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Sie setzten Akseli Rotivaara in Vuotso ab, damit er Bier tanken konnte. Der Alte schwor, Hermannis Geheimnis für sich zu behalten, wünschte aber unbedingt als Reservist in die zu gründende Partisanenarmee eingezogen zu werden, immerhin verstand er zu kämpfen und troff außerdem vor Wut auf die hohen Herren. Hermanni knurrte nur, der alte Feldwebel möge seine Kriegsträume begraben und strikt die Klappe halten. Akseli erklärte, dass er immerhin noch zum Dienst in der Kleiderausgabe taugen würde, falls Not am Mann sein würde.
Ragnar gab anschließend zu bedenken, dass der Alte im Suff Hermannis Aufstandsprojekt verraten könnte, aber Hermanni machte sich darum keine Sorgen. Hier im Norden plante jeder Kerl die Revolte, wenn er ein paar Bier intus hatte. Auf dieses Gerede achtete sowieso keiner.
Hermanni und Ragnar fuhren im Taxi weiter nach Ivalo. Sie suchten ein Papiergeschäft auf, wo Hermanni drei Briefe schrieb.
»Zwei an die Söhne und einen an die Tochter«, erwähnte er Ragnar gegenüber.
Hermanni hatte also drei Kinder. Die fliegenden Gesellen hier oben im Norden schienen sehr potent zu sein, sagte sich Ragnar in Erinnerung an all die übertriebenen Geschichten von der Kinderschar des Schmucken Jussi.
Hermanni erzählte, dass er als junger Mann einige Jahre lang verheiratet gewesen war. Der Ehe entstammten eine Tochter und ein Sohn, und dann war noch ein Sohn außerehelich geboren worden. Alle waren bereits volljährig, hatten selbst Familie und kamen einigermaßen gut zurecht. Die Tochter hatte nach Schweden geheiratet. Hermanni schrieb an alle drei Kinder gleichlautende Briefe mit der traurigen Nachricht, dass seine Hütte abgebrannt, wahrscheinlich absichtlich in Brand gesteckt worden war. Dann teilte er ihnen mit, dass es ihm sonst prima gehe, dass er auf Tour sei und es ihm an Geld nicht mangele. Man hatte ihm freien Unterhalt für ein ganzes Jahr versprochen, dazu kostenlose Reisen samt Unterbringung in den besten Hotels, und zu alledem hatte er sogar einen persönlichen Butler zur Seite, einen gewissen Oberst Lundmark. Alles stand zum Besten. »Der arme Mann geht unter, der fliegende Geselle weiß zu leben.«
»Falls es etwas Wichtiges gibt, schreib mir postlagernd nach Ivalo, das wünscht Papa Hermanni.« Ragnar glaubte einen feuchten Schimmer in Hermannis Augen zu sehen, als dieser die Umschläge beleckte und zuklebte. Dann gingen sie gemeinsam zur Post, wo Ragnar endlich seinen Bericht an Lena Lundmark als Eil- und Einschreibesendung aufgab, während Hermanni seine Briefe an die Kinder abschickte.
»So sieht es aus, das Leben eines fliegenden Holzfällers …, die Kinder sind in der Welt, und die Hütte ist zu Asche verbrannt«, sagte Hermanni Heiskari mit leisem Lachen, als sie ins Taxi stiegen und die letzten vier Meilen zum Touristenhotel Inari fuhren. Dort wollten sie übernachten und, wie gewohnt, das Beste essen, was das Haus zu bieten hatte. Diesmal war es gebratene rotfleischige Forelle in Kognak-Sahne-Soße.
Nach dem Lunch fiel Hermanni Heiskari müde aufs Bett, während Ragnar Lundmark sich noch ein wenig im Ort Inari umsehen wollte. Er kam auf die Idee, das Sámi-Museum zu besichtigen, das, ähnlich wie das Freilichtmuseum Seurasaari, ein eingezäuntes Gelände war und außerhalb des Ortes lag, einen Fußmarsch vom Zentrum entfernt. Dort hatte man ein komplettes samisches Dorf mit sämtlichen entsprechenden Gebäuden und Gerätschaften errichtet.
Das interessanteste Objekt auf dem Gelände war ein kleines Blockhaus, das seinerzeit als Gerichtsstube für Inari und Umgebung gedient hatte. In der undichten Hütte war über Sámis und Skolts Recht gesprochen worden. Der Richter hatte am Tisch gesessen, und der Polizist hatte mal diesen und mal jenen Rentierdieb oder Schläger zur Urteilsverkündung vorgeführt. Delinquenten mit geringfügigen Vergehen waren sofort in den Stock gelegt worden, einen sogenannten Fußblock, befestigt mit großen Krampen, die in die Wandbalken geschlagen worden waren. Dort mussten dann die Sünder sitzen und vor aller Augen für ihre Vergehen büßen.
Ein paar boshafte Lappenmädchen, etwa sechzehn Jahre alt, tauchten in der Hütte auf. Als sie sahen, wie Ragnar Lundmark den Fußblock inspizierte, stach sie der Hafer. Sie fingen an, ihm die Geschichte des Gebäudes und vor allem jenes Strafinstruments zu erklären, und sie baten ihn, sich zur Probe in den Fußblock zu setzen, was er auch brav tat. Daraufhin ließen sie die Schlösser zuschnappen und rannten kichernd hinaus. Einen Augenblick später kamen sie zurück, steckten Ragnar einen Dauerlutscher in den Mund und entfernten sich, wobei sie die Tür mit Nachdruck hinter sich zuschlugen.
Schon die samischen Banditen vor hundert Jahren hatten nicht gern im Stock gelegen, und auch Ragnar machte es keinen großen Spaß. Er versuchte sich zu befreien, aber die alten, aus Balken gefertigten Fallen waren stabil und gaben nicht nach. Ragnar war gezwungen, still zu sitzen und darauf zu hoffen, dass ein Museumsbesucher käme und ihn aus der Misere befreien würde.
Eine Stunde verging, und noch eine zweite. Gerade an diesem Tag stand das samische Museum nicht in der Gunst der Touristen. Ragnar Lundmark rief um Hilfe. Wäre das Joiken nicht schon vor Urzeiten erfunden worden, hätte es auf jeden Fall jetzt seine Geburtsstunde erlebt. Ragnar johlte aus vollem Hals, aber vergebens. Weder die Hilferufe noch das aufgeregte Joiken erreichten irgendeines Menschen Ohr. Das Mädchen an der Kasse im Eingangstor wunderte sich zwar ein wenig, was da aus der alten Blockhütte für Töne kamen, vergaß dann aber das Ganze, da sie die neueste Nummer ihres Lieblingsmagazins vor sich liegen hatte.
Ernstere Auswirkungen der unverdienten Strafsitzung zeigten sich gegen Abend, als Ragnar das Bedürfnis verspürte, die Toilette aufzusuchen. Wie aber gelangt ein in den Stock gelegter Mann dorthin? Gar nicht. Ihm kam bereits der schreckliche Gedanke, dass er sich in seiner Not in die Hosen machen müsste. Es war fast sechzig Jahre her, seit ihm das zuletzt passiert war. Damals hatte ihm die Mutter ohne Murren eine neue Hose gegeben und ihm sogar noch einen Kuss auf die Wange gedrückt, gleichsam als Lohn für die gute Leistung. Jetzt aber war von der Mutter weit und breit keine Spur, denn sie war bereits vor zwanzig Jahren gestorben, wie übrigens auch der Vater. Und der verflixte Hermanni hatte nicht ins Museum mitgehen mögen, hatte angeblich genug von den Sámis.
Hermanni Heiskari erwachte im Hotel aus seinem Mittagsschlaf und sah auf die Uhr. Wo in aller Welt steckte der Oberst? Er beschloss, in den Ort zu gehen und nach Ragnar Ausschau zu halten. Schließlich hatte er ein Anliegen. Die Pläne für den Aufstand warteten auf das Urteil eines Fachmannes.
Hermanni lief überall herum, sah in Geschäften und Restaurants nach, fragte die Leute, aber kein Ragnar Lundmark weit und breit. Schließlich stiefelte er ins samische Museum und erkundigte sich, ob ein Mann von Ragnars Aussehen dort aufgetaucht war. Das Mädchen am Eingang versuchte sich zu erinnern und meinte schließlich, dass der besagte Herr möglicherweise das Gelände betreten hatte, vor ein paar Stunden war das gewesen. Hermanni beschloss, in sämtlichen Gebäuden nachzusehen, und so fand er schließlich seinen Reisegefährten im Fußblock der Gerichtsbaracke. Ragnar war ganz rot im Gesicht von der Anstrengung, sein dringendes Bedürfnis zu unterdrücken. Als er endlich aus den Fesseln befreit war, rannte er wie ein wild gewordener Elch nach draußen und erleichterte sich hinter dem Gebäude.
Nach einer Weile hörte man von dort eine leise Stimme:
»Könnte ich Papier haben, Herr Heiskari?«
Sie kehrten ins Hotel zurück, wo Ragnar Lundmark sich daranmachte, Hermannis Kriegspläne zu studieren, die aus einigen Hundert maschinengeschriebenen Seiten und fünfzig kopierten Karten bestanden. Es gab eine allgemeine Darstellung und eine strategische Übersicht sowie eine operative und zusätzlich noch eine detaillierte Beschreibung der Taktik für den Volksaufstand.
Ragnar Lundmark sagte sich, dass er, wenn er tatsächlich Oberst wäre, möglicherweise einige Details korrigieren würde, aber für einen gewöhnlichen Leutnant gingen die Pläne vollkommen in Ordnung. Zum Beispiel war die Besetzung Rovaniemis in einer Art und Weise geplant und beschrieben, die durchaus Erfolg versprechend schien. Hermanni Heiskari war es gelungen, sich die militärische Eroberung der Stadt sehr detailliert vorzustellen, obwohl er die Welt vom Ufer des künstlichen Sees von Porttipahta aus betrachtet hatte.
Noch nie in seinem Leben hatte Ragnar Lundmark ein so unheimliches Kriegsbuch gelesen. In Hermannis Plänen war sorgfältig jede auch nur einigermaßen wichtige finnische Ortschaft, in der man das Aufflammen von Kämpfen erwarten durfte, aufgelistet. Nicht einmal Maarianhamina war ausgespart. Die Depots, die Flugplätze, die Radiosender, die Brücken, die Fernverkehrsstraßen … alles war bedacht. Je weiter Ragnar in der Lektüre vorankam, desto stärker beeindruckte ihn der Text. Er erkannte, dass er hier ein grausames Epos in den Händen hielt, die Partitur des kommenden Krieges, einen spannenden, mitreißenden Lesestoff, der unter Umständen Finnlands Untergang bedeutete. Der Text übte irgendwie eine magische Wirkung aus, und noch bevor Ragnar bis zum Schluss vorgedrungen war, hatte er schon unbewusst für den Aufstand Partei ergriffen. So wirkt nun einmal Propaganda auf die Menschen. Und Fakten wiederum waren die verlässlichste Propaganda.
Eine unheimliche Vision, das musste Ragnar Lundmark zugeben.
Ragnar hatte die ganze Nacht hindurch in dem Text gelesen. Jetzt wurde es bereits Morgen, nach langer Zeit das erste Mal ohne Regen. Ragnar fand, dass das Urlaubsprogramm hier im Norden bisweilen recht speziell war. Erst wurde man den halben Tag im Fußblock gefangen gehalten und anschließend nachts seines Schlafes beraubt und gezwungen, Pläne für den Aufstand zu studieren.