziges Dienstmädchen einstellen konnte. Selbst der Gärtner konnte nur noch halbtags bezahlt werden.
»Armut macht niemandem Spaß«, bestätigte Hermanni.
Gegen Abend quartierten sie sich in Evora in der Pousada Dos Loios ein, die sich in einem uralten Kloster befand. Die Zimmer waren eng, handelte es sich doch um ehemalige Mönchszellen, mit dem Unterschied, dass sich wohl kein enthaltsamer Mönch je von einer Klimaanlage, einem Föhn und all den anderen Annehmlichkeiten eines Fünfsternehotels hätte träumen lassen. Die Pousada war so schön und berühmt, dass ständig Touristen kamen, um sie zu bewundern. Das Personal machte die Leute jedoch nachdrücklich darauf aufmerksam, dass nur zahlende Gäste die historische Atmosphäre frei genießen durften.
Das Dos Loios hatte eine ausgezeichnete Küche. Das Trio genoss nach der Ankunft einen gebackenen Lammbraten nach Alentejo-Art und am nächsten Tag zum Lunch gebackene Seezunge in Kräutersoße.
Ragnar, der Invalide, lag in seiner Mönchszelle herum, aber Lena und Hermanni spazierten Arm in Arm durch die schmalen Gassen von Evora. Die Stadt war tausend Jahre alt und auf einem Hügel erbaut. Die Mauren hatten sie seinerzeit als ihre Hauptstadt gegründet, und auf dem Klosterhof gab es sogar einen römischen Tempel. Lena seufzte entzückt und sagte, dass man an solch einem historischen Ort viele Wochen zubringen könnte, um sich all das anzusehen, was die Römer, die Mauren und Manuel geschaffen hatten.
Sie erzählte Hermanni, dass sie sich ein Kind wünschte.
Was meinte er dazu? Da sie nun ihre Reederei los war, hatte sie Zeit für die Mutterschaft. Hermanni wurde knallrot. Er räusperte sich und sagte:
»Tja … zum Beispiel.«