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In Kolari nahmen sich die beiden Männer ein Taxi, kauften tüchtig ein und fuhren dann die dreißig Kilometer nach Venejärvi. Das Dorf lag am Ufer eines schönen Sees, an einem prachtvollen Hang, umgeben von der Weite der Ödmark. Wenn der Taxifahrer nicht dabei gewesen wäre, hätten sie kaum den Weg gefunden, der zu den Unterständen der Waldgardisten führte, denn die Dörfler hüllten sich darüber in Schweigen. Dem Taxifahrer, den sie kannten, verrieten sie, wie man zum »Leidensquartier«, wie die Unterstände genannt wurden, gelangte. Zwei Kilometer Landstraße waren zurückzulegen.

Ragnar hatte so reichlich Proviant eingekauft, dass sie den Taxifahrer als Träger gewinnen mussten. Er zog sich Gummistiefel an, schwang sich den Rucksack auf den Rücken, und gemeinsam stapften sie in den Wald. Am Straßenrand blieb der verschlossene Mercedes zurück, an seinem Armaturenbrett lief das Taxameter weiter und bescherte dem Fahrer einen tüchtigen Verdienst.

Nach mehreren Hundert Metern sahen sie vor sich ein Schild, eine große, rote, runde Blechplatte, die an einen vertrockneten Baum genagelt war und in schwarzen Lettern die Inschrift LEIDENSQUARTIER trug, ein dicker schwarzer Pfeil darunter zeigte die Richtung an. In einem nahen Sandhügel entdeckten sie eine zwei Meter lange und einen Meter breite versandete Grube. An einem Ende war eine mit Plexiglas geschützte Bildplatte angebracht, auf der zwei traurig aussehende Ödmarktannen zu sehen waren, zwischen ihnen stand ein kurzer Text, demzufolge einer der Waldgardisten »v. 1941-45, mehr als vier Jahre, eingesalzen in diesem Grab gelegen hatte«. Ob er an einer Krankheit oder an einem Unfall gestorben war, verriet die Inschrift nicht.

Der Pfad zu den Unterständen verlief über flache Landrücken. Zwischendurch ging man durch Kahlschlaggebiete, in denen sich der Pfad fast verlor, bis die Wanderer schließlich ans Ziel gelangten. Das Versteck war in einen flachen Sandhügel inmitten eines dichten Wäldchens gegraben worden, das an ein weites Reisermoor grenzte. Zwei, drei Unterstände waren erhalten, sie waren über flache Schützengräben verbunden. Vermutlich hatte es dort Schießscharten in die verschiedenen Richtungen gegeben. Als Feuerstelle hatte der blanke Erdboden gedient, und für den Rauchabzug gab es ein mit Steinen ausgekleidetes Loch in der Decke. In den Hang waren Vertiefungen gegraben und mit Balken abgestützt worden, darin hatten die Waldgardisten jahrelang wie die Füchse in ihren Höhlen gelegen. Die Unterstände waren so niedrig, dass man in ihnen fast kriechen musste. Bestenfalls einige wenige Männer hatten darin Platz gehabt, insgesamt waren es vermutlich nur zehn, höchstens zwanzig Deserteure gewesen, die hier draußen gehaust hatten. Das Quartier war in seiner kargen Dürftigkeit wirklich erschütternd.

Schweigend kehrten die Besucher nach draußen an die frische Luft zurück und setzten sich auf den versandeten Rand des Schützengrabens. Hermanni zündete sich eine Zigarette an und sog den Rauch tief in die Lungen. Dann sah er Ragnar bedeutsam an. Der bat den Taxifahrer, weiter draußen nach einer Stelle zu suchen, an der sie ein Lagerfeuer entzünden und einen Lunch einnehmen könnten. Der Mann machte sich mitsamt des Gepäcks auf den Weg, um auf dem Kahlschlag Reisig zu sammeln.

Hermanni und Ragnar unterhielten sich über die harten Bedingungen eines Ödmarkkrieges. Der Kampf der Arbeitslosen würde unvermeidlich dazu führen, dass sich die Aufständischen in den Wäldern verstecken müssten. Deshalb war es gut, dass sie hergekommen waren und sich den Ort angesehen hatten, an dem jahrelang Männer gehaust hatten, die gänzlich auf milde Gaben der Dorfbewohner und auf Wildbret aus dem Wald angewiesen gewesen waren. Sie selbst wollten es im Hinblick auf den geplanten Aufstand besser machen und ein Handbuch herausgeben, das Instruktionen für das Einrichten von Schutzräumen und befestigten Basen in den Wäldern und Sümpfen enthielt.

Es empfahl sich, den Volksaufstand im Januar zu beginnen. Zunächst würde man sich warmlaufen mit Demonstrationen, passivem Widerstand und Sabotage der verschiedensten Gesellschaftsfunktionen. Wenn dann der Aufstand im Frühjahr voll entbrannt wäre, würde der Staat versuchen, ihn mithilfe der Armee niederzuschlagen, und die Guerillakämpfer müssten in die Wälder flüchten, um sich dem Zugriff durch das Militär zu entziehen. Sofort nach der Schneeschmelze wären die besten Bedingungen gegeben, zur Waldtaktik überzugehen, die Kämpfer würden sich in den Schutz der Wälder zurückziehen, so wie einst während des großen Unfriedens die Flüchtlinge in ihre Verstecke, wie die Bauernfreischärler in den Ödwald oder wie im letzten Krieg die elenden Waldgardisten in unbewohnte Moorgebiete.

Um dafür gewappnet zu sein, war es günstig, bereits ein Jahr vorher die entsprechenden Flucht- und Stützpunkte auszuwählen und mit genügend Waffen, Werkzeug und vor allem Proviant zu bestücken. Bis zum Sommer sollte man damit fertig sein, nur so war man auf das Kommende besser vorbereitet, als es jene Deserteure von Venejärvi gewesen waren.

Hermanni und Ragnar schätzten, dass ihre Aufständischen weit mehr Sympathien in der übrigen Bevölkerung genießen würden als die Waldgardisten im letzten Krieg. Die Zivilbevölkerung würde sie freiwillig verpflegen und schützen, ähnlich wie sie es Anfang des Jahrhunderts mit den Jägern gemacht hatte, die sich auf geheimem Wege nach Deutschland durchgeschlagen hatten. Arbeitslose ließen sich kaum als Feinde des Volkes betrachten, und ihr Aufstand würde wahrscheinlich auf breites Verständnis stoßen.

Wie dem auch sei, Bürgerkriege waren von allen Kriegen die grausamsten. Beim geplanten Aufstand der Arbeitslosen handelte es sich um einen neuartigen Klassenkrieg, in dem die bisherigen politischen Ideologien ausgedient hätten. Die Zweiteilung des Volkes in Reiche und Gutsituierte einerseits und Arme und Benachteiligte andererseits war heute das Hauptproblem, das nach einer handfesten Lösung verlangte. Falls die Massenarbeitslosigkeit immer weiter anhalten würde, hätte das eine verheerende Wirkung auf die Lebenskraft und die Moral des Volkes. Hermanni erklärte, dass laut seinen Berechnungen allein wegen der Arbeitslosigkeit jährlich Tausende Menschen in Finnland starben. Der Klassenkrieg wurde schon jetzt geführt, jeden Tag, auch wenn kein Mensch von Verlusten oder Frontlinien sprach.

Ragnar Lundmark holte den Laptop aus dem Rucksack, öffnete ihn und stellte ihn auf den Rand des Schützengrabens. Er wählte das Tabellenkalkulationsprogramm und tippte Hermannis Gedanken und Äußerungen ein.

»In Finnland begehen jährlich tausendfünfhundert Menschen Selbstmord. Das sind siebenhundert arme Teufel mehr als zu normalen Zeiten, und gerade sie tun es wegen der Arbeitslosigkeit«, rechnete Hermanni vor, und Ragnar tippte »700 pro Jahr« ein.

»Am Schnaps starben früher zweihundert Finnen, heute aber laut Prognosen schon fast fünfhundert, und die meisten von ihnen sind Arbeitslose«, fuhr Hermanni fort, wobei er sich auf Angaben aus der Presse berief. Indirekt starben jährlich noch viel mehr Leute an den Folgen des Suffs, beispielsweise an Leberzirrhose, Herzerkrankungen, Schlägereien, Unfällen und dergleichen.

Psychiatriepatienten, die in ambulante Behandlung abgeschoben worden waren, Menschen, die aufgrund ihres Elends kriminell geworden waren und im Gefängnis und anschließend auf dem Friedhof landeten …, zum Beispiel gab es früher in Finnland jährlich hundert Fälle von Mord oder Totschlag, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit waren es hundertsiebzig Fälle! Und all die ausgebrannten Alleinerziehenden oder jene bedauernswerten Menschen, die unter der Last ihrer Arbeit den Verstand verloren hatten …, insgesamt eine geschätzte Zahl von fünftausend, die zu den oben genannten Verlusten hinzugerechnet werden mussten.

Berücksichtigt werden musste auch die Verringerung des Durchschnittsalters aufgrund von Krankheiten, von nicht ausreichender oder mangelhafter Ernährung oder direktem Hunger. Der zahlenmäßige Bevölkerungsschwund belief sich nach Ragnars und Hermannis vorsichtiger Schätzung auf jährlich zehntausend Personen.

Schließlich addierten sie auch noch die im Frust der Arbeitslosigkeit verbrachten Jahre und rechneten sie in Sterblichkeitszahlen um, dahingehend nämlich, dass sie mindestens siebzig Prozent jener Zeit als nicht gelebt betrachteten. Wenn sie das verbleibende durchschnittliche Alter auf fünfzehn veranschlagten, erhielten sie eine jährliche Sterblichkeitsziffer von vierzehntausend. So kam in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit rein rechnerisch ein jährlicher Bevölkerungsschwund von knapp dreißigtausend zustande.

Das war natürlich beileibe noch nicht alles, was sich an negativen Auswirkungen der Arbeitslosigkeit nennen ließ, aber auf jeden Fall hatten sie so ein einigermaßen verlässliches Endergebnis erhalten. Sie konnten konstatieren, dass die Arbeitslosigkeit in verschiedenster Form jährlich zum Tod von dreißigtausend Menschen führte. Angesichts dessen, dass im ganzen Zweiten Weltkrieg hunderttausend Finnen gefallen waren, lautete das Fazit, dass der Winter- und auch der Fortsetzungskrieg ein Kinderspiel gewesen waren, verglichen mit dem heutigen Maß an Vernichtung durch die Arbeitslosigkeit. Und da sollten die Arbeitslosen keinen Grund haben, sich zu erheben? Wer das behauptete, missachtete aufs Grausamste all jene Bürger, die ins Abseits gedrängt worden waren. Ein Guerillakrieg, und selbst ein blutiger, hatte mit all seinen zu erwartenden Verlusten weit mehr Berechtigung als das Fortbestehen der jetzigen schrecklichen Situation.

Der Taxifahrer rief vom Rande des Kahlschlaggebietes herüber, dass das Lagerfeuer brannte und auch der Kaffee bald kochte. Ragnar schloss den Laptop, und die beiden Männer verließen tief in Gedanken das Leidensquartier. Die Erkenntnis, dass jährlich dreißigtausend Finnen geopfert wurden, hatte sie sehr erschüttert. Ihre Stimmung hellte sich erst auf, als sie sich über den von Ragnar eingekauften Proviant hermachten.

Sie breiteten ein Tuch über einen Kiefernstubben und packten aus: geräucherter Lachs, gesalzene kleine und große Maränen, kalte Fleischbällchen vom Ren, warmgeräuchertes Rentierfleisch und gegrillter Schinken, Gänseleberpastete, Elchpa, eingelegte Zwiebeln, Rote Bete in Essig, gekochte Eier, Zwiebel-Pilz-Salat, Roggenbrot, Knäcke und Baguette, Butter, Schmelzkäse, Rahmkäse und Brie sowie Apfelscheiben, Weintrauben und Pfirsiche. Außer Kaffee und Mineralwasser gab es auch ein paar Flaschen Chablis, die Ragnar vorsorglich am Abreisetag in Helsinki gekauft hatte.

Es blieb eine einfache Mahlzeit, denn sie hatten ja keine Soßen und keine warmen Speisen, aber Ragnar wies auf die außergewöhnlichen Bedingungen hin, unter denen man nun mal kein komplettes Büfett organisieren konnte.

Mit Fortschreiten des Picknicks lockerte sich die Stimmung, und so hielt Hermanni den Zeitpunkt für gekommen, wieder mal eine Geschichte vom Schmucken Jussi zu erzählen. Jussi hatte sich in der Endphase des Krieges am Frontabschnitt von Kiestinki verdrückt und in die Tannenzapfengarde irgendwo hinter Salla und Savukoski geflüchtet. Er hatte den Begriff von der Tannenzapfengarde wörtlich genommen. Im letzten Kriegsjahr hatte er zwölftausend Kilo Kiefernzapfen, zweiundzwanzigtausend Kilo Tannenzapfen und sogar tausend Kilo Birkenzapfen gesammelt, wobei gut zweihundert Kilo der Letzteren von Krüppelbirken stammten. Dann, als der Krieg zu Ende war und sich die Waldgardisten wieder unter Menschen wagten, tauchte der Schmucke Jussi im nächsten Dorf auf und erkundigte sich, wer ihm zwei, drei Pferde und einen Schlitten leihen könnte. So holte er denn seine Beute aus dem Wald und verfrachtete sie mit dem Zug zur Sammelstelle der Forstverwaltung in Keuruu, von wo ihm alsbald eine hübsche Summe Geld überwiesen wurde.